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Der Olivenhain

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„Das hat doch damit nichts zu tun. Pünktlichkeit ist eine Tugend, die sich sehr schätze", antwortet er. Erneut wirkt er verlegen. „Mich stört nicht, dass du dich ein wenig anders kleidest, als die anderen. Herr Pisolo hat mir beigebracht, Menschen nicht nach ihrem Aussehen zu beurteilen."

„Da hatte er sicher Recht. Ach ja, gibt es ein Bild von Herrn Pisolo?", erkundige ich mich.

„Ja, das war er."

Bei diesen Worten deutet er auf ein großes Bild in der Eingangshalle, das mit einer schwarzen Schleife versehen ist. Mein Vater war, dem Bild nach zu urteilen, ein ausgesprochen ansehnlicher Mann. Auf dem Bild hat er einen etwas strengen Gesichtsausdruck, allerdings könnte das auch am Maler liegen.

„Das ist der Platz, an dem bereits seit Generationen das Portrait des Gutsherrn hängt. Ich bin gespannt, wer die Ländereien erbt und als nächstes von dort oben herabblickt", erklärt er mir.

Er wendet sich zum Gehen und ich folge ihm. Etwas verschmitzt werfe ich noch einen Blick zurück zum Bild meines Vaters. Ich stelle mir heimlich vor, dass dort mein Bild hängen könnte. Ich muss grinsen. Die Vorstellung ist völlig ungewohnt.

Filippo führt mich ins Esszimmer und von dort über die geöffnete Terrassentür hinaus ins Freie. Unter einer Laube steht ein riesiger Tisch, an dem locker zwanzig Personen Platz finden. Es ist für zwei Personen gedeckt.

„Die Köchin hat eigens für dich als Vorspeise typische Wurst- und Käsespezialitäten aus der Toskana vorbereitet, danach gibt es eine Fantasie von der Artischocke und als Hauptspeise Wildschweingulasch mit Polenta", erklärt er.

„Wer soll das alles essen?", frage ich. „Ich bin kein Schwerarbeiter."

„Du kannst auch nur wenig davon essen. Aber kosten solltest du auf jeden Fall."

„Es gibt auf dem Weingut eine eigene Köchin? Leben hier so viele Personen?", erkundige ich mich.

„Die Zahlen schwanken je nach Jahreszeit. Während der Ernte sind zeitweise bis zu dreißig Leute in den Weinbergen und im Keller beschäftigt."

„Dann ist das Weingut ganz schön groß?"

„Wir füllen im Jahr rund dreihunderttausend Flaschen ab."

„Ist das viel?"

„Hängt davon ab, was du unter viel verstehst", meint er.

„Ich habe keine Ahnung vom Weinbau", antworte ich. „Sei mir bitte nicht böse."

„Wir sind ein mittelgroßer Betrieb und produzieren vor allem Spitzenweine. Der `Brunello´ macht fast die Hälfte unserer Produktion aus. Damit verdienen wir schönes Geld", meint er. Ich sehe ihm an, wie stolz er ist.

„Zeigst du mir morgen den Betrieb? Als Mädchen aus der Großstadt hatte ich noch nie die Gelegenheit ein Weingut zu besuchen", frage ich.

„Gerne, nach dem Frühstück würde ich zuerst in den Weinberg gehen. Am Nachmittag, wenn es dann wärmer wird, ziehen wir uns in den Keller zurück", schlägt er vor.

„Ich verlasse mich ganz auf dich", antworte ich.

Während des Essens sprechen wir vor allem über die Köstlichkeiten der Toskana. Die Köchin muss magische Hände haben, denn alles, was sie auftischt, schmeckt unglaublich lecker. Als eine Frau - so um die sechzig - mit der Nachspeise kommt, stellt uns Filippo vor. Ich bedanke mich für das wirklich sensationell gute Essen und bekomme dafür ein freundliches Lächeln zurück. Sie scheint es nicht gewohnt zu sein, Lob zu bekommen.

Die Nachspeise, ein Schokomus mit Olivenöl, toppt echt alles. Es zerfließt förmlich auf der Zunge, schmeckt unglaublich gut und verzaubert mich auf Anhieb. Damit könnte ich mich zu Tode fressen! Ich schwör´ s!

Kaffee oder Schnaps lehne ich dankend ab. Ich bin satt und zufrieden. Hier leben muss wirklich schön sein.

„Bist du mir böse, wenn ich noch einen Spaziergang hinaus zum Olivenhain mache?", erkundige ich mich.

„Darf ich dich begleiten?", will Filippo wissen. Er ist schüchtern.

„Mich interessiert dieser Ort. Er soll magisch sein."

„Es ist ein ganz besonderer Platz, das stimmt", pflichtet er mir bei.

Wir erheben uns und schlendern los. Schnelle Bewegungen kriege ich mit meinem vollen Bauch nicht mehr hin.

„Habe ich dich vorhin richtig verstanden? Du machst dir Sorgen, wie es mit dem Weingut weitergeht?", erkundige ich mich. Dabei versuche ich so beiläufig wie möglich zu klingen.

„Herr Pisolo hat das Weingut sehr geliebt. Ich hatte den Eindruck, es war sei Ein und Alles. Trotzdem hat er mir im Weinacker und im Keller praktisch freie Hand gelassen. Er wollte informiert sein, was ich tue und was ich plane, doch er hat mir nie dreingeredet und mich immer unterstützt. Vor allem, wenn ich mit neuen Idee gekommen bin, wenn ich Vorschläge hatte. Er ließ sich mit Argumenten überzeugen", erzählt er. Ich kann die Begeisterung in seinen Worten spüren. Ich glaube, die beiden Männer waren sich im Grunde sehr ähnlich.

„Du hast Angst, das wird jetzt anders?", frage ich nach. „Was ist mit seinen Kindern?"

„Ich will nicht schlecht über sie sprechen. Aber sie bringen nicht die nötige Passion mit. Isabella und Renzo habe ich vor etwa fünf Jahren das letzte Mal gesehen. Die beiden interessiert nur das Geld. Marco ist etwas besser, aber vom Wein versteht auch er nicht viel und interessiert sich eher fürs Trinken."

„Was ist mit der Frau?"

„Keine Ahnung! Ich habe mit fünfzehn Jahren hier angefangen zu arbeiten. Heute bin ich achtundzwanzig. Ich habe die Frau nicht ein einziges Mal gesehen. Herr Pisolo hat immer gesagt, sie sei nicht fürs Land geschaffen. Ich glaube, es war ihm im Grunde auch ganz Recht so. Er hätte sie hier als Eindringling gesehen."

„Das sind keine guten Voraussetzungen", resümiere ich.

„Ein Weingut kann nur gut laufen, wenn Menschen mit Begeisterung für das Land dahinterstehen. Ich fürchte, die Familie schätzt ´l´uliveto´ nur wegen der Gewinne. Hier leben und arbeiten will keiner von ihnen.

Sie besitzen mehrere Häuser in der Stadt. Der wirkliche Schatz ist allerdings der Weinberg. Er hat als landwirtschaftlicher Betrieb auf dem Papier keinen großen Wert, wirft aber die Gewinne ab. Die Häuser in der Stadt verschlingen aufgrund der notwendigen Instandhaltung beträchtliche Summen. Diese werden hier erwirtschaftet."

„Ich verstehe. Du machst dir Sorgen, wer der neue Herr ist und was er mit dem Weingut vorhat. Wen würdest du dir wünschen?", bohre ich nach.

Filippo bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Er schaut mir direkt in die Augen. Sein Blick ist besorgt.

„Es steht mir sicher nicht zu, ein Urteil abzugeben. Doch die Zukunft für das Weingut ist mehr als düster, egal wer es erbt. Ich habe mich manchmal gefragt, warum Herr Pisolo nicht besser vorgesorgt hat. Jeder gute Bauer hinterlässt das Land gut bestellt.

Ihm war dieses Fleckchen Erde ein Leben lang wichtig, es hatte für Ihn eine ganz große Bedeutung. Den Grund dafür kannte vermutlich nur er. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so an seinem Land hing. Er hat mir nie den Grund dafür verraten und hat ihn wohl mit ins Grab genommen", wird Filippo emotional. „Entschuldige, wenn ich mich hineinsteigere."

„Und wenn er eine Lösung kannte, an die niemand denkt?", frage ich nach.

„Ich habe keine Ahnung, wie die aussehen sollte", antwortet er. „Ich glaube aber nicht, dass es die gibt."

Wir haben inzwischen den Olivenhain erreicht. Dieser Platz zieht mich sofort in seinen Bann. Wenn jemand fragen würde, ich könnte ihm nicht erklären warum. Allerdings habe ich den Eindruck, als wäre ich schon einmal hier gewesen.

„Hier war er am liebsten", erklärt Filippo. „Hier konnte er Stunden verbringen, ohne sich auch nur zu rühren."

„Es ist ein ganz besonderer Platz", bestätige ich.

Magisch angezogen gehe ich auf die Kante zu und genieße den Ausblick über den Hang und die Ebene. Ich lasse diese besondere Stimmung auf mich wirken. Links von mir erblicke ich eine rot gestrichene Holzbank. Rot, wie die Liebe. Es ist ein mit sehr viel Liebe gefertigtes Stück. Keine Massenware, wie man sie im Baumarkt findet.

Fast andächtig setze ich mich nieder. Wenn ich mir vorstelle, dass hier mein Vater und meine Mutter gesessen haben und ich womöglich an diesem Platz gezeugt worden bin, bekomme ich Gänsehaut. Ich habe das Gefühl, die beiden sitzen neben mir und sprechen mir Mut zu. Mut, den sie nicht hatten.

„Was erzählt die Legende über diesem Ort?", erkundige ich mich bei Filippo.

„Darf ich mich setzen?", will er wissen. Ich habe den Eindruck, er wird erneut leicht rot im Gesicht. Es könnte aber auch das Abendrot sein, das sich wie glühende Lava über den Himmel verteilt hat.

„Natürlich, komm her!", fordere ich ihn auf.

Ich rutsche ein wenig zur Seite und Filippo setzt sich. Er ist dabei andächtig, unglaublich zurückhaltend. Das hat allerdings nichts mit mir zu tun.

„Herr Pisolo wollte nie, dass außer ihm jemand hier sitzt. Diese Bank war heilig. Es ist deshalb das erste Mal, dass ich auf dieser Bank sitze. Keine Ahnung warum", erklärt er.

Wenn er wüsste, was ich weiß, denke ich bei mir. Allerdings möchte ich im Moment meine Identität und die Rolle, die ich spielen könnte, noch nicht preisgeben. Ich finde Filippo echt sympathisch und habe so etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm meine wahre Identität verschweige. Doch es ist noch nicht der richtige Augenblick gekommen.

„Und, wie ist es?", frage ich. Damit versuche ich ihn etwas zu necken und die Stimmung aufzuheitern. Nur gelingt es mir nicht.

„Ich habe den Eindruck, wir sind nicht allein", antwortet er. „Du wirst mich jetzt für verrückt halten, doch ich spüre förmlich, die Anwesenheit anderer Menschen."

„Was sagt die Legende?", bohre ich nach.

„Es gibt mehrere Legenden, die sich um diesen Platz ranken."

„Dann erzähl eine davon", fordere ich ihn auf.

„Ein Gutsherr, der Urgroßvater von Herrn Pisolo soll hier gestanden haben. Plötzlich ist ihm seine Mutter erschienen und hat ihn vor schweren Unwettern gewarnt. Sie hat ihm geraten, dass alle Menschen die Nacht hier in diesem Olivenhain verbringen sollten.

Der Urgroßvater hat den Rat befolgt. Einige haben ihn zwar für etwas schrullig gehalten, sind aber seinen Anweisungen nachgekommen. Nur seine Frau hat ihm nicht geglaubt und ist im Haus geblieben. In der Nacht ist tatsächlich ein fürchterliches Unwetter über die Gegend hereingebrochen. Sintflutartige Regenfälle haben dazu geführt, dass links und rechts dieses Rückens wahre Sturzbäche hinunter gestürzt sind.

Plötzlich gab es einen gewaltigen Knall und ein riesiger Blitz schlug ins Haus ein. Es stand binnen Sekunden lichterloh in Flammen. Die Frau konnte zwar noch rechtzeitig das Haus verlassen, wurde dann aber von den Sturzbächen mitgerissen. Man hat sie nie mehr gefunden. Sie wurde vermutlich unter Schlamm begraben, den das Wasser zu Tal befördert hat. Die Menschen, die der Urgroßvater angewiesen hatte, in den Olivenhain zu kommen, haben das Wetter durchnässt aber völlig unbeschadet überstanden."

Wir schweigen beide eine längere Zeit. Ich glaube eigentlich nicht an solche Geschichten. Doch diese halte ich tatsächlich für möglich. Nicht nur Filippo hat den Eindruck, an diesem Ort nicht alleine zu sein. Auch ich spüre die Anwesenheit anderer Personen. Während er nur die Präsenz verspürt, bin ich überzeugt, dass es meine Mutter und mein Vater sind.

„Dieser Hain und dieses Weingut sind wirklich ein ganz besonderer Fleck auf dieser Erde. Ich hoffe, Herr Pisolo hat den richtigen Weg gewählt, seine Nachfolge zu regeln. Ich hoffe ehrlich, dass er sich dabei nicht getäuscht hat", sage ich.

Filippo pflichtet mir bei. Allerdings versteht er nicht, die Bedeutung hinter meinen Worten. Er wird sich übermorgen daran zurückerinnern, wenn das Testament verlesen wird.

„Was machst du beruflich?", erkundigt er sich. „Wenn ich fragen darf."

Seine Zurückhaltung finde ich niedlich. Er ist ein Mann, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt, der sich aber seinen Hausverstand bewahrt hat.

„Natürlich darfst du fragen. Ich bin Friseurin."

„Macht das Spaß?"

„Bisher habe ich nie darüber nachgedacht. Ist halt ein Beruf, wie viele andere. Wenn ich jedoch das Land hier sehe, dann kommen mir Zweifel, ob ich mit meinem Leben wirklich zufrieden bin", antworte ich.

„Du kannst so lange hier bleiben, wie du möchtest", bietet er an. Sein Angebot kommt überhastet, denn sofort rudert er zurück. „Wenn das nach der Testamentseröffnung noch möglich ist."

„Danke für das Angebot", antworte ich. „Ich werde eventuell darauf zurückkommen."

Wieder entsteht eine Pause. Wir sitzen schweigend nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach. Ich weiß nicht, ob der Notar uns bewusst zusammenführt hat. Doch bewusst oder unbewusst, meine Meinung hat sich geändert. Bei meiner Ankunft war ich noch felsenfest davon überzeugt, nichts mit dem Weingut zu tun haben zu wollen. Das bin ich nun nicht mehr.

Ich fühle Verantwortung. So blöd das auch klingen mag, ich fühle Verantwortung meinem Vater, den Menschen, die hier arbeiten und schließlich auch diesem wunderbaren Fleckchen Land gegenüber. Mein Vater hat das Weingut geliebt und es hat für ihn eine besondere Bedeutung. Auch für mich ist dieses Land von ganz entscheidender Bedeutung. Das wird mir allmählich klar. Ohne dieses Land würde es mich nicht geben.

An keinem anderen Ort der Welt hätte ich meine Meinung so schnell geändert, wie in diesem Olivenhain. Ich kann an diesem Platz die Liebe förmlich fühlen. Die Liebe meiner Eltern zueinander und die Liebe meines Vaters zu diesem Land. Etwas anderes ist ihm nicht geblieben. Das Schicksal meiner Eltern berührt mich mehr, als ich gedacht hätte.

Schließlich machen wir uns auf den Rückweg. Wir sind sehr still. In der großen Halle verabschieden wir uns.

„Wann möchtest du das Frühstück haben?", erkundigt sich Filippo.

„Ist acht Uhr zu spät?", frage ich unsicher. Ich kenne nicht die Gepflogenheiten in diesem Haus. Ich weiß nur, dass die ländliche Bevölkerung normalerweise zu den Frühausstehern gehört.

„Du bist in Urlaub. Natürlich geht das gut", meint er. Ein süßes Lachen spielt um seine Mundwinkel.

„Danke Filippo, für alles. Ehrlich! Der Abend war wunderschön", sage ich.

Zum Abschied gebe ich ihm zwei Küsschen auf die Wangen. Er ist so überrascht davon, dass er erst realisiert, als ich mich schon wieder von ihm löse. Dann aber läuft er knallrot an.

„Gute Nacht!", sage ich. Schnell laufe ich die Treppe hoch und verschwinde.

Pünktlich um acht Uhr komme ich ins Speisezimmer. Dort sehe ich nur ein Gedeck und bin ein klein wenig enttäuscht. Filippo frühstückt nicht mit mir. Er ist auch nirgends zu sehen. Dafür kommt die Köchin zur Tür herein.

„Buon giorno signorina", begrüßt sie mich. „Café?"

Hier in Siena bin ich zum ersten Mal in meinem Leben froh, dass mich meine Mutter zum Italienischkurs geschickt hat. Gestern fühlte ich mich sprachlich noch etwas eingerostet. Doch Filippo hat meine Fehler sehr höflich überspielt und langsam bekomme ich meine Selbstsicherheit zurück. Auch die verschiedenen Begriffe und Vokabeln werden mir wieder geläufiger.

„Grazie", antworte ich.

Sie bringt eine große altmodische Mokkamaschine und stellt sie auf den Tisch. Das Frühstück ist reichlich. Ich habe die Befürchtung, ich soll gemästet werden.

„Guten Morgen, Greta!", höre ich von der Tür her.

„Guten Morgen, Filippo. Ich hatte schon Angst, du würdest mich versetzen", antworte ich.

„Das würde ich nie. Eine so schöne Frau versetzen, das wäre unverzeihlich", kontert er.

„Hast du keinen Hunger?"

„Ich habe schon gefrühstückt. Bin etwas früher aufgestanden als du", neckt er mich.

Trotzdem setzt er sich zu mir an den Tisch und leistet mir Gesellschaft. Nach einer Tasse Kaffee und einem Hörnchen bin ich startklar. Ich bin ungeduldig. Wir durchstreifen den ganzen Vormittag lang die Weinberge. Mit einer unglaublichen Begeisterung erklärt mir Filippo jedes Detail. Am Ende weiß ich, welche Rebsorten angebaut werden, wie sie gepflegt und die Trauben geerntet werden und noch viel, viel mehr. Immer wieder reicht er mir die Hand, um mir bei Unebenheiten behilflich zu sein. Manchmal bin ich nicht sicher, ob er mich für eine ungeschickte Stadtbewohnerin hält oder ob er einfach nur gern meine Hand hält.

Pünktlich zum Mittagessen sind wir wieder beim Herrenhaus und lassen uns von der Köchin allerlei Köstlichkeiten auftischen. Die Wanderung durch den Weinberg hat mich richtig hungrig gemacht Ich greife ordentlich zu. Die Köchin scheint das mit großer Genugtuung zu beobachten. Sie lässt mich keine Sekunde aus den Augen.

Nach dem Essen legen wir noch eine Verdauungspause ein, bevor wir uns an die Kellereibesichtigung machen. Wir sitzen zum Verdauen auf der Terrasse und Filippo erklärt mir, wie die Vermarktung funktioniert und wie sie verbessert werden könnte. Danach geht es ab in den Keller. Auch hier bekomme ich die beste Führung, die jemals ein Besucher erlebt hat. Filippo legt sich richtig ins Zeug.

Natürlich verkosten wir immer wieder verschiedene Weine, die in den Stahltanks lagern oder in den Eichenfässern reifen. Am Ende der Besichtigung habe ich einen leichten Schwips. Ich bin es schließlich nicht gewohnt, am Nachmittag Wein zu trinken. Beim Verlassen des Kellers stoße ich deshalb mit Filippo zusammen, als wir gleichzeitig durch eine schmale Tür wollen.

Von der Situation beeinflusst und vom Alkohol ermutigt, nehme ich sein Gesicht zwischen meine Hände und küsse ihn direkt auf den Mund. Es ist nur ein flüchtiger Kuss und doch fühlt es sich unheimlich gut an. Auch diesmal ist er komplett überrumpelt und schafft es nicht, zu reagieren. Als ich mich von ihm löse, entsteht ein kurzer Moment, in dem keiner von und beiden weiß, was er sagen soll.

Ich hoffe dabei innständig, dass er endlich den Mut findet, den zweiten Schritt zu machen. Ich wäre bereit dazu. Doch Filippo ist unerfahren im Umgang mit Frauen. Wir gehen einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Auch während des Abendessens schweigen wir den Kuss einfach tot und plaudern stattdessen über belanglose Dinge. Ich halte mich bewusst zurück. Ich will sehen, ob er endlich was macht. Doch Fehlanzeige.

Als wir uns eine gute Nacht wünschen, stehen wir uns am Fuße der Treppe gegenüber, als ob es den Kuss nie gegeben hätte. Ich ziehe ihn deshalb zu mir heran und küsse ihn erneut. Diesmal intensiver und länger. Ich schiebe ihm meine Zunge in den Mund und erkunde seine Mundhöhle. Dann erst löse ich mich von ihm.

„Gute Nacht! Träum was Schönes!", sage ich. Gleich danach verschwinde ich über die Treppe nach oben in mein Zimmer.

„Gute Nacht!", höre ich noch sagen.

Als ich ganz oben noch einen letzten Blick zurückwerfe, steht er immer noch wie angewurzelt da und schaut mir nach. Er hat nicht verstanden, wie ihm geschieht. Ich wette, er wird die ganze Nacht wachliegen und grübeln.

Am nächsten Morgen ist Filippo nicht da. Ich warte vergebens, dass er zur Tür herein kommt. Auf Nachfrage erklärt mir die Köchin, dass er zu einem Händler fahren musste. Ich bin überrascht, dass er mir nichts davon gesagt hat. Ich vermute, dass es wohl eher etwas mit meinem Kuss zu tun hat und er nicht weiß, wie er sich verhalten soll.

Während ich den Kaffee schlürfe, wird mir bewusst, dass ich den Vormittag frei habe. Deshalb lasse ich mir beim Frühstück heute mehr Zeit. Ich verwickle die Köchin in ein Gespräch und versuche sie über Filippo auszuhorchen.

„Filippo ist als junger Bursche zusammen mit seinem Vater hierhergekommen. Herr Pisolo hat ihn von Anfang an gemocht. Er hat ihm Arbeit gegeben, als er fünfzehn war. Auch als seine Eltern weitergezogen sind, ist Filippo hier geblieben. Herr Pisolo hat ihn unter seine Fittiche genommen und auf die Weinbauschule geschickt.

Der Junge ist unglaublich fleißig, liebt seine Arbeit und das Weingut. Er hat viele Ideen und ist sehr bemüht. Ich glaube, man könnte sich keinen besseren Kellermeister wünschen", erzählt sie.

„Hat er eine Freundin oder eine Frau?", frage ich.

„Wo denken Sie hin? Er kennt doch nur die Arbeit", meint sie.

Ich komme mir etwas schäbig vor, die gute Frau auszuhorchen. Sie erzählt aber sehr bereitwillig und quittiert meine Frage nach einer Freundin mit einem verschmitzten Grinsen.