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In der Nähe so fern

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Sie erreichten den Fuß von Aikos Beischlagtreppe. Sie lehnte ihren Rücken an das Geländer.

»Ach ja? Wohin würde die Reise gehen?«

»Ich weiß noch nicht.« Er grinste breit. Seine tiefliegenden Augen funkelten im Licht der Straßenlaterne. »Ich denke Japan.«

***

Von: Anders Vang
An: Aiko Tachibana
Datum: Di, 28. Aug 2010 um 23:58 Uhr
Betreff: (kein Betreff)

aiko
es tut mir leid was ich gesagt habe
ich möchte nicht dass du unsere gemeinsame zeit bedauerst
selbst wenn du nie wieder mit mir sprichst, ich hoffe dass die dinge zwischen uns nicht auf ewig zum schlechten stehen
die welt ist klein. vielleicht werde ich dich eines tages wiedersehen
es tut mir leid
lebe wohl
A

Sie überflog die E-Mail und klickte sofort auf »Löschen«, als ob sie geöffnet zu lassen ihr die Augen ausbrennen würde. Aiko war wutgeladen. Sie wusste genau, warum er ihr nur diese armselige Alibientschuldigung geschickt hatte. Sie fragte sich, ob er sich dessen bewusst war oder ob er zu gleichgültig war, als dass es ihn kümmerte.

»Aiko!«, rief ihre Mutter die Treppe herauf. »Möchtest du kein Frühstück?«

*

Hannah bückte sich, um ihre zahllosen Einkaufstaschen abzusetzen. Sie knitterten unüberhörbar, als sie auf den Boden trafen. Erschöpft von ihrem Stadtbummel warf sich Aiko in die Kissen der dickgepolsterten Couch. Die Mädchen entließen einen synchronisierten Seufzer. Sie sahen einander an und giggelten.

Das Wohnzimmer war durchflutet vom schönen Sonnenlicht des Nachmittags. Aiko zog einen nackten Fuß aus einer Sandale und schob ihn auf dem Teppich in ein warmes Fenster aus Licht.

»Hey, wo ist eigentlich dein Bruder?«, fragte sie.

Hannah wandte sich vom offenen Kühlschrank ab, um nach der Uhr zu spähen. »Er wird seine Rettungsschwimmerpflicht beim YMCA tun, denke ich.«

»Rettungsschwimmer? Ist er überhaupt alt genug?«

»Er hat sich förmlich drauf gestürzt, gleich nach seinem Achtzehnten im März. Er sagt, dass es der ›angenehmste‹ Job der Welt ist.«

»Das glaube ich.«

»Warum, willst du zu ihm gehen?« Hannah griente hinter einer frostigen Coladose zu Aiko. Aiko starrte sie ausdruckslos an.

»Du solltest zu ihm gehen«, sagte sie und nahm einen großzügigen Schluck von der süßen Brause. »Es würde ihn bestimmt richtig glücklich machen. Die Leute vom Empfangsdienst werden dich reinlassen, wenn du nach ihm fragst.«

»Tue ich vielleicht später.« Aiko stand auf und streckte ihre Arme und ihren Rücken. Nichts dabei, sich auf einen kleinen Flirt einzulassen.

»Ich würde ja kommen, aber meine Kurse beginnen in einer Stunde und enden nicht vor zehn«, stöhnte Hannah.

»Brutal.«

»Japp, du sagst es.«

Aiko gähnte und blickte sich träge um. »Hey, kann ich das Bad benutzen?«

*

Sie trocknete ihre Hände an dem kleinen Handtuch. Auf dem Weg zurück zur Treppe sah sie durch einen Türspalt in einen Raum, der Pauls Zimmer sein musste. Stille Neugierde schwemmte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf, als sie darauf zuschlich und die Tür gerade weit genug aufdrückte, um mit ihrem Körper hindurchzuschlüpfen.

Die Matratze seines ungemachten Bettes lag unmittelbar auf dem Boden, flankiert von niedrigen Stapeln aus Kleidungsstücken, Turnschuhen, Büchern, Videospielhüllen und DVDs. Außer einer hohen Kommode und einem nahezu leeren Schreibtisch gab es kein weiteres Mobiliar. Aiko bemerkte einen alten schwarzen Laptop auf dem Schreibtisch, aufgeklappt an die Wand gelehnt. Das Scharnier schien zerbrochen und entzweigegangen zu sein.

Abgesehen von seinen Habseligkeiten und dem Bett schien der Raum im Grunde unberührt, als ob er dort nur vorübergehend wohnen würde. Sie drehte sich um und sah die Rückseite von Pauls Tür, die dicht beklebt war mit Photographien von Freunden und Familie. Sie formten einen vielfarbigen Ozean aus Gesichtern, der einem Strudel gleich um eine großflächige, blaue Weltkarte wirbelte. In der oberen rechten Ecke, bemerkte sie, war eine alte Aufnahme befestigt, die sie selbst zeigte, im Rahmen von Hannahs Eingangstür und der Kamera schüchtern den Rücken weisend.

*

Sie sah Paul durch das Glas, das die Schwimmterrasse vom Flur auf der unteren Ebene des YMCA-Gebäudes trennte. Er schien entspannt in einem Hochstuhl zu sitzen, gekleidet in ein orangenes Muskelhemd und rote Badehosen. Ab und zu schüttelte er seine Füße aus und tappte die Flip-Flops gegen seine Sohlen. Seine Hände ruhten auf einer langen roten Rettungsboje, die über seinen Schoß drapiert war. Aiko dachte, sie würde ihn dabei überraschen, wie er Löcher in die Luft starrte, aber stattdessen suchte er in aller Ruhe aufmerksam die Schwimmbahnen ab.

Paul wandte den Kopf, um in ihre Richtung zu blicken, gleich als sie die Tür zum Schwimmbecken aufdrückte. Er sprang aus dem hohen Stuhl und hechtete auf sie zu, sein Gesicht erfüllt von freudvoller Überraschung.

»Aiko. Was ist los?«

»Nicht viel, ich wollte mich nur selbst davon überzeugen, dass du Rettungsschwimmer bist, wie Hannah sagte.«

»Ein Hammerjob«, strahlte er.

»Auf jeden Fall machst du bald los, richtig?«

»Joa, in zehn Minuten.«

»Hannahs Kurse ziehen sich bis in den späten Abend heute. Sie sagte, eure Eltern würden ebenfalls bis spätabends in der Stadt arbeiten. Denkst du, du könntest ein Abendessen vertragen, wenn du hier fertig bist?«

Paul grinste, vergebens versuchend das Grinsen sein zu lassen.

*

»Bist du hier schon mal gewesen?«, fragte Aiko.

»Ein paar Mal, allerdings nicht in letzter Zeit.«

»Irgendwas, das du empfehlen würdest?«

»Ähm …« Paul sichtete die Karte sorgfältig von oben bis unten. »Ich denke, das Teriyaki war ziemlich gut.«

»Okay, dann lass uns das nehmen«, sagte sie. »Würde es dich stören, wenn ich dazu etwas Sake bestelle?«

Er blickte auf und schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Du solltest nehmen, was immer du willst.«

Ihre Bestellung kam Minuten später. Es verlangte Paul alles ab, sein Essen nicht auf der Stelle zu verschlingen.

»Willst du was hiervon probieren?«, fragte Aiko, die kleine Sake-Flasche in der Hand. Sie deutete auf die beiden Becher, die ihnen gereicht worden waren. Sie dachte, es sei nur höflich zu fragen.

Er fasste den kleinen Becher auf dem Tisch ins Auge. »Klar.«

Lächelnd kippte Aiko den Sake in die fingerhutgroßen Gefäße. Beide nahmen sich eines und prosteten einander zu.

»Kanpai«, sagte sie freudig.

Sie stürzten den Sake herunter. Aiko sog ihn auf und atmete in einem langen, zufriedenen Stoß aus. Paul schluckte, dann holte er tief Luft.

»Was war das, ein japanischer Trinkspruch?«, sagte er, indes Tränen in die Ecken seiner Augen quollen.

»Ja. Wie war's?«

Er wischte sich die Tränen ab und seufzte. »Ehrlich gesagt, nicht so schlimm, wie ich dachte.«

»Dein erstes Mal?«

»Nee«, zuckte er die Achseln. »Ich hatte früher schon mal ein oder zwei Bier.«

»Genug, um zu wissen, dass du's hasst, was?«

»Das hier, denke ich, ist okay«, sagte er verhalten nickend.

»Dann trinke noch einen.« Sie schenkte ihm schnell einen weiteren Becher ein.

»Versuchst du mich abzufüllen?« Er lachte.

»Oh, ich denke, dazu wären mehr als ein paar Becher nötig, um ehrlich zu sein.«

»Wahrscheinlich.« Er hob den Becher an seine Lippen und vertilgte den Sake.

Am Ende des Essens war Paul zu angetrunken, um stracks nach Hause zu gehen.

»Meine Eltern werden mich hoppnehmen, das ist sicher«, sagte er. Er nahm seinen Fuß vom Basketball unter dem Tisch und holte ihn hervor, sodass Aiko ihn sah. »Vielleicht werfen wir ein paar Körbe und verbrennen alles?«

»Klar«, sagte sie, vom Alkohol schwerlich beeindruckt. »Aber ich muss gestehen, ich bin keine große Athletin.«

»Dann werden wir vielleicht gleichauf sein.« Paul betrachtete den auf seiner Fingerspitze herumwirbelnden Ball.

*

»Ich fasse nicht, dass eine halbe Flasche ausgereicht hat«, sagte sie, ihm den Ball zuwerfend. »Ich hatte genauso viel wie du.«

Sie standen wenige Yards vom Korb entfernt im Zentrum eines baumbestandenen kleinen Parks. Gelbe und weiße Straßenlichter linsten durch das dichte Laub.

»Man lernt nie aus«, sagte Paul unbekümmert. Er nahm einen Wurf und verwarf. Der Ball fiel mit einem gummiweichen ›Bing‹ zu Boden und sprang weg. Er joggte am Korb vorbei, um ihn zurückzuholen.

Aiko war suspekt, wie das »alles verbrennen« würde, wie er gesagt hatte. Jedenfalls war er in seinem Element und unbeschwert. Sie beabsichtigte nicht, ihn zu einem Eins-gegen-eins herauszufordern. Das wäre eine wahre Schnapsidee. Sie stützte ihre Hände auf die Rückseite ihrer Hüften und studierte ihn, wie er sich den Weg zu ihr zurückbahnte, ausdrucklos den Ball dribbelnd. Abgesehen von seinem Gesicht konnte Paul schwerlich als gerade Achtzehnjähriger durchgehen. Jungenhafte Züge fanden sich noch immer an seinem von einem kleinen Grübchen eingekerbten Kinn, den Seiten seiner Nase, den markanten Winkeln seiner Kinnlinie … den geröteten, hohen Rundungen seines Jochbeins. Mit seinen achtzehn Jahren war er jung, aber schon umwerfend gutaussehend auf eine unauffällig adrette, amerikanische Weise. Er war ständig in die schlichten Schnitte und Farben eines athletischen Städters im Teenageralter gekleidet. Was für ein scharfer Kontrast zu Anders' engsitzender Kleidung in Day-Glo-Farben. Aiko fuhr unwillkürlich zusammen – der Gedanke versetzte ihr einen Stich.

Paul machte einen sachten Sprung für einen weiteren Wurf – diesmal aus größerer Entfernung, und verwandelte.

»Ich denke, du solltest vielleicht etwas Wasser zu dir nehmen«, bemerkte sie, den Trinkbrunnenstein in einer schattigen Ecke des Parks erinnernd.

»Gute Idee.« Er seufzte leise und stapfte hinter der vorangehenden Aiko her.

»Bei dir alles okay?«, fragte sie, zu ihm zurückblickend.

»Joa, mir geht's gut.« Seine niedergeschlagenen Augen schienen verdüstert. Er schüttelte langsam den Kopf, sichtlich betreten über den Kontrollverlust, der mit dem Betrunkensein einherging.

Sie hielten beim Brunnen, wo Paul sich über den aufwärtssprudelnden Wasserbogen beugte. Aiko setzte sich auf eine nahe Bank und nahm einen Lungenzug klarer Nachtluft.

»Es wird ein wenig kühler «, sagte sie gedankenverloren.

Einige Augenblicke später hatte er seinen Durst nach Wasser gestillt und setzte sich zu ihr auf die Bank, die Feuchtigkeit mit der Hand von seinen Lippen wischend. Ein tiefergelegter Wagen, aus dem laute Reggaeton-Musik wummerte, trieb am Park vorbei, zeitweilig die Stille übertönend. Er bog an einer Ecke ab und war plötzlich weit weg.

»Was für Musik hörst du so?«, fragte Paul sie, als ob er dazu aufgefordert worden wäre.

»Alles Mögliche«, zuckte Aiko mit den Schultern, außerstande sich auf irgendein Genre im Besonderen festzulegen. »Du?«

»In letzter Zeit, Reggae.« Er grinste, sein Blick auf ihrem Gesicht verweilend. »– it's nice to be important, but more important to be nice –«

Aiko konnte nicht anders als zu grinsen.

»Whoa, whoa, whoa, whooaa –«, fuhr Paul fort, sich offenbar ausgezeichnet amüsierend.

»Du bist viel zu betrunken«, witzelte sie. »Ich werde dir nie wieder Sake spendieren.«

»Dann werde ich wohl nach Japan fliegen müssen, um mir selber welchen zu besorgen.«

»Sicher, dass du nicht wegen den vielen kleinen japanischen Mädchen gehst?« Aiko überraschte sich selber mit ihrer eigenen Frage. Für ihn musste sie aus dem Nichts kommen.

»Nee«, sagte er, sich zurücklehnend, »ich mag für gewöhnlich gar keine asiatischen Mädchen.«

»Wirklich.«

»Wirklich.«

Sie studierten einander für einige ausgedehnte Augenblicke. Aiko schaute zur Seite. Wo sie saßen, im Dämmerlicht, konnte sie nicht sehen, wie Paul sich zu ihr lehnte, um ihr einen Kuss auf den Mundwinkel zu pressen. Er war sacht und zaghaft, erhitzt durch seine plötzlich schwere Atmung.

»Oh.« Sie formte den Laut still mit ihrem Mund, für den Moment erstarrt.

»Entschuldige«, sagte er, seine Stimme ein bloßes Wispern. Pauls Gesicht war ihr noch immer nah, suchte in ihren Augen nach einer eindeutigeren Antwort.

Aiko gab keinen Laut von sich, aber starrte auf seine Lippen, ahmte sie nach im Öffnen ihrer eigenen, ihre Augen bleiern und feucht. Es war das Signal, das er brauchte. Paul neigte sich zum zweiten Mal zu ihr, dieses Mal ihren Mund in einem selbstsichereren Kuss kaschend, sein Atem heiß erfüllt vom süßen Duft des Sake. Er pochte an ihre Lippen mit der Samtspitze seiner Zunge, sie ab und an behutsam zwickend mit seinen Zähnen. Ein kaum hörbares Grochsen entfloh tief aus ihrer Kehle. Sie erwiderte den Kuss mit einer langsam wachsenden Gier. Uhrwerkpräzise fing ein dumpfiges Ziehen an, sich auszubreiten und in ihrem Bauch zu sammeln. Aikos Knie schlugen eng zusammen, als Paul eine breite, warme Hand auf die Kurve ihrer Taille legte und der zusätzliche Kontakt ihr einen köstlichen Schauer abwärts durch das Kreuz jagte.

Sie unterbrachen den Kuss für einige Sekunden, um Atem zu holen. Pauls Augen waren geschlossen, er schnaubte leicht. Als er sie wieder öffnete, waren sie schwarz vor Wollust, seine Augenbrauen stark verkrampft. Er zog sie sacht an sich heran, die Distanz zwischen ihnen schließend. Aiko klammerte sich an sein Hemd, um das Gleichgewicht zu halten, und fühlte sein Herz mit doppelter Geschwindigkeit schlagen. Ein feiner Glanz aus Schweiß überzog seinen Nacken und seine Stirn. Sie spürte das Verhärten ihrer Brustwarzen zu feinfühligen Spitzen.

»Paul.« Ihre Stimme war kaum hörbar, leise bebend. Ungeduldig neigt er den Kopf, bereit, sie wieder zu küssen. Sein Mund fand die zarte, empfindliche Haut ihres Nackens, ein kleines Stück unter ihrem Ohrläppchen.

»Paul«, wiederholte sie. »Du musst nach Hause gehen.«

Er wich zurück, um ihre Augen zu studieren, unsicher, was er sagen sollte.

»Unsere Eltern fragen sich bestimmt schon, wo wir bleiben«, sagte sie bedrückt. Die Erwähnung der Eltern erinnerte sie beide an die Aussichtslosigkeit der Situation an diesem Abend. Keiner von beiden hatte seine eigene Wohnung.

»Okay.«

Sie lösten widerwillig ihre Umarmung, noch leise keuchend von ihrer Begegnung.

***

Providence
25. Sept

Ich hasse mehr als alles andere, dass A mich belogen hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines dieser idiotischen Mädchen sein würde, die dem Scheißgelaber eines Kerls Glauben schenken, wenn er sagt, er wolle den Rest seines Lebens mit einem verbringen. Zwei Jahre meines Lebens: verloren. Die Tatsache, dass ich über die Trennung nicht mal weinen kann, ist eine Beschämung. Das Ganze ist völlig sinnlos gewesen.

Aiko hielt inne, schrieb dann weiter.

Mein einziger Trost ist die Tatsache, dass ich A genauso benutzte, wie er mich benutzte. Ich sorgte dafür, dass er es wusste, und er tut's. Ich bin sicher, er weiß auch, dass ich seine Arbeiten hasse. Er weiß, er war nur gut für den Fick.

Sie schlug das Tagebuch zu und warf es auf den Nachttisch, als wäre sie von heftigem Ekel erfasst.

Zwei Wochen waren seit ihrer Rückkehr ins Wohnheim in Providence vergangen. Sie hasste sich selbst dafür, die Einträge auf diese Weise fortzusetzen, aber sie nagten an ihrer Hirnmasse, wenn sie sie nicht herausließ. Vielleicht war das ihre Art der Trauer, dachte sie. Jeder Buchstabe war eine Träne, die zu vergießen sie nicht über sich bringen konnte, aber ziemlich leicht zu Papier zu bringen war.

Aiko betrachtete ihren kleinen Schlafraum, erleichtert dessen einziger Bewohner zu sein. Sie konnte ihre Zimmergenossin in der Küche das Frühstück vorbereiten hören.

Es musste sein. Sie wappnete sich und stand auf, um ihre Sachen für den Unterricht einzusammeln. Ihr Telephon surrte. Sie schob es auf und wurde mit einer Nachricht von Hannah konfrontiert.

Paul ist von zu Hause weg, heute Morgen, ich vermute, um dich zu finden. Ruf mich an, falls du ihn siehst.

Sie starrte ausdruckslos auf den Bildschirm. Die Ereignisse an jenem Abend vor drei Wochen fluteten wieder über sie mit voller Wucht. Sie setzte sich zurück aufs Bett, das Telephon in der Hand gegen ihre Brust gepresst. Ein unbegreifliches Bündnis aus Freude und Entsetzen fiel über ihre Gedanken her. Ich bin nicht bereit. Sie seufzte. Ich kann das nicht!

Wie aufs Stichwort regte sich ihr Telephon erneut, laut klingelnd an ihrer Brust. Sie zitterte vor Schreck.

»… Paul?«

»Jepp, der bin ich!« Seine unbeschwerte Stimme brachte sie völlig durcheinander.

»Wo – wo bist du?«

»In einem Bus, der Providence ansteuert.«

Sie fühlte sich benommen. »Wann wirst du hier sein?«

»Ähm, so ungefähr in fünfzehn Minuten? Ich denke, wir steigen aus an der – 50 Exchange Terrace.«

»Okay, bleibe genau dort, wenn du aussteigst, und ich komme dich holen.« Aikos Herz schlug wild in ihrer Brust.

»Ist okay, sage mir einfach, welchen Weg ich einschlagen soll, und wir können uns auf halber Strecke treffen«, versicherte er ihr.

»Hm … gehe die Washingtoner in Richtung Fluss und ich komme und treffe dich dort.«

»Alles klar, bis gleich.« Er legte auf.

*

Sie trafen sich auf der Brücke in der Nähe der Uferseite, auf der sich ihre Fakultät befand. Er trug dunkelblaue Jeans und ein graues T-Hemd, ein kleiner blauer Seesack hing ihm tief über die Schulter. Er hastete zu ihr, sowie er den ersten Blick auf sie erhaschte. Sie kamen einander bis auf einen Fuß weit nahe, doch in diesem Augenblick konnten sie nicht entscheiden, ob sie sich umarmen sollten. Sie umarmten sich trotzdem. Aiko atmete seinen Duft – er war frisch und flott, und zutiefst berauschend. Behutsam lösten sie sich.

»Wie ist's dir ergangen?« Paul atmete aufgeregt, die Hände tief in seine Gesäßtaschen gegraben.

»Gut.« Ihr gelang ein schwaches Lächeln.

»Das klingt nicht sehr überzeugend«, sagte er, die Augenbrauen hochgezogen. Sie gingen in Richtung ihrer Fakultät.

»Paul, weiß deine Familie, dass du hier bist?«, platzte Aiko heraus.

Beinahe hätte er gestöhnt. »Nein. Aber ich habe ihnen erzählt, dass ich für ein paar Tage weggehen und dass ich zurückkehren werde.«

»Paul – sie werden krank vor Sorge um dich sein. Du solltest sie zumindest anrufen, wirklich, und ihnen sagen, dass du hier bist.«

»Werde ich, werde ich, keine Sorge.«

»Wirklich, Paul, dann würde ich mich viel besser fühlen.«

»Schön«, jammerte er, als er sein Telephon hervorholte und einen kurzen Text tippte. »Da. Ich hab's meiner Schwester gesagt. Zufrieden?«

»Danke«, murmelte Aiko kopfschüttelnd.

»Bist du sicher, dass du okay bist?«, fragte er, die Anspannung legte sich auf seine Stimme.

»Mir geht's gut«, sagte sie. »Nur lass uns dich zuerst ins Wohnheim bringen, damit ich meine Kurse besuchen kann. Ich werde zu spät kommen.«

*

Paul setzte seinen Seesack ans Fußende von Aikos Bett. »Ich meine, es ist doch okay für dich, wenn ich eine Weile hier bleibe, oder?«

»Klar, ist kein Problem. Ich wollte nur sichergehen, dass deine Eltern wissen, wo du bist.« Aiko flitzte durch den Raum und sammelte Skizzen und Abzüge ein und stopfte sie in ihren Rucksack. »Weißt du, wie lange du bleiben wirst?«

Er lächelte matt. »Ich weiß nicht. Ich habe nicht so weit vorausgedacht.«

Ein kleiner Sorgenknoten zurrte sich in ihrer Brust fest. Sie blieb stehen, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Paul, wir wissen beide, dass deine Eltern bereits aufgebracht sind, weil du das College versäumst.«

Sein Kiefer spannte sich an, stumm für einen langen Augenblick.

»Nun, deshalb bin ich hergekommen«, sagte er ruhig. »Ich dachte mir, ich könnte herkommen und ein paar Dinge ins Reine bringen.«

»Also dann, gut«, sagte Aiko. »Wenn ich für ein paar Kursstunden verschwinde, wirst du keine Schwierigkeiten machen, solange ich weg bin?«

Paul zeigte ein äußerst verführerisches Grinsen. »Herrgott, ich bin achtzehn. Ich kann auf mich aufpassen.«