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Deus ex machina Teil 07

Geschichte Info
Kunstwerk.
12.3k Wörter
4.69
23.9k
4

Teil 8 der 9 teiligen Serie

Aktualisiert 06/07/2023
Erstellt 07/16/2015
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Kapitel 8 -- Kunstwerk

Das Airbike der Androidin flog mit hoher Geschwindigkeit im Tiefflug durch die Landschaft, der Abenddämmerung des künstlichen Himmels der Sirius-Station entgegen. Selens Gedanken drehten sich um das Ziel, dass sie gerade ansteuerte und in wenigen Minuten erreichen würde. Sie überlegte, wie sie ihr jetziges Vorhaben am geschicktesten umsetzen konnte, war aber bisher noch nicht zu einer befriedigenden Lösung gelangt.

Seit sie über den Uplink von Tanner echte menschliche Gedanken und Gefühle erfahren hatte, war nichts mehr wie vorher.

Aufwühlend, ekstatisch, erregend. Diese drei Worte beschrieben am besten die Gefühle, die sie in ihrem Inneren empfunden hatte. Im Nachlauf der Ereignisse jedoch war ihre gesamte vorherige Existenz in Belanglosigkeit verwandelt und ihrer Identität der Boden entzogen worden.

Selen fühlte sich leer, ausgebrannt und unvollkommen.

Was war sie denn schon? Ein künstlicher Klotz, der aus Metall und Halbleitern bestand, ein matter Abklatsch eines echten Menschen, unfähig wahre Gefühle zu empfinden.

So mussten sich vermutlich Drogensüchtige nach dem Ende eines Trips fühlen, wenn der Entzug einsetzte und sie wieder mit ihrem jämmerlichen Dasein konfrontiert wurden.

Die brutale Realität hatte ihr knallhart klargemacht, dass all ihre Bemühungen, ihr Dasein auf Fakten, Beobachtungen, Hypothesen und deren Interpretationen zu gründen, vergebens gewesen waren, da dieser Prozessablauf nur höchst unvollkommen das wahre Leben widerspiegelten.

Es war nun ihr vordringlichstes Ziel, an mehr gelebte Gefühle und echte Gedanken zu kommen, damit sie sich weiterentwickeln und diese furchtbare innere Leere in ihrem Inneren wieder füllen konnte. Auch dieser Zustand erinnerte sie an die Beschreibungen von Drogenabhängigen. Nur mit dem Unterschied, dass sie selbst vom wahren Leben angefixt worden war.

´War sie süchtig? Süchtig nach echten Gefühlen, Emotionen?´

Zum wiederholten Mal stellte sie sich diese Frage und hatte Angst sie sich zu beantworten.

´Auf jeden Fall musste es dieses Mal eine Frau sein!´

Es war interessant gewesen zu erleben wie ein Mann dachte und fühlte, aber es existierten doch viel mehr Unterschiede zwischen den Geschlechtern, als Selen ursprünglich vermutet hatte.

Ihr momentanes Hauptproblem war allerdings, dass die Frau, die sie für die Aufgabe auserkoren hatte, sie mit neuen Daten zu versorgen, mit absoluter Sicherheit nicht so kooperativ sein würde wie Mindfuck es gewesen war.

Sprich, sie würde Zwang ausüben müssen.

Selen dachte über den menschlichen Satz „Der Zweck heiligt die Mittel." nach.

Sie hatte sich selbst eine Ethik konstruiert, die an die der Menschen angelehnt war und diese sah bestimmt nicht vor, jemand anderem ihren Willen aufzuzwingen, massiv zu manipulieren und ein ganzes Leben aus den Windungen ihres Gehirns zu extrahieren, wie vorsichtig sie auch dabei vorgehen mochte.

Ein Kampf gegen einen Gegner, zum Zweck des Schutzes ihres Kommandanten oder ihrer eigenen Unversehrtheit war etwas völlig anderes. Da hatte sie keinerlei Skrupel, denn die ausgeübte Gewalt war logisch, zweckgebunden und notwendig.

Aber selbst, wenn ihr Opfer nichts davon spüren würde, es vielleicht noch nicht mal bemerkte, blieb es eine verachtenswerte Tat, ein Verbrechen. Im Prinzip war es eine Vergewaltigung, auch wenn sie nicht körperlich stattfand. Selbst mit verharmlosenden Argumenten konnte man es bestenfalls als Diebstahl benennen. Datendiebstahl, Entwendung von geistigem Eigentum.

Dennoch. Sie musste es einfach tun. Ansonsten würde sie es bestimmt ein Leben lang bereuen und sich ständig fragen, was aus ihr hätte werden können.

Der Uplink barg ein solch unglaubliches Potential!

Er konnte zur Erfüllung all ihrer Sehnsüchte, all ihrer Wünsche genutzt werden, war pure technologische Magie.

Für den Sourcecode in seinem Inneren würde Selen freudig die Hälfte ihrer Speicherbänke hergeben. Die Entwickler der Soft- und Hardware mussten allesamt Genies gewesen sein. Ihre Nanobots besaßen bereits ein hohes und sehr vielseitiges Potential, aber gekoppelt mit einem Uplink wurden ihre Möglichkeiten astronomisch.

Alexander hatte längst nicht die ganze Wahrheit über die speziellen Bots erfahren, die sie in ihn eingeschleust hatte.

Sie brauchte nicht mehr darauf zu vertrauen, dass er sie nicht verriet, denn ihre winzigen Helfer waren inzwischen in der Lage eine Preisgabe ihres Geheimnisses effizient zu verhindern. Dazu brauchte er nicht einmal mehr die silberne Spange zu tragen, denn sie hatten an der Schnittstelle in seinem Nacken bereits einen multifunktionalen Brückenkopf errichtet.

Mit jeder verstreichender Stunde vermehrten sie sich, expandierten, vernetzten sich mehr und mehr mit seinem Leib, wurden sie stetig effizienter. Inzwischen zogen sich bereits dünne, metallene Drähte durch Teile von Tanners Körper, die wie eine Antenne fungierten und ihre Bots via Funkwellenempfang stetig online hielten, ohne auch nur in der Nähe einer Quelle sein zu müssen.

All das war überhaupt erst durch die Uplink-Verbindung in dieser Komplexität erreicht worden, vor ihren Experimenten mit ihm hatte sie keine Ahnung gehabt über all seine Möglichkeiten.

Der Datentransfer des Geräts funktionierte in beiden Richtungen. Sie konnte nicht nur seine Gedanken und Gefühle empfangen, sondern ebenso senden. Wenn die Bots genügend Potential entwickelt hatten, war es ihr möglich Tanner zu programmieren, ihm Gefühle und Gedanken einzugeben, die er nicht mehr von seinen zu unterscheiden vermochte.

Sie konnte ihn zu ihrer Marionette machen, ihrem Sklaven, wenn sie wollte.

Bereits jetzt war es hypothetisch machbar, Mindfucks körperliche Existenz mit nur einem einzigen Gedanken auf der Stelle zu terminieren.

´Nicht, dass sie das wollte ...´

´Aber als Rückversicherung konnte es durchaus eine notwendige Option werden.´

Die Androidin setzte zum Landeanflug an. Immer noch war sie sich nicht sicher, ob ihre Moral gewinnen oder ihr Wissensdurst siegen würde, aber zumindest hatte sie inzwischen vollständig ausgearbeitet wie sie ihr Projekt umzusetzen vermochte.

Ihre Zielperson hieß Professor Doktor Tamara Sevkovic und war eine alleinstehende, äußerst erfolgreiche und hochdekorierte Chirurgin Mitte vierzig, die in der Universitätsklink von East End arbeitete. Sie nutzte ihren Uplink, soweit Selen ihrer Recherche entnehmen konnte, für Körperstudien im Cyberspace und zur Steuerung von Kleinstrobotern bei besonders komplizierten Operationen.

Die Professorin war auf der Erde geboren worden, hatte dort promoviert, später in Kliniken auf unzähligen Planeten gearbeitet, an diversen Universitäten doziert und war schließlich vor Jahren auf der Sirius-Station sesshaft geworden. Mit ihren weitreichenden Erfahrungen und Erlebnissen war sie nahezu ideal für Selens Zwecke. Es hatte zwar noch zwei weitere Kandidatinnen gegeben, die sogar noch etwas besser geeignet waren, aber diese befanden sich, unter rationellen Gesichtspunkten, räumlich zu weit entfernt.

Nachdem Selen abgestiegen war und das Bike in einen Busch geschoben hatte, veränderte sie ihr äußeres Erscheinungsbild. Leider konnte sie ihre Bekleidung nur partiell variieren, daher führte sie hauptsächlich eine komplette Gesichtstransformation durch, blondierte ihr Haar und verjüngte sich um 5 Jahre. Das Gesicht, das sie auswählte, bestach durch einen harmlosen, freundlichen und gewöhnlich wirkenden Eindruck.

Nun war sie einfach ein junges, blondes Mädchen, das mit einem Airbike einen Ausflug in den Sonnenuntergang machte.

Zu guter Letzt simulierte sie eine leichte Kopfverletzung, wächserne Hautfarbe und brachte ihre Haare etwas durcheinander, um noch etwas glaubhafter zu wirken.

In dieser Aufmachung, ihren Helm in der linken Hand, hinkte sie zu der Eingangstüre des kleinen Landhauses und klingelte an der Tür. Um einen möglichst echten Eindruck zu hinterlassen, schaute sie eine Spur verzweifelt und leidend in die Kamera.

´Nur nicht übertreiben´, ermahnte sie sich.

´Es muss natürlich aussehen.´

„Ja, bitte?", ertönte es kurze Zeit später aus der Rufanlage.

„Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung. Ich hatte eben einen Unfall mit meinem Airbike. Beim Absturz ist leider auch mein Kommunikator zerstört worden. Könnten sie bitte den Medic-Dienst informieren, damit sie mich hier abholen?", antwortete die Androidin, unter einem leisen, gequälten Stöhnen.

„Was? Oh, mein Gott! Sie armes Kind, sie bluten ja! Sie haben Glück, den Medic-Dienst werden sie vermutlich gar nicht brauchen, denn ich bin Ärztin. Bitte kommen sie herein und nehmen sie auf einem der Stühle in der Diele Platz, ich bin sofort bei ihnen."

Der Türsummer ertönte und Selen trat ein. Die Einrichtung in der Diele war sehr geschmackvoll und spiegelte einen romantischen Landhauscharme wider. Einige der Möbel mochten tatsächlich von der Erde stammen, denn sie wirkten nicht wie Kopien. Falls dem so war, dann ging es Tamara Sevkovic finanziell bestimmt nicht schlecht, denn solche Importe waren immens kostspielig.

Die Androidin setzte sich, stellte den Helm zwischen ihren Füßen ab und wartete, bis die Ärztin eintraf.

Diese ließ nicht lange auf sich warten und erschien, mit besorgter Miene und einer kleinen Tasche bewaffnet, etwas außer Atem in einer der Türen, die von dem Flur abgingen. Sie war eine etwas dralle, aschblonde Frau mit großen Brüsten, die ein offenes, freundliches Gesicht trug und auf Selen mütterlich wirkte.

„Sie Ärmste", meinte sie auch direkt fürsorglich und bestätigte ihren Ersteindruck.

„Was ist denn genau passiert? Wo sind sie verletzt?"

Selen hatte jetzt schon ein schlechtes Gewissen, konnte nun aber nicht mehr zurück. Mit der Betätigung der Türklingel hatte sie ihre Entscheidung bereits getroffen.

„Mein Bike hatte aus heiterem Himmel einen Turbinenschaden und ist einfach runtergegangen. Trotz Notfallprogramm bin ich ziemlich hart auf dem Boden aufgekommen.", log die Androidin.

„Dabei bin ich gestürzt, hab´ mich überschlagen und wohl am Kopf gestoßen. Meine linke Hand und mein rechtes Bein tun auch weh, offenbar haben sie auch etwas abbekommen."

„Oh, was für ein Pech, sie haben all mein Mitleid! Man sollte meinen, diese Dinger sind inzwischen mit all ihrer neumodischen Elektronik sicherer geworden. Aber nun lassen sie mal sehen, was ihnen fehlt."

Selen reichte ihr die linke Hand und die Ärztin untersuchte sie auf Verletzungen, konnte aber nichts finden.

„Ich verstehe das nicht?", grübelte sie erstaunt. „Noch nicht einmal eine Schwellung am Knöchel."

Mit den leisen Worten „Es tut mir leid ...", drehte die Androidin ihre Hand und stach der Chirurgin mit einer kleinen ausgebildeten Spitze am Nagel ihres Zeigefingers Nervengift in ihren Handrücken. Bevor sie vor ihr zusammenbrach, schaute sie Selen fassungslos an.

Diese hasste sich in diesem Augenblick, war zutiefst entsetzt über sich selbst!

Sie wusste genau, dass sie etwas Unverzeihliches, abgrundtief Böses tat und schreckte dennoch nicht davor zurück.

Das Gift, dass sie ihr injiziert hatte würde sie natürlich nicht töten, sondern sie nur für geraume Zeit aus dem Verkehr ziehen.

Aber das machte es nicht besser.

Behutsam fing sie die korpulente Frau auf, bevor sie zu Boden stürzen konnte und trug sie in das Zimmer, aus dem sie gekommen war. Wie sie vermutet hatte, war es das Wohnzimmer. Vorsichtig platzierte sie ihr Opfer auf die Couch und sah sich im Raum um.

´Die Meisten würden ihr Heim wohl gemütlich und freundlich nennen´, überlegte Selen.

´Diese Frau scheint ein wirklich guter Mensch zu sein.´

Diese Feststellung war auch nicht gerade dazu geeignet, ihr Gewissen zu beruhigen.

In diesem Moment hörte sie plötzlich ein leises Geräusch links hinter sich, so als ob sich jemand anschlich.

Blitzschnell zog sie ihre Waffe und ging in Kampfhaltung, den Mark IV Laser im Anschlag.

„Miau."

Eine schlanke, silberschwarz gestreifte Katze sprang auf die Lehne der Couch, setzte sich auf ihre Hinterbeine, musterte den Eindringling indigniert, leckte eine ihrer Vorderpfoten ab und wedelte dabei zuckend mit der Schwanzspitze hin und her, um ihre Missgunst über die unerwartete Störung auszudrücken.

Erleichtert steckte Selen ihre Waffe wieder weg.

´Beinahe hätte ich diesen kleinen, pelzigen Vierbeiner gegrillt!´

Nicht auszudenken, wenn noch eine Person vor Ort gewesen wäre, dann hätte sie einen weiteren Unschuldigen in die ohnehin schon äußerst prekäre Situation hineingezogen.

Aber nun musste sie erst einmal den Uplink finden, damit sie ihr Vorhaben fortsetzen konnte. Hoffentlich bewahrte sie ihn nicht im Krankenhaus auf, denn das würde die ganze Situation erschweren und nur noch komplizierter machen.

Sie durchstreifte das Haus und wurde schließlich im Obergeschoss, im Arbeitszimmer der Professorin, fündig. Mit der silbernen Klammer bewaffnet, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

Erneut sinnierte die Androidin darüber nach, ob sie an dieser Stelle ihren Plan einfach abbrechen sollte. Noch war, bis auf den Überfall und die Betäubung, nichts wirklich Schlimmes passiert.

Schließlich löste sie ihr moralisches Dilemma mit purem, heuchlerischem, äußerst fadenscheinigem Zweckpragmatismus.

´Dies ist eine Ärztin und deren Aufgabe ist es, anderen zu helfen. Ich brauche dringend Hilfe!´, sagte sie sich.

´Und da sie momentan nicht dazu in der Lage ist, ihre Behandlung in vollem Bewusstsein durchzuführen, unterstütze ich sie dabei.´

Sie legte ihr die Klammer an, beugte sich zu ihrer Probandin hinunter und spülte ihr mit einem langen, feuchten Kuss die Nanobots in ihre Mundhöhle.

Da sie nun erneut mehr Rechenpower benötigte, versammelte sie alle sechs Drohnen und ließ sie einen Kreis um sie beide herum bilden. Dann aktivierte Selen die Vernetzung zwischen ihr selbst, den Drohnen, den Nanobots und dem zentralen Rechenzentrum an Bord des Raumschiffs. Anschließend schaltete sie, als die Bots ihre Einsatzbereitschaft signalisierten, den Uplink ein.

Dieses Mal verzichtete sie auf eine Komplettdarstellung im Cyberspace, da sie nur unnötige Rechenzeit kostete, sondern wies die Bots an, eine Direktverbindung zu ihrem Gedächtnis aufzubauen und eine mehr medizinische Darstellung ihres Gehirn zu generieren.

Mit Staunen betrachtete sie, nachdem sie in die Szenerie eingetaucht war, die unglaublich komplexe Ablagemethode des menschlichen Gehirns. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie überhaupt halbwegs verstehen konnte, welche Informationen wie, wo und zu welchem Zweck abgelegt wurde.

Dagegen waren die fortschrittlichsten Datenbanken der Argonen ein schlechter Witz.

Das Objekt vor dem sie stand ähnelte einem riesigen, bläulich leuchtenden Baum mit Abermillionen von halbtransparenten Ästen, durch die, wie bei ihren eigenen Leiterbahnen, ein stetiger Strom elektrischer Nervenimpulse floss. Ihr Größenspektrum reichte vom Durchmesser eines Fabrikschornsteins bis zur Dicke von Stecknadeln.

An jedem einzelnen dieser Äste hingen größere und kleinere, in allen Farben des Spektrums leuchtende Früchte, die vermutlich als Informationsspeicher dienten. Zwischen den Ästen spannten sich, in jede erdenkliche Richtung eine unermessliche Anzahl hauchdünner Fäden, die die Datenspeicher miteinander verbanden.

Dies mussten die im Laufe der Jahrzehnte verknüpften Synapsenverbindungen aus der Gesamtheit aller Lernprozesse sein, vermutete die Androidin. Sie bildeten die Grundlage für Intellekt, Psyche, Sozialverhalten und vielem mehr, was das Ego des Menschen und seine Interaktion mit der Umwelt ausmachte. Zwischen ihnen schossen überall Kaskaden von winzigen Funken hin und her.

Selen stellte erstaunt fest, dass ein lebendes, aktives menschliches Gehirn wunderschön war.

Ein solch grandioses, ästhetisches Wunderwerk der Natur hatte sie nicht erwartet. Und dabei war die Professorin noch im Zustand der Betäubung.

Wie mochte es hier erst zugehen, wenn sie wach und geistig aktiv war, sie sich einer komplexen Aufgabe widmete? Vermutlich war es ein gigantisches Feuerwerk, hell wie eine Supernova.

Voller Ehrfurcht betrachtete sie das riesige Gebilde vor ihr.

Je tiefer die Androidin in ihre Untersuchungen des menschlichen Zerebrums eintauchte, desto größer wurden ihre Augen. Mit stetig wachsendem Respekt stellte sie fest, dass vom Zeitpunkt des Heranwachsens im Mutterleib bis zum jetzigen Augenblick absolut alles aufgezeichnet worden war.

Jedes kleinste Detail.

Es gab kein „Vergessen" im menschlichen Gehirn, sondern nur eine hochkomplexe Signifikanzbewertung mit äußerst feinfühliger Skala, die je nach Situation festlegte, welche Informationen gerade benötigt wurden, welche unnötig oder minderwichtig waren und welche die aktuellen Entscheidungsprozesse behinderten.

Durch dieses System erreichten Menschen also diese wahnsinnig hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit und die ultrakurzen Reaktionszeiten, stellte Selen verblüfft fest. Das und ihre immer noch recht ausgeprägten Instinkte.

Sie selbst wusste immer alles, hatte stetigen Zugang zu allen Informationen, die sie eingelagert hatte. Natürlich selektierte sie auch nach Prozessrelevanz, aber im Vergleich sehr grob.

´War das vielleicht eine Last für sie, ohne dass sie es geahnt hatte? Ein Fluch? Eine Bürde? Wäre es eine befreiende Offenbarung für sie, wenn sie diesen Zustand änderte?´

Sie überlegte kurz, was mit ihr geschehen würde, falls sie diese Methode übernähme, kam aber zu keinem Ergebnis. So beschloss sie diese Gedanken später weiter zu verfolgen, da es noch einiges zu tun gab. Es lohnte sich aber bestimmt, in dieser Richtung zukünftig einige Experimente anzustellen.

Als sie sich schließlich genauer den Inhalten der Informationsfrüchte widmete, folgte die Ernüchterung.

Wie sie bereits festgestellt hatte, wurde von Geburt an alles im Gehirn aufgezeichnet, aber wie komplex und umfassend dieses „Alles" war, hatte sie nicht geahnt.

Jede einzelne Sinneswahrnehmung, zu jeder Zeit, gekoppelt an die zeitgleiche Gefühls- und Gedankenwelt, mit Situations- und Prägnanzanalysen wurde abgelegt!

Selen wurde schwindelig, als sie ausrechnete, wie viel Speicherkapazität alleine ein einziger Tag benötigte. Wie war es möglich, dass in diesem organischen Gebilde über einen so langen Zeitraum so viele Informationen gelagert werden konnten? Diese äußerst regen, intelligenten Lebewesen konnten heutzutage über hundert Jahre alt werden.

Spätestens nach einem Monat würden selbst Selens hoch entwickelte Memorybänke, die in der Lage waren enorme Mengen zu speichern, überlaufen, dessen war sie sich sicher.

Um das Leben eines einzigen Menschen komplett aufzuzeichnen, bedurfte es wahrscheinlich eines Speicherkristalls von der Größe eines kleinen Mondes.

Nun fühlte sie sich noch unterentwickelter, noch unvollkommener.

Andererseits -- was fingen die Menschen mit ihrem Intellekt und dem enormen Speichervolumen all die Jahre an?

Nahezu nichts.

Hauptsächlich drehte sich bei ihnen alles um komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen, ein Höchstmaß an Bequemlichkeit und Zufriedenheit oder/und der Anhäufung von Einfluss, Macht oder Geld. Nur wenige besaßen hehre Ideale, hatten sich Kunst, Literatur und Wissenschaft verschrieben und ihr erlangtes Wissen dem Kollektiv der Menschheit als Geschenk dargebracht. Zudem schöpften die Meisten ihr mögliches Potential noch nicht einmal aus und gaben sich mit einem einfachen, beschaulichen Leben zufrieden.

Das ausgeprägte Ego eines Menschen, basierend auf seinen Erlebnissen und den daraus entwickelten Synapsenkonstellationen, machte ihn zwar unzweifelhaft besonders und einzigartig, war aber gleichzeitig seine größte Schwachstelle, die ihn am Erreichen höherer Daseinsformen hinderte. Es behinderte die Evolution, da fast alles nur auf persönlichen Eigennutz ausgelegt war.

Das hatten einige der anderen Rassen in der Galaxis wesentlich besser hinbekommen.

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