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Nachtwache

Geschichte Info
Aussprache ohne Worte.
9.2k Wörter
4.21
98.9k
9
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Vorbemerkung: Diese Geschichte ist ein bisschen anders als die meisten in dieser Kategorie. Sie ist verhältnismäßig lang und nicht dafür geeignet, sich schnell Erleichterung zu verschaffen. Wer aber Zeit und Lust hat, eine etwas ausführlichere Story zu lesen und ein bisschen mehr über die Charaktere zu erfahren als nur Geschlecht, Alter und sexuelle Vorlieben, der ist herzlich eingeladen, „Nachtwache" zu lesen und eine konstruktive Kritik zu hinterlassen ;-)

*

Ein Reihenhaus aus rotem Backstein, mit einem kleinen, gepflegten Vorgarten. Ziemlich unspektakulär, wobei ich nicht wusste, was ich anderes erwartet hatte.

„Komm, Paulo."

Mein Hund sprang schwanzwedelnd aus dem Auto und begann sofort, hochinteressiert den Gartenzaun zu beschnüffeln. Ich stieß das Tor auf (nicht das leiseste Quietschen), rief Paulo zu mir und ging mit schleppenden Schritten über den blitzsauberen Weg zur Haustür. Kein bisschen Unkraut wuchs zwischen den Steinfliesen. Hier war jemand darauf bedacht, alles top in Schuss zu halten.

Familie Harms stand auf einem schlichten Messingschild über dem Klingelknopf. Ich tat einen tiefen Atemzug und hob schon den Finger, zögerte dann aber.

„Sitz", sagte ich zu Paulo, aber der hatte mal wieder anderes im Sinn und untersuchte den Fußabtreter. Erst beim dritten Mal und einem leichten Klaps aufs Kreuz gehorchte er und nahm mustergültig neben mir Platz, die Brust herausgestreckt und die Ohren aufgestellt. Wenigstens einer von uns beiden sollte einen guten Eindruck machen.

„Dann mal los", machte ich mir selbst Mut und klingelte, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Der schrille Ton drang gedämpft durch die Holztür an meine Ohren. Vielleicht eine halbe Minute, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, hörte ich nichts außer meinem Atem und meinem harten Herzschlag. Paulo gähnte und sah mich fragend an.

Dann erklangen Schritte und die Tür ging auf.

Vor mir stand eine Frau Mitte dreißig, mit aschblonden, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren und graublauen Augen in einem netten Gesicht. Sie war ein Stückchen kleiner als ich, weder dick noch dünn, mit einer durchaus fraulichen Figur, die durch ihre Kleidung nicht besonders betont wurde. Der graue, etwas ausgeleierte Pullover und die Jeans unterstrichen das Gesamterscheinungsbild einer freundlichen Hausfrau und Mutter.

Einen Augenblick schaute sie mich nur fragend an, aber dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht.

„Anneke", sagte sie erfreut und ich versuchte, zurückzulächeln.

„Genau", antwortete ich.

„Ich bin Tanja, hallo. Herzlich Willkommen!" Sie streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie. Ihr Griff war warm und fest und ich entspannte mich ein wenig. Die gefürchtete Begegnung blieb mir noch für eine kurze Zeit erspart.

„Ja, und wer bist du?", wandte sie sich an meinen Hund, der bei ihrem Erscheinen aufgesprungen war und nur von meinem Klammergriff am Halsband daran gehindert wurde, Tanja zu beschnuppern und liebevoll abzuschlecken.

„Das ist Paulo", stellte ich ihn vor und sah mit Erleichterung, dass Tanja meinem Hund genau so herzlich den großen Kopf kraulte, wie sie mir die Hand geschüttelt hatte.

„Ich hoffe, es ist kein Problem, dass ich ihn mitgebracht habe? Es gibt zu Hause niemanden, der auf ihn aufpassen könnte."

„Ach was! So ein lieber Kerl, gegen den kann nicht mal Wolf etwas haben. Und falls doch, lass es nur meine Sorge sein", lachte sie. „Aber jetzt kommt erstmal rein, ihr zwei. Ist ja furchtbar ungemütlich draußen!"

Erleichtert, dass zumindest der Beginn des Wochenendes deutlich besser war als gedacht, trat ich aus dem schneidenden Herbstwind in das gut geheizte Haus. Während ich aus meinem Mantel schlüpfte und die Schuhe auszog, ließ ich den Blick durch den Flur schweifen. Die Einrichtung war zweckmäßig ohne Schnörkel -- Garderobe, Schuhschrank, Beistelltisch mit Telefon und ein Spiegel -- auf dem Telefontischchen aber stand eine kleine Vase mit einem Strauß Blumen, der den Hauch des Spartanischen deutlich abmilderte. Ohne zu fragen, konnte ich mir denken, dass Tanja für diesen Tupfer Gemütlichkeit verantwortlich war.

„Schön, dass du da bist", sagte sie, als sie mich ins Wohnzimmer führte, und das Strahlen in ihren Augen verriet mir, dass sie es ehrlich meinte. „Ich hab mich schon so darauf gefreut, dich endlich kennenzulernen. Bitte, setz dich doch. Möchtest du was trinken, essen...?"

„Ein Kaffee wäre toll", sagte ich und hoffte inständig, dass sie meine Reserviertheit nicht falsch verstand. Ich bin einfach nicht der Typ, der von Natur aus Charme und Herzlichkeit versprüht. Es dauert eine ganze Weile, bis ich in Gegenwart fremder Menschen auftaue. Aber wenn ich mich nicht sehr täuschte, musste sie solches Verhalten ja bestens gewohnt sein.

„Wo ist er eigentlich?", fragte ich gespielt beiläufig, als Tanja aus der Küche zurück kam und ein Tablett mit einer Kanne Kaffee, zwei Tassen, Milch, Zucker und einem Teller Kekse auf dem schlichten schwarzen Couchtisch abstellte.

„Wolf? Ach, der steht grad bestimmt noch auf der Brücke von 'nem Frachter. Er hat mir aber versprochen, dass er heute früher nach Hause kommt."

Dass er ausgerechnet heute zur Arbeit gegangen war, überraschte mich nicht, um ehrlich zu sein war ich ihm sogar dankbar, dass er mir noch eine Schonfrist gewährte. Das Einzige, was mich überrascht hatte, war die Einladung gewesen. Aber vielleicht stammte die Idee ja auch von Tanja.

„So", sagte Tanja und beugte sich gespannt in ihrem Sessel vor, „jetzt möcht ich aber ein bisschen über dich erfahren. Wolf hat erzählt, du hast letztes Jahr deinen Master in marinen Umweltwissenschaften gemacht?"

„Hat er?", fragte ich erstaunt zurück. Dass er sich anscheinend dafür interessierte, was ich tat, freute mich. Dann fing ich mich wieder.

„Äh, ja. Stimmt. Jetzt bin ich wieder von Oldenburg nach Kiel gezogen und hab eine Stelle beim GEOMAR."

In der folgenden guten Stunde unterhielten Tanja und ich uns sehr angeregt über alles Mögliche. Während ich Paulo daran hinderte, sich auf die Kekse zu stürzen, berichteten wir uns gegenseitig von unserer Arbeit -- Tanja war Grundschullehrerin -- , ich erfuhr, was sich in Hamburg alles getan hatte in den ungefähr sieben Jahren, die ich nicht hier gewesen war, und nicht zuletzt erzählte sie mir, wie Wolf mit seinem neuen Leben zurecht kam.

„Auch wenn er meint, ich merk 's nicht, aber er vermisst das offene Meer. Statt die großen Pötte nur sicher rein und raus aus dem Hafen zu bringen, würd er viel lieber ganz das Kommando übernehmen und noch mal rund um die Welt fahren." Etwas Schwermut legte sich über ihr freundliches Gesicht, aber im nächsten Moment musste sie schon wieder schmunzeln.

„Weißt du was? Er hat sich einen alten Krabbenkutter gekauft. Jede freie Minute pusselt er auf dem Ding rum und wenn er mal 'nen freien Tag hat, schippert er damit raus, einfach nur so." Sie nickte nachdenklich.

„Ja ja, vom Kapitän zum Lotsen -- leicht ist ihm das nicht gefallen."

Das hörte sich genau so an, wie ich es erwartet hatte und ich fragte mich, ob das mit den beiden auf die Dauer gut gehen konnte. Immerhin, er schien ja so was wie einen guten Willen zu besitzen, aber ob das reichte?

Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als ich einen Schlüssel an der Haustür hörte. Paulo bellte verhalten und Tanja sah mir besorgt ins Gesicht.

„Anneke, Kind, ist was mit dir? Du bist so blass."

„Alles okay", lächelte ich sie etwas gequält an. Wie konnte man sich bloß freuen und gleichzeitig Angst haben? Das war lächerlich, vor allem meine Angst war lächerlich. Oder war ich einfach nur fürchterlich aufgeregt?

Langsam stand ich auf, während Tanja in den Flur huschte. Ich hörte Stimmen, Tanjas helle, die etwas murmelte und eine sehr viel tiefere, die eine kurze Antwort brummte.

Dann durchquerten schwere Schritte den kurzen Flur und in der Wohnzimmertür erschien Wolf Harms, ehemals Kapitän großer Frachtschiffe und nun Hamburger Lotse. Mein Vater.

Für fünfundfünfzig sah er noch ziemlich gut aus. In seinen blauschwarzen, leicht gewellten Haaren zeigte sich zwar schon hier und da ein grauer Schimmer, genau wie in seinem Vollbart, aber dadurch wurde sein beeindruckendes Erscheinungsbild nicht im geringsten herabgestuft, eher im Gegenteil. Die kräftigen Augenbrauen senkten sich wie eh und je über seine dunkelbraunen, nicht selten stechend blickenden Augen, was seinem Gesicht einen insgesamt finsteren Ausdruck verlieh. Er war kein Riese, aber immerhin gut 1,80 m groß, sodass ich ihm knapp über die Schulter reichte. Und er schien immer noch sehr gut in Form zu sein, denn unter seinem hellen Pullover zeichnete sich kein Gramm Fett zu viel ab, dafür aber eine schön ausgeprägte Muskulatur.

Nach sieben Jahren standen wir einander zum ersten Mal wieder gegenüber. Er schaute erst mich an, dann warf er meinem Hund einen kurzen Blick zu und augenblicklich legte Paulo sich ohne einen Mucks flach auf den Boden. So unterwürfig erlebte ich ihn sonst nie.

„Er hat keinen Krümel Dreck reingeschleppt, ehrlich", sagte ich nervös, befürchtend, mein Vater könnte das arme Tier kurzerhand vor die Tür setzen wollen.

Erst hob er verblüfft die Augenbrauen. Dann lächelte er und mir fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen.

„Schon gut", sagte er bloß. Ich wusste noch, wie tief und rau seine Stimme war, aber trotzdem zuckte ich innerlich zusammen, als ich sie hörte. Er hätte gut einen strengen Weihnachtsmann spielen können, aber das einzige Mal, das er Weihnachten bei uns verbrachte, glaubte ich schon lange nicht mehr an diese Dinge.

Er ging auf mich zu, ich befahl meinen Beinen, sich ebenfalls zu bewegen. Wir gaben uns die Hand und ich zwang mich dazu, seinen Blick zu erwidern. Er sah freundlich aus, das beruhigte mich etwas, wiegte mich aber längst nicht in Sicherheit. Früher oder später würde bestimmt irgendetwas oder irgendjemand sein Missfallen erregen und dann war es vorbei mit der guten Stimmung. Er war zwar nie handgreiflich geworden, zumindest mir gegenüber nicht, aber das Donnerwetter, was er loslassen konnte, war mindestens so schlimm wie Prügel.

„Anneke. Schön, dich zu sehen."

Ich machte den Mund auf, aber eine Anrede wie „Vater" oder womöglich „Papa" wollte mir nicht über die Lippen. Ehrlich gesagt, konnte ich mich nicht entsinnen, ob ich überhaupt je eine bestimmte Anrede für ihn benutzt hatte.

„Gleichfalls", erwiderte ich schließlich. „Gut siehst du aus. Hast dich nicht viel verändert."

„Du schon", meinte er. „Bist ziemlich erwachsen geworden."

„Ach...", machte ich, unschlüssig, was ich darauf sagen sollte.

Er ließ sich in den Sessel fallen, in dem vorhin Tanja gesessen hatte und schlug entspannt die Beine übereinander. Möglichst unverkrampft setzte ich mich ihm gegenüber.

Tanja steckte kurz den Kopf herein. „Ich bin in der Küche, ihr zwei", sagte sie fröhlich. „Muss das Abendessen fertig haben, bis der Rest kommt. Aber ihr habt euch ja sowieso viel zu erzählen."

Wir nickten ihr zu und sie verschwand wieder.

„Wer kommt denn noch alles?", fragte ich meinen Vater.

Er verdrehte kurz die Augen. „Die lieben Schwiegereltern", antwortete er mit unüberhörbarer Ironie. „Fahren aber morgen früh schon wieder ab."

Das „Zum Glück", was er nicht aussprach, konnte ich nur zu deutlich in seinem Gesicht lesen.

„Tut mir übrigens Leid, dass ich nicht zu eurer Hochzeit kommen konnte", platzte ich heraus.

Er winkte nur ab. „Hattest ja auch 'nen guten Grund. Der Beruf geht vor, ist... war bei mir ja nicht anders." Plötzlich leuchteten seine Augen interessiert auf und er beugte sich vor. „Du hast geschrieben, du warst auf Forschungsreise?"

„Ja", nickte ich, „sechs Wochen auf dem Atlantik."

„Und was genau hast du gemacht?"

Sein Interesse kam nicht von ungefähr, ihm war anzusehen, wie es ihn freute, dass ich seine Liebe zum Meer anscheinend geerbt hatte. Und mit niemand anderem, außer meinen Kollegen, hätte ich mich so angeregt über Seereisen austauschen können.

Wir hatten uns eine ganze Weile unterhalten, als er unvermittelt fragte: „Hast du deine Schwester schon gesehen?"

Ich saß da wie vom Donner gerührt. Das Baby! Der Anlass, weshalb ich eigentlich hergekommen war -- und ich hatte mich bei Tanja nicht mit einer Silbe danach erkundigt. Nicht mal nach ihrem eigenen Befinden hatte ich sie gefragt. Zu sehr war mein Kopf eingenommen gewesen von dem Gedanken, nach einer halben Ewigkeit meinen Vater wiederzusehen. Hoffentlich nahm sie es mir nicht allzu übel. Ich hätte mich ohrfeigen können.

Stattdessen schüttelte ich nur den Kopf und wappnete mich innerlich gegen die drohende Explosion.

Die allerdings blieb erstaunlicherweise aus, er runzelte nur etwas die Stirn.

„Nicht?", fragte er und stand auf. „Dann komm. Ich wette, ihr werdet euch mögen."

Ich befahl Paulo, im Wohnzimmer zu bleiben und folgte meinem Vater die gewundene Treppe im Flur hinauf in den ersten Stock. Die Tür gegenüber der Treppe war nur leicht angelehnt, er stieß sie auf und betrat das Schlafzimmer, was genauso schlicht und zweckmäßig eingerichtet war wie die übrigen Räume. Dem Ehebett gegenüber stand ein kleines Gitterbettchen und darin lag ein schlafendes Baby. Meine drei Wochen alte Halbschwester.

Er trat leise ans Bett und betrachtete das Kind. Verstohlen beobachtete ich ihn und versuchte, seinen Blick zu deuten. Mich hatte er zum ersten Mal gesehen, als ich etwas über ein Jahr alt war. Meine Mutter und er hatten nie geheiratet -- „Gott sei Dank nicht!", wie meine Mutter immer sagte. „Ich mit diesem Ekel und Tyrann, das hätte nur Mord und Totschlag gegeben!" Seltsamerweise teilte ich nie ihren Groll gegen meinen Vater. Gut, ich bekam ihn nur äußerst selten zu Gesicht, weil er mehr auf See war als sonst wo und wenn er da war, schien er nicht viel mit mir anfangen zu können, zumindest nicht, als ich noch klein war. Aber er vergaß nie, für mich Unterhalt zu zahlen und je älter ich wurde, desto besser kamen wir miteinander zurecht -- wenn man einmal davon absieht, dass unsere Begegnungen meist im Streit endeten, weil er so leicht wütend wurde.

Im Prinzip war es für ihn das erste Mal, dass er Vater wurde, einer, der sieht, wie sein Kind groß wird. Und genau das las ich in seinen Augen: Staunen über das Wunder des Lebens, zu dessen Entstehung er beigetragen hatte, eine Prise Angst vor der Verantwortung, aber auch Stolz.

„Ich hab sie noch kein einziges Mal schreien gehört, seit ich hier bin", flüsterte ich ihm zu.

Er nickte ernsthaft. „Ja, dieses Kind ist ein Phänomen. Eigentlich schläft sie fast immer und wenn sie mal nicht schläft, trinkt sie Milch. Hat gar keine Zeit zum Schreien. Fantastisch."

Ich verkniff mir ein Grinsen. „Ja, fantastisch."

In diesem Moment wachte das Baby auf und blinzelte uns ein wenig verschlafen mit seinen großen dunklen Augen an. Dann lächelte es.

„Schau mal, sie mag dich", sagte mein Vater und ich gab nur zurück: „Ich glaube eher, sie meint dich."

„Hallo Lina", sagte er mit beinahe sanftem Tonfall zu dem Kind, „deine Schwester ist hier."

Vorsichtig hob er das Baby aus dem Bettchen und nahm es auf den Arm. Mit seinen riesigen Pranken hätte er das winzige Ding ohne Weiteres zerquetschen können, aber er machte seine Sache wirklich gut und hielt seine Tochter sehr behutsam fest. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich die zwei betrachtete, das Bild hatte etwas Rührendes. Gleichzeitig fühlte ich mich ein wenig traurig, mich hatte schließlich nie ein Vater so auf dem Arm gehabt... Unsinn, wies ich mich zurecht. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, schon gar nicht im Nachhinein.

„Willst du sie mal halten?", fragte er plötzlich.

Erschrocken wich ich ein Stück zurück. „Nein."

Ich hatte zu abwehrend geklungen und bereute es noch im selben Moment, als ich es aussprach.

Sofort verfinsterte sich sein Gesicht. „Warum nicht?"

„Ich möchte es einfach nicht, okay? Reg dich doch nicht auf."

Meine begütigenden Worte schienen es eher noch schlimmer zu machen.

„So, du möchtest es nicht, was? Und warum? Kannst du deine Schwester nicht leiden?" Er wurde lauter und ich zunehmend verzweifelter.

„Nein..."

„Du magst sie nicht, weil du eifersüchtig bist! Eifersüchtig auf ein unschuldiges Kind!"

„Nein!"

Lina gab ein kleines, klagendes Geräusch von sich, was mein... unser Vater aber überhaupt nicht bemerkte in seiner Wut. Nicht mehr lange, und sie würde anfangen zu weinen.

„Jetzt gib 's wenigstens zu!", schnauzte er mich an, aber ich hatte genug.

„Stopp!", sagte ich fest und erwiderte ruhig seinen bösen Blick. „Weißt du, warum ich Lina nicht halten möchte? Weil ich Angst habe, etwas falsch zu machen. Ich hatte noch nie ein Baby auf dem Arm und will ihr nicht wehtun."

Ein paar Herzschläge lang blickten wir einander nur in die Augen und erleichtert sah ich, wie das zornige Glühen in seinen Augen fast so schnell erlosch, wie es gekommen war.

„So", sagte er schroff, um seine Verlegenheit zu überspielen, „deshalb also."

Ich nickte. Es stimmte, was ich gesagt hatte. Warum hätte ich Groll gegen ein Neugeborenes hegen sollen?

„Ist ganz einfach", lächelte er mich an, jetzt wieder versöhnlich. „Du musst nur aufpassen, dass du ihren Kopf abstützt. Willst du 's nicht doch mal probieren? Ich hab 's doch auch hingekriegt."

Was sollte ich machen, wenn ich nicht weiteren Streit wollte?

„Okay", sagte ich und trat einen Schritt auf ihn zu. Vorsichtig legte er mir das kleine Bündel in die Arme und ich war überrascht, wie leicht und weich es sich anfühlte.

„Siehst du", sagte er zufrieden.

Es war ein schönes Gefühl, das Baby zu halten. Meine Halbschwester, machte ich mir klar. Sie sah mich an mit ihren schönen Augen, so, wie nur Babys einen anschauen können. Ich verlor mich fast in ihrem Blick. Ihre Augen waren nicht ganz so dunkel wie meine, eher wie die ihres Vaters. Je nach Lichteinfall schimmerten sie mal dunkelbraun, mal rötlich, mal bernsteinfarben. Auf ihrem Köpfchen wuchs schon ein zarter dunkler Flaum, der wohl in absehbarer Zeit zu einem schwarzbraunen Lockenschopf werden würde, ähnlich wie bei mir.

Ich lächelte sie an und sie lächelte zurück. Mit dem Zeigefinger streichelte ich sachte über eines ihrer winzigen Händchen, sofort griff sie danach und hielt ihn in einem zarten Klammergriff fest.

„Ich dich auch, Lina", sagte ich sanft. Wie konnte man etwas anderes als Zuneigung zu so einem kleinen Wesen empfinden?

Ich hob den Kopf und sah unseren Vater an, der uns mit freundlichen, fast liebevollen Gesichtsausdruck betrachtete.

„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich sie mitnehme?", witzelte ich. „Ich lass euch auch den Hund da."

Er schmunzelte und legte mir die Hand auf die Schulter. „Ich denk drüber nach, wenn sie sich doch das Schreien angewöhnt."

Wir fuhren beide zusammen, als es an der Haustür klingelte. Paulo bellte und wir hörten, wie die Küchentür aufging.

„Ich geh schon!", rief Tanja.

Mein Vater und ich wechselten einen Blick.

„Da sind auch schon die stolzen Großeltern", brummte er. „Was meinst du, sollen wir Lina gleich mit runter nehmen? Immerhin ist sie ja die Hauptperson dieser Willkommen-auf-der-Welt-Feier."

„Find ich 'ne gute Idee", sagte ich und gab ihm das Baby behutsam wieder zurück. Ich fand es schade, dass jetzt, wo seine Schwiegereltern da waren, unsere mehr oder minder traute Zweisamkeit schon wieder ein Ende haben sollte. Der Bammel, den ich vor unserer Begegnung gehabt hatte, war ziemlich verflogen, unsere Unterhaltung hatte mir Spaß gemacht -- und ihm anscheinend auch. Nicht zu vergessen war ich auch kein hilfloses Kind mehr, das einem zornigen Vater kein Paroli bieten kann.

Als wir ins Erdgeschoss kamen, waren Tanjas Eltern gerade dabei, ihre Mäntel auszuziehen und warfen meinem Hund misstrauische Blicke zu, der ihnen freundlich mit dem Schwanz wedelnd den Weg versperrte. Einen besonders netten Eindruck machten die zwei nicht auf mich, was aber auch daran liegen konnte, dass ihnen ihr Schwiegersohn nicht passte.