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Das blaue Bett

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Sie lebten in ihrer eigenen Welt, bis eines Tages...
3.5k Wörter
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Dies ist keine typische erotische Geschichte. Es kommen ein paar Küsse und Andeutungen darin vor, in einem gewissen Sinne ist sie auch erotisch, sie enthält aber keine Sex-Szenen. Ich würde mich freuen, wenn Ihr sie trotzdem lest.

*

Von der Straße sah man nur die rostigen Tore aus Eisen, den verfallenen Zaun aus verschlun-genen Ornamenten schwarzen Metalls und aus spitzen Pfeilern, der einstmals zu einem herr-schaftlichen Garten gehört haben mußte. Dahinter wucherte dichtes Gestrüpp zwischen hohen Bäumen, die so eng beieinander standen, daß ihre Äste und Zweige sich ineinander verfloch-ten, und sie nur im Winter, wenn alles Laub auf dem Boden lag, Blicke auf das große, graue Haus im hinteren Teil des Gartens erlaubten.

Ebenso wie der Garten mit seinen knorrigen Ästen und Zweigen, den auf dem Boden liegen-den und von Efeu umwachsenen Stämmen toter Bäume und einigen verwitterten und teilweise zerborstenen Skulpturen griechischer Mädchen und Jünglinge, war auch das Haus von einst-maligem Reichtum und jetzigem Verfall gekennzeichnet. In vielen der hohen und von kunst-vollen Ornamenten umrahmten Fenster fehlte das Glas, oder war zerbrochen. Der Putz hatte sich großflächig von den Wänden gelöst. Doch waren diese zu einem großen Teil so von Efeu und anderem Klettergewächs bewachsen, daß die darunterliegenden Steine weiterhin verbor-gen blieben. Die Erker und Balkone schienen sich nur noch mit Mühe an ihrer Stelle zu hal-ten. Das Gewicht unbedachter menschlicher Schritte würde sie zum Einsturz bringen.

Doch es betrat sie kein Mensch. Auch die wenigen noch intakten Fenster blieben dunkel, und das große, eiserne Eingangsportal war schon seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Nur eine kleine Seitentür öffnete sich manchmal, und heraus trat ein alter, buckliger Mann, meist in den sehr frühen Morgenstunden, in denen die Umgebung noch menschenleer war, und er un-gestört seinen Besorgungen nachgehen konnte.

Das Haus umschloß einen kleinen Hof, in dessen Mitte ein marmorner Springbrunnen schon seit Jahren trocken geblieben war. Die Wege eines kleinen Parks im Hofe wurden von Hecken überwuchert, an denen im Frühjahr kleine Rosen einen süßen Duft verbreiteten.

Ein kleines Portal führte zurück in das Haus, und durch einen schmalen Flur gelang man in die Empfangshalle, zu der auch das große Frontportal und der kleine Seiteneingang führten. Die Wände und der Boden der Halle waren marmorn, und eine große Treppe schwang sich von ihr zum zweiten Stock. Dieser jedoch war zur Mitte hin frei, so daß die Halle hoch bis in das Dach reichte, durch das immer häufiger der Regen tropfte und den Marmor und die zer-schlissenen persischen Teppiche auf dem Boden häßlich verfärbte.

Verschiedene Türen führten von der Halle in ein Labyrinth von Fluren und Zimmern. Zwi-schen ihnen standen an den Wänden Büsten, denen Nasen oder Ohren fehlten, und mittelal-terliche Rüstungen, die längst schon der Rost angefressen hatte, und denen nicht selten die Schwerter oder Helme gestohlen worden waren. Über der Treppe hingen an der Wand Por-traits von Männern und Frauen, verblichen inzwischen und zum Teil vermodert von der im Hause herrschenden Feuchtigkeit. Herausgeputzt mit prachtvollen Kleidern und erlesenem Schmuck hatten sie sich malen lassen, um in einer ihnen selbst unbekannten Zukunft auf Nachfahren hernieder zu blicken, welche jedoch die Treppe nie hinaufsteigen sollten.

In den Zimmern und Fluren beider Stockwerke stapelten sich von Spinnweben umgeben drei-beinige Tische aus teuren Holzen, Stühle, deren samtene Sitzflächen herausgefallen waren, farbige, kunstvoll gewebte Teppiche, nicht selten inzwischen im Begriff, sich zu einem Ge-wirr von Fäden aufzulösen, Decken, Stoffe, die einen modrigen Geruch verbreiteten. Zwi-schen ihnen lagen mit dicker Staubschicht bedeckte Bilder von Schwänen und antiken Szene-rien sowie alte, schwere Bücher, deren wertvolle Ledereinbände aussahen, als würden sie bei der geringsten Berührung in winzige Teile zerfallen.

*

Nur ein Zimmer, welches sich im hinteren Teil des Hauses an den kleinen Hof anschloß, bot kein Bild der Zerstörung dar.

Hier hingen an den Wänden und lagen auf dem Boden noch beinahe intakte, rot gemusterte Teppiche. Dazwischen flackerten in Kandelabern Kerzen aus schwarzen oder tiefrotem Wachs, reflektierten sich in goldumrahmten Spiegeln, und verbreiteten ein sanftes und war-mes Licht. Der Geruch der Kerzen mischte sich mit dem süßlichen Duft von Vanilleschoten und Blütenblättern, die in kleinen, silbernen Schalen auf niedrigen Tischen und Truhen aus dunkelrotem Holz standen. Einige geschwungene Sessel, die Sitzpolster mit Samt überzogen, standen in einer Ecke um einen Tisch mit einer polierten Marmorplatte, auf dem eine große Kristallschale überquoll von Weintrauben, Lychees und anderen exotischen Früchten. Neben ihr stand ein goldener Teller voll von süßem, klebrigem Gebäck und einige mit filigranen Or-namenten verzierte Gläser, in denen noch Reste roten Weines waren. In schmalen Vasen aus getöntem Glas standen getrocknete Rosen, die einstmals rot gewesen waren, doch nun fast schwarz erschienen.

Auf der anderen Seite des Zimmers stand ein großes Himmelbett, ganz umgeben von einem leuchtend blauen Seidenvorhang. Der Vorhang war bestickt mit Goldfäden, die kleine Orna-mente, Blumen und Fische darstellten, dazwischen waren ihm Rubine aufgenäht. Auf dem Bett selbst lagen Decken und Laken aus ebenfalls tiefblauem Satin. Wie unter Wasser sah es aus in dem Bett. Das diffuse Licht der Kerzen im Zimmer, daß durch einen Spalt im Vorhang flackerte, verstärkte diesen Eindruck noch.

Auf diesem scheinbar auf dem Meeresboden befindlichen Bette saßen zwei junge Menschen. Einige Kleider, Mieder und Anzüge, Perlenketten, Diademe und Hüte lagen um sie herum auf dem riesigen Laken verteilt, sie probierten sie an, fanden stundenlanges Vergnügen daran, sich gegenseitig in ihren Verkleidungen zu bestaunen, sich selbst in einem kleinen, reich ver-zierten Handspiegel zu bewundern, denn sie kamen nicht auf den Gedanken, aus dem Bett zu steigen und zu einem der großen, goldumrahmten Spiegel zu gehen.

Das Mädchen, ein blasses, zartes Ding, dem Alter nach schon fast eine Frau, aber mit der Un-schuld eines Kindes, entdeckte einen Schleier und hielt ihn vor ihr Gesicht. Ihre großen, dunklen Augen wurden so noch stärker betont, da ihr schmales Näschen und der kleine, runde Mund für einen Moment nicht zu sehen waren. Ihren Kopf umfloß Haar von der Farbe dunk-len, flüssigen Honigs, und die Augen umrahmten lange Wimpern. Die Brauen waren zart, und in einem sanften Bogen geschwungen. Sie trug zu dem Schleier gerade nur ein kurzes, seide-nes Hemdchen, die helle Haut ihrer Arme und Beine schimmerte bläulich im Licht der ozean-farbenen Seidenwände.

Ihr Bruder war von einem etwas dunkleren Teint, wobei sein Haar aber heller, in langen Lok-ken, sein Gesicht umrahmte. Die Augen des Knaben waren so leuchtend blau wie die Vor-hänge des Bettes, und da er sich im Spiel seine Wimpern geschminkt hatte, war zu sehen, daß sie in Länge und elegantem Schwung denen seiner Schwester in nichts nachstanden.

Überhaupt sahen sich die beiden sehr ähnlich: sie hatten beide filigrane, längliche Hände, schlanke Körper, wobei der des Mädchens beinahe knabenhaft, der des Jünglings beinahe mädchenhaft erschien. Der Bruder war ein wenig größer als seine Schwester, aber nicht viel. Beider Schultern waren schmal und gerade und ihre Beine lang. Ihre Haut war glatt und weich, wie die Haut von kleinen Kindern, der die Sonne noch keinen Schaden zugefügt hat.

Die Beiden lebten solange sie denken konnten in diesem Zimmer. Dereinst, vor vielleicht achtzehn Jahren, waren sie in diesem Zimmer geboren worden, und schon in ihrer Kindheit hatten sie sich hier nach Spaziergängen mit den Eltern erholt, oder an Regentagen auf dem großen Teppich auf dem Fußboden gespielt.

Seit dem Tod ihrer Eltern hatten sie das Zimmer fast gar nicht mehr verlassen, nur an einigen besonders sonnigen Tagen oder lauen Vollmondnächten kletterten sie durch das Fenster hin-aus in den kleinen Hof und spielten dort zwischen den verwilderten Heckenrosen und dem Marmorbrunnen, um dann müde und mit roten Wangen in ihr Zimmer und ihr Bett zurück zu klettern, in dem sie nahe beieinander liegend einschliefen.

Den Rest des Hauses kannten sie nicht, wußten nichts von dem modernden Zerfall seiner Zimmer und Flure, von den zerrissenen Teppichen und zerbrochenen Stühlen, die sich überall stapelten, von den dem Einsturz nahen Wänden und Balkonen, von den verblichenen Portraits und Büsten ihrer Ahnen. Der Zeit, da sie in der großen Eingangshalle ihre ersten Schritte ta-ten, konnten sie sich nicht mehr entsinnen, und ihre Eltern, mit denen sie einst dieses Haus geteilt hatten, waren nur noch eine ferne Erinnerung aus alten Zeiten.

Der alte bucklige Diener ihrer verstorbenen Eltern war in dem Haus verblieben, doch er sprach nie mit den Kindern, so daß die beiden eine eigene Sprache entwickelten und die uns-rige allmählich vergaßen. Sie sprachen miteinander in seltsam anmutenden, vokalreichen Sät-zen, in denen manchmal noch einige dereinst von den Eltern erlernte Wörter anklangen. Meist jedoch sprachen sie gar nicht: Ihr Lebensbereich war abgegrenzt, es gab nicht viel zu erklären, und sie kannten einander so gut, daß jedes wußte, was das andere dachte, ja daß sie oft wie ein einziger Mensch empfanden. So wuchsen sie gemeinsam heran, ohne andere Menschen zu kennen.

Der Diener brachte ihnen kandierte Früchte, auch manchmal frisches Obst und süßes Gebäck. Woher er dieses bekam und wie er es bezahlte, wußten die Beiden nicht, fragten auch nicht danach. Ja, es war ihnen so selbstverständlich, daß ihnen die Möglichkeit der Frage, woher die Leckereien kamen, absurd erschienen wäre.

Sie saßen auf dem Bett und fütterten sich gegenseitig mit den klebrigen Früchten, dazu tran-ken sie roten Wein, den sie aus einer orientalisch anmutenden, goldfarbenen Karaffe in Kri-stallgläser gossen. Er versetzte sie in eine süße Müdigkeit, die sie nicht durch Schlaf zerstören wollten. So saßen sie eng aneinander gelehnt, mit klebrigen Mündern und Händen, begannen sich gegenseitig den Honig von den Fingern und dann auch von den Mündern zu lecken, sich honigsüße Küsse zu geben.

Je älter die beiden wurden, desto näher fühlten sie sich einander, desto inniger wurden ihre Zärtlichkeiten. Sie brauchten nur sich gegenseitig, keine anderen Menschen, nur sich und den kleinen Hof, in dem sie Heckenrosen pflückten und einander schenkten, und ihr Zimmer, in dem sie wie durch ein Wunder beim Erwachen immer klebrige Süßigkeiten und saftige Früchte auf Tellern und Schalen vorfanden.

*

Eines Tages jedoch, oder besser eines Abends, denn die jungen Leute hatten sich angewöhnt des Tags zu schlafen, und abends aufzustehen, wenn die Luft schon lau und die Sonne ver-schwunden war, wenn draußen der Mond und drinnen die Kerzen ein viel freundlicheres, we-niger schmerzhaftes Licht verbreiteten – eines Abends fanden sie die Schalen auf dem Mar-mortisch leer vor. Auf einem Tellerchen beim Bette befanden sich noch Reste vom Vortag, die sie ohne weiteres Nachdenken verzehrten, auch Wein war für den Moment noch genügend in der Karaffe. Gesättigt kletterten die beiden durch das Fenster, ein sanfter Wind ließ ihre dünnen Nachthemden aus Seide flattern, und die Luft war frisch aber doch warm, die Blätter der Hecken leuchteten beinahe silbern im Mondschein, so daß die beiden über ihren Anblick den Mangel an Essen vergaßen.

Sie liefen barfuß auf den Wegen und über das Gras, jagten einander übermütig, kletterten in das Becken des trockenen Springbrunnens und wieder hinaus, setzten sich schließlich auf sei-nen Rand. Der Jüngling sprang auf und pflückte seiner Schwester eine Heckenrose, die sich diese ins Haar steckte. Dann lief auch sie zu dem Gebüsch und suchte eine Blume für ihn aus, flocht sie in sein weiches Haar.

Hand in Hand liefen die beiden zurück zum Fenster. Es waren bei ihren Spielen einige Stun-den vergangen, und sie waren hungrig. Sie kletterten zurück in ihr Zimmer, und erst hier, da sie es vorfanden wie sie es verlassen hatten, mit leeren Tellern, erinnerten sie sich an den Schreck des Morgens. Auf dem Tisch lagen nur einige trockene Blütenblätter, welche die Ro-sen verloren hatten.

Nach einigem Denken erinnerten sie sich des alten, buckligen Mannes, den sie manchmal beim Erwachen, oder bei der Rückkehr aus dem Hof das Zimmer hatten verlassen sehen, wäh-rend in den Schalen frisches Obst und noch warmes Gebäck duftete. Sie sagten wenige Worte in dieser fremdartigen, klangvollen Sprache, die nur sie beide verstanden, und schon waren sie sich dessen einig, daß sie ihn suchen mußten.

Hand in Hand und vor Aufregung ein wenig zitternd schlichen sie aus dem Zimmer.

Sobald sie die Tür geöffnet hatten, schlug ihnen ein Geruch von Moder und Fäulnis entgegen, der für die Zwei, die nur den Duft der Kerzen, der auserlesenen Parfüme, die sie in der großen Truhe fanden und auf Bett und Teppiche sprenkelten, und der Heckenrosen kannten, uner-träglich war. Die Dielen unter ihren Füßen knarrten, schienen selbst unter dem geringen Ge-wicht der schlanken jungen Menschen fast zu zerbrechen.

Erstaunt wanderten die Beiden von Raum zu Raum, husteten von dem Staub, den ihre Füße, ihr Atem, ihre bloße Anwesenheit aufwirbelten, schritten auch die Treppe hinauf, sahen die Bilder ihrer Ahnen, ohne mit ihnen etwas anfangen zu können. Schließlich, als sie sich über-zeugt hatten, daß sie die einzigen Menschen in diesem riesigen Hause waren, setzten sie sich erschöpft und mit Spinnweben im Haar und auf den Kleidern auf der Treppe hin und wußten nicht weiter.

*

Doch das Schicksal hat seine eigenen Wege, die Ereignisse zu leiten, und den Menschen die Ideen einzugeben, die ihre Zukunft bestimmen sollen.

Direkt vor dem Eingangsportal stand ein großer, toter Baum. Er moderte und faulte schon seit Monaten, doch eine geheimnisvolle Kraft hatte in bisher zusammengehalten, wie um das, was nun geschah, genau für den Moment zu bewahren, da die Geschwister auf der Treppe saßen und allem ansichtig werden konnten: Ein Ast, den die Schwerkraft dem Baume schon lange hatte abspenstig machen wollen, brach nun ab, und fiel nach unten gegen das Portal. Dieses war in all den Jahren, da es ungeöffnet blieb, doch nicht verschlossen gewesen war. Nun sprang es schon durch diesen leichten Druck ohne Geräusche einen Spalt weit auf, so daß ein langer Streifen bläulichen Lichts aus der Vollmondnacht draußen in die Eingangshalle fiel.

Die ganze Nacht saßen die Geschwister aneinander gelehnt, fröstelnd, sich gegenseitig wär-mend die Arme umeinander geschlungen auf ihrer Treppenstufe, und beobachten den stillen Lichtstreifen, der in den Morgenstunden schließlich heller und heller wurde. Auch die hohen, staubigen Fenster der Halle, in denen Risse und Sprünge wie riesige Spinnennetze erschienen, füllten sich nun mit Licht, ebenso wie die Löcher im kaputten Dach.

Dann, als die Sonne aufgegangen und es draußen Tag war, stand der Jüngling ohne ein Wort auf, ging zu der Tür, öffnete sie, und trat ins Freie. Seine Schwester blieb auf den Stufen sit-zen. Staunend betrachtete der Junge die riesigen Bäume, die jetzt im Sommer voller Laub waren, zwischen denen jedoch die kahlen Leichen toter Bäume standen. Die frühere Einfahrt zum Hause hin war kaum mehr zu erkennen, immer wieder mußte er über umgestürzte Stäm-me klettern, Gestrüpp zerschrammte die zarte, helle Haut seiner Beine, und seine nackten Fü-ße wurden naß vom morgendlichen Tau auf dem Gras.

Einige Zeit blieb er vor einer moosbewachsenen Skulptur stehen, versuchte sich an eine ferne Zeit zu erinnern, in der er sie schon einmal gesehen hatte. Schließlich jedoch ging er weiter, erreichte das rostige Tor, öffnete es mit einiger Anstrengung, und trat auf die Straße hinaus.

Er blinzelte in der Sonne, die ihm nun direkt in die Augen schien: Im Zimmer war es auch am Tage düster, und im Hof hatten die umgebenden Wände des Hauses, im vorderen Garten die dichten Bäume vor allzu grellem Sonnenlicht geschützt. Auch kannte der Knabe fast nur noch den Abend und die Nacht, da die Beiden tags ja meist schliefen.

Als er sich endlich an das Licht gewöhnt hatte, sah er nicht weit von sich ein Mädchen. Zu-nächst hielt er sie für seine Schwester, da diese, abgesehen von dem alten buckligen Mann, der einzige Mensch war, den er kannte. Doch als das Mädchen ihn mit unverständlichen Worten und einer ihm zu rauh erscheinenden Stimme ansprach, als er sah, daß ihr Haar zu struppig, ihre Züge zu hart, ihre Haut zu unrein war, mußte er einsehen, daß dies nicht seine Schwester war. Das fremde Mädchen sprach weiter, schien ihn etwas zu fragen in ihrer un-melodischen Sprache, und trat schließlich ein paar Schritte auf ihn zu, streckte eine breite, dem Jüngling rissig scheinende Hand nach ihm aus. Er gab einen kurzen, erschrockenen Schrei von sich, ein Laut der zuvor noch nie seiner Kehle entronnen war, und floh zurück durch das Tor, sprang über Stämme und Gestrüpp in Richtung Haus.

Als er gehetzt die Eingangshalle erneut betrat, fand er zu seiner Erleichterung sein Schwester-chen so schlank und zart wie eh und je auf der Treppe sitzend vor. Sie verlangte keine Erklä-rung, ein Blick auf sein Gesicht sagte ihr, daß die Welt, die ihr Bruder da draußen vorgefun-den hatte, schrecklich sein mußte, und gemeinsam flohen die Geschwister zurück in ihr Zim-mer, wo sie sich zitternd und in enger Umarmung in ihren blauen Laken versteckten und schließlich einschliefen.

*

Sie wurden von fremden Stimmen und groben Händen geweckt. Wie in einem Alptraum wur-den sie aus dem dunklen, kühlen Haus heraus gezerrt, in die Hitze der Mittagssonne. Sie nahmen kaum wahr, wer oder wieviele es waren, die sie da mitnahmen, und die ganze Zeit unverständlich auf sie einredeten, mit Stimmen, die freundlich klingen sollten, doch auf die Beiden nicht viel anders wirkten als das Bellen wütender Hunde.

Die Zwei waren wie benommen, merkten kaum, daß sie in ein seltsames Gefährt geschoben wurden, suchten nur ängstlich den Blick des anderen, denn sich zu berühren war ihnen un-möglich, da einer jener riesigen, immerfort redenden Menschen zwischen ihnen saß. Sie wußten kaum, wie sie vorwärts kamen, und wohin sie sich bewegten; als sie wieder zu sich kamen, fanden sie sich voneinander getrennt und umgeben von fremden Menschen in engen Räumen wieder.

Der Jüngling saß in einem Zimmer mit einigen jungen Männern seines Alters oder jünger, einige waren noch Knaben. Sie starrten ihn an, und spotteten über seine mädchenhafte Er-scheinung. Er verstand sie nicht, spürte jedoch eine beängstigende Feindseligkeit. Ebenso fremd fühlte sich das Mädchen, umgeben von anderen jungen Frauen, die beständig kicherten, sie manchmal mit fremden Worten ansprachen, und noch mehr kicherten, wenn sie nicht ant-wortete.

Man gab den Beiden Essen, das sie hungrig verschlangen, obwohl der Geschmack ihre ver-wöhnten Gaumen beleidigte. Ihre Mägen kannten nur Obst und Gebäck. Versalzene Kartof-feln, zähes Fleisch und matschiges Gemüse waren sie nicht gewöhnt, und so litten die beiden in ihrer ersten Nacht weg von zu Hause unter Bauchschmerzen, die ihnen noch schlimmer schienen, da sie solche Schmerzen oder irgendeine andere Krankheit in ihrem bisherigen Le-ben nicht gekannt hatten.

*

Zu Beginn fühlten sich die beiden jungen Menschen unter stetiger Bewachung, doch schon nach wenigen Tagen schien die Aufmerksamkeit der sie umgebenden Menschen nachzulas-sen, man glaubte, daß die beiden gewiß froh über ihrer jetzige Situation seien, und man ge-wöhnte sich an ihre Anwesenheit.

Doch sobald der Jüngling dies bemerkte, nutzte er die nächste Gelegenheit, des Nachts aus dem Fenster zu klettern. In dem Raume, in dem er schlief, lagen einige weitere Jungen in Betten, schliefen tief und fest trotz der Härte ihrer Matratzen, während er sich nach dem wei-chen, blauen Bett zu Hause sehnte. Sobald er draußen, in der kühlen Nachtluft, auf dem Bo-den stand, begann er scheinbar ziellos zu laufen, über einen Hof, kletterte über einen Zaun und lief einen Weg hinab.

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