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Merlins Kinder 05: Langeweile

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Aber nichts über Leon, keine Hinweise, was ihm geschehen sein konnte.

Und natürlich auch nichts darüber, was die Ursache seiner Blockade war. Ich raufte mir die Haare. Also gut, Mädchen. Stell deine sozialen Skills auf die Probe. Vier Semester Psychologie müssen doch zu irgendetwas gut sein.

4

Leon

Nach der zweiten Vorlesung bei Patrizia lag ich wieder im Gras. Wie vorhergesagt nicht ganz so beeindruckend und dafür intensiv.

Die Vereinigung der damals vier bekannten Naturkräfte war im zwanzigsten Jahrhundert eine Herausforderung an theoretische Physiker gewesen. Man wollte eine einzige "Weltformel" finden, die die starke und schwache Kernkraft, die elektromagnetische Kraft und die Gravitation erklärte.

Was an der Gravitation gescheitert war. In der Quantenwelt schien sie gar nicht zu existieren. Heute wussten wir, dass das an der dunklen Materie lag. Unmengen von — für die Quantenwelt — extrem schweren Partikeln, die die Raumzeit sozusagen glattzogen wie ein Spannbetttuch.

Erst im Jahr 2019 wurde ein wissenschaftliches Papier veröffentlicht, das alle fünf Kräfte inklusive der magischen Wechselwirkung zusammenfasste. Eine einzige elegante und — für die Verhältnisse in der theoretischen Physik simple — Formel. Jeder Physiker, der sie sah, vergrub sein Gesicht vor Scham in den Händen. Sie war so einfach, dass ein Kind in der Lage gewesen wäre, sie zu verstehen.

Und natürlich mindestens einen Nobelpreis wert. Doch der Autor war anonym. In einem Nachwort hatte er geschrieben, dass diese Formel der ganzen Welt gehören sollte und er nicht die Lorbeeren dafür einstecken wollte.

Was jedoch — zumindest für mich — am verblüffendsten war, war die Tatsache, dass man nur die richtigen Variablen in die Formel einsetzen musste, um jeden beliebigen Zauber zu vollführen. Patrizia hatte auf Zuruf einen kleinen Feuerball in ihrer Hand erscheinen lassen. "Plasma", hatte sie gesagt, "ist ganz einfach. Elektronen abziehen und zurück bleibt ionisierte Luft. Achtzig Prozent Stickstoff — grüne Farbe wie in den Polarlichtern. Das hier —" Sie bewegte ihre andere Hand mitten durch den Gasball. "—ist kaltes Leuchten. Dazu braucht man aber eine perfekte Kontrolle. In der Regel wird auch eine Menge Hitze erzeugt."

"Und", hörte ich ihre Stimme, "starrst du mal wieder in den Himmel."

"Achtzig Prozent Stickstoff", sagte ich nachdenklich. "Das wäre eine Menge Dünger für die Landwirtschaft."

"Ammoniak wird zu Ammonium und das im Boden zu Nitrat. Ja. Eine ganz einfache Reaktion auch ohne Magie."

Ich schlug die Augen auf. "Ich bin ganz erschlagen von all dem Neuen."

"Bleib ruhig liegen. Es wird schon keiner auf dich—"

"Patty!", rief eine Frauenstimme.

Patrizia blickte hoch. Ihre Augen strahlten. "Euphoria!" Sie stand auf. "Wie geht es dir."

Eine andere junge Frau kam herbeigerannt und warf sich in Patrizias Arme. Sie sah seltsam aus — ihre Augen waren komplett schwarz und schimmerten silbrig. War das die neue Mode bei Kontaktlinsen?

Die beiden umarmten und küssten sich. Sie — küssten sich. Es war, als wollten sie sich gegenseitig verschlingen. Ihre Hände streichelten über den Rücken der jeweils anderen und ihre Unterkörper drückten sich gegeneinander.

Nun ja. Ich komme zwar ziemlich genau vom Ende der Welt, doch Paris war ja schließlich die Welthauptstadt der Liebe. Lesbische Pärchen gab es dort wie Sand am Meer. Ich lächelte in mich hinein.

Im ersten Semester war ich natürlich eine Attraktion gewesen. Ich war schwarz; die Narben in meinem Gesicht machten mich für die Mädchen in meinem Alter eher noch interessanter — was ich mit ständigen Kopfschmerzen bezahlte.

Erst als ich es geschafft hatte, jede meiner Kommilitoninnen abblitzen zu lassen, hatte ich Ruhe. Damit änderte sich allerdings nur mein Status von "der sexy schwarze Kerl" zu "der sexy schwarze Kerl, der keine Mädchen mag" und von da unweigerlich zu "der sexy schwarze Kerl, der ganz bestimmt schwul ist." Was ich natürlich nicht war, doch im zweiten Semester versuchte eine Menge Jungs bei mir zu landen.

Meine Rettung waren Marie und Jeannette. Die beiden waren fest zusammen und machten es sich zur Aufgabe, mich vor zudringlichen Kerlen — und später auch wieder vor Mädchen — in Schutz zu nehmen.

Ich musste mir zwar immer wieder vorsagen, dass sie lesbisch waren, dass ich keinerlei romantisches Interesse an ihnen hatte, sondern dass sie einfach nur gute Kameraden waren.

Doch irgendwann hatte es mein Unterbewusstsein geschnallt und meine Migräneanfälle wurden deutlich weniger.

Dass die beiden am Ende des letzten Semesters zusammen nach Amerika gingen, war für mich ein weiterer Grund, die Uni zu wechseln.

Hier war ich glücklicherweise bisher von Annäherungsversuchen verschont geblieben. Warum Patrizia nichts versucht hatte, war mir ja jetzt klar.

5

Patrizia

Die ganze Szene war natürlich für ein Publikum aus genau einer Person inszeniert, aber meine Beziehung zu Euphoria durchaus echt.

Wir hatten uns vor einem Jahr in einer Lesbenbar getroffen. Nein, ich bin nicht lesbisch, aber ich wollte damals meine ersten Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht sammeln.

Ich hatte mich an die Bar gesetzt, von der aus ich einen guten Überblick über das Angebot hatte. Die meisten Frauen warfen mir einen kurzen Blick zu und beschäftigten sich dann mit jemand anders.

Doch Euphoria kam zielstrebig auf mich zu, die Nase hoch erhoben und tief atmend. Dann blieb sie vor mir stehen. "Wow!", keuchte sie. "Du bist ein Mensch?"

"Patrizia", sagte ich. "Was hast du erwartet?"

"Ich — Sorry." Sie streckte ihre Hand in meine Richtung. "Euphoria", sagte sie. "Ich bin ein Vampir."

Ich ergriff ihre Hand. "Freut mich, dich kennenzulernen. Möchtest du mein Blut?"

Sie hob unsere verschränkten Hände zu ihrer Nase. "Unbedingt", sagte sie. "Du riechst sooo gut."

"Äh —" Ich hatte das mit dem Vampir für einen Witz gehalten, doch sie schien das tatsächlich ernst zu nehmen. Also verstieß ich gegen die ungeschriebene Hexen-Etikette und scannte sie mit meinem sechsten Sinn. Sie war tatsächlich ein magisches Wesen. "Können wir erst einmal etwas zusammen trinken?", fragte ich. "Etwas Nicht-Blutiges oder trinkst du nur Blut?"

Sie grinste mich an. Dann schüttelte sie den Kopf. "Blut fällt bei mir nicht in die Kategorie Grundnahrungsmittel. Ich bin eigentlich gar kein Vampir, sondern eine Lamia, aber das sagt den meisten Menschen nichts. Ich brauche das nur tröpfchenweise. Meine Familie praktiziert Blutmagie. Oma stellt Horoskope, Mama braut Heiltränke." Sie setzte sich auf den benachbarten Barhocker.

"Und du?"

"Ich weiß noch nicht recht. Ich hab derzeit einen Kurs in Symbologie belegt. Runen, Hieroglyphen und so weiter. Außerdem lerne ich kochen."

Ich musste lachen. "Blutwurst?"

Sie rümpfte die Nase. "Kann ich nicht ausstehen. Nee, ganz normale internationale Küche. Vielleicht mache ich ein Restaurant auf, wo es zum Nachtisch Sex mit einem Vampir gibt."

"Bist du lesbisch? Ich meine —"

"Nicht festgelegt. Ich komme hauptsächlich hierher, weil man interessante Frauen treffen kann und Ruhe vor zudringlichen Kerlen hat. Und du?"

"Ditto. Ich will nur mal die Lage erkunden."

"Noch Jungfrau?"

Ich nickte. "Technisch gesehen nicht mehr, aber ich hab' noch keinen Kerl getroffen, den ich an mich ranlassen wollte."

"Sehr vernünftig. Ich hatte mal einen, aber —"

"Ja?"

Sie trank einen großen Schluck von ihrem Cocktail. "Mit Kerlen rumzumachen, ist für mich nicht ganz ungefährlich. Ich habe normalerweise keine Vampirzähne —" Sie hob mit zwei Fingern ihre Oberlippe an. "— aber, wenn ich so richtig in Fahrt bin—"

"Dann wirst du zum Tier?"

Sie lachte auf. "Gut ausgedrückt. Und du? Du riechst wirklich gut."

"Ich bin ein Viertel Mensch, ein Viertel Hexe, ein Viertel Magier und ein Viertel irische Göttin."

Sie leckte sich demonstrativ die Lippen. "Wusste ich's doch. Ein wirklich exquisiter Cocktail."

Es dauerte nicht lange, bis wir zusammen im Bett landeten, doch sie kriegte mein Blut erst, nachdem der versammelte Mütterrat im Hause Weiß ihr Plazet gegeben hatten.

Aber für einige Zeit waren wir ein echtes Liebespaar. Bis wir auf Nils trafen. Wir schlenderten eines Abends Hand in Hand durch das Kneipenviertel und diskutierten darüber, ob wir uns noch eine Frau für die Nacht anlachen sollten, als eine Gruppe junger Männer uns fast überrannt hätte, die grölend aus einer Kneipe kam.

"Hey", brüllte einer. "Tussies!"

Ich runzelte die Stirn.

Ein anderer legte den Kopf schief. "Hab ich euch nicht gestern aus der Lesbenbar kommen sehen?"

"Ja und?", fauchte ihn Euphoria an.

"Wollt ihr 'mal 'nen richtigen Kerl?"

Ich wollte ihm gerade sagen, wo genau er seinen richtigen Kerl hinstecken konnte, als es über ihm dunkel wurde. Ein tiefes, leises Grollen ertönte, und der Kerl riss seinen Kopf herum.

Der junge Mann, der plötzlich hinter ihm stand, sah gar nicht so bedrohlich aus. Er war groß, sicher über zwei Meter, aber blond und lächelte eher sonnig als dunkel.

Doch die Kerle schienen ihn zu kennen. Richtiger Kerl zog seine Schultern ein und schob sich seitwärts aus seiner Reichweite.

Ich runzelte die Stirn und blickte zu Euphoria. Sie hatte mal wieder die Nase gehoben und schnüffelte. Dann zwinkerte sie mir zu und leckte sich über die Lippen.

"Hallo", sagte der junge Mann mit überraschend tiefer Stimme. "Ich bin Nils."

"Du bist ein Varg", platzte Euphoria heraus. Ich griff nach ihrer Schulter und hielt sie zurück.

Nils hob verblüfft die Augenbrauen.

Ich deutete mit dem Daumen. "Euphoria, Lamia. Patrizia, Hexe."

"Oh", sagte er und musterte Euphoria. "Eine Lamia. Sehr interessant." Seine Augen schienen sie verschlingen zu wollen.

"Was ist ein Varg?", fragte ich.

"Werwolf", hauchte Euphoria. "Sooo stark, sooo gutaussehend und sooo ein männlicher Duft."

"Nun mach mal halblang", sagte ich. "Das ist ja echt peinlich."

"Lass nur", sagte Nils, sein Blick starr auf meine Lamia-Freundin gerichtet. "Darf ich euch zu einem Bier einladen?"

Womit ich meiner festen Freundin verlustig ging, aber dafür noch in derselben Nacht meinen ersten Kerl hatte und meinen ersten Dreier. Nein, die Schwänze von Werwölfen sind nicht größer als der Durchschnitt. Aber Nils konnte mit seinem echt gut umgehen. Ich werde ihn immer als meinen ersten Mann — äh, Werwolf — in wohlwollender Erinnerung behalten.

Dummerweise — für mich — waren Werwölfe die Ausnahme von der Regel, dass Lamien in der Lage waren, ihre Sexpartner im Blutrausch zu töten. Es war kein wirklich schöner Anblick, wenn sie ihre Eckzähne ausfuhr und blutige Striemen auf seinem auch ohne Verwandlung haarigen Körper hinterließ. Aber ihm machte es ebenso viel Spaß wie ihr, und Werwölfe heilen sehr schnell.

Die beiden fackelten dann auch nicht lange und zogen zusammen. Ich traf sie noch gelegentlich, aber, wie ich schon Morgana gesagt hatte: nichts Festes.

6

Leon

Mit eigenen Augen zu sehen, dass Patrizia lesbisch war, ließ mir also einen Stein — oder besser ein ganzes Gebirge — vom Herzen fallen. Eine Woche lang hatte ich immer wieder an sie gedacht — und jedes Mal einen Migräneanfall bekommen.

Ich legte meine Hand auf das Medaillon unter meinem T-Shirt. Jetzt würde es wohl endlich Ruhe geben. "Kameraden", murmelte ich. "Gute Freunde. Nicht mehr."

Sie stand immer noch vor mir und blickte mich seltsam an.

"Ist was?", fragte ich.

"Lust auf ein Eis? Dahinten gibt es das beste in der ganzen Stadt. Ich lade dich ein."

"Ich — äh —"

"Ich weiß, dass du erst wieder um drei eine Vorlesung hast. Also?"

Freunde, Kameraden, nicht mehr.

*

"Ich weiß ja", sagte ich, "dass man in der Freizeit nicht über die Uni reden soll —"

"Tu dir keinen Zwang an." Sie schaufelte das Eis aus dem Riesenbecher in einem Höllentempo in ihrem Mund. "Kuck nicht so. Magie kostet Kalorien."

Ich holte Luft und konzentrierte mich. "Also Stephen Hawking hat im Jahr 1995 die dunkle Materie entdeckt."

"Über sechzig Jahre, nachdem Oort sie postuliert hat. Ja. Und er hat 1997 sowohl den Physik-Nobelpreis dafür bekommen als auch den für Magie."

"Aber den Detektor, den er dafür konstruiert hat, musste er mit seinem Geist und seinen eigenen magischen Fähigkeiten steuern. Also sollte doch die Entdeckung subjektiv sein und wissenschaftlich nicht gelten."

"Jeder Magier kann seine Experimente wiederholen. Und es kommt immer dasselbe heraus. Wissenschaftlich gesehen ist das völlig akzeptabel."

"Aber es hat bis 2019 gedauert, dass jemand die sogenannte Weltformel so um die magischen Teilchen erweitert hat, so dass alle fünf Grundkräfte darin enthalten sind. Das, was wir heute besprochen haben."

Sie grinste verschmitzt. "Ja?"

"Ich habe — etwas verspätet — im Vorlesungsverzeichnis nachgesehen und festgestellt, dass dein Nachname Wegner ist."

"Seit meiner Geburt."

"Patrizia Wegner. Und das wissenschaftliche Papier zur neuen Weltformel — das durchaus einen oder zwei Nobelpreise bringen könnte — wurde von einem anonymen Wissenschaftler mit den Initialen P.W. geschrieben."

"Ich höre keine Frage."

"Der Doktorvater, der die Zahlen überprüft hat, ist Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Wegner vom Merlin-Institut für angewandte Quantenmagie."

"Mein Urgroßonkel väterlicherseits."

"DU hast das Papier geschrieben."

"Immer noch keine Frage."

"Warum anonym?"

Sie zuckte die Schultern. "Ich war elf damals. Ich hatte gerade mein Faible für Quantenmagie entdeckt. Und als Onkel Franz-Josef mich mal ins Institut einlud, habe ich mich verdrückt und den DM-Detektor am Institut ausprobiert. Mama hat mir danach einen Monat Hausarrest verpasst — die Gelegenheit schlechthin, meine Beobachtungen in eine schöne lange Formel zu fassen."

"Du bist gut!"

"Ich bin die Beste!" Mir fiel das Gesicht herunter. "Nein, wirklich. Ich bin objektiv gesehen die mit Abstand beste Magierin in Deutschland. Schau mal. Meine Mutter ist eine Tochter Morganas."

"Sagt mir nichts."

"Artus-Sage? Morgana, die schwarze Hexe? Morgan le Fey?"

"Jaaa?"

"Sie lebt wirklich. Immer noch. Und ist mit Myrddin Emris verheiratet, den man besser unter dem Namen Merlin kennt."

Ich keuchte nur noch.

"Also, meine Mutter stammt in ungebrochen weiblicher Linie von Morgana und Merlin ab. Unsere Familien-Genetikerin hat das überprüft. Papa ist ein 'Sohn Merlins'. Ungebrochene männliche Linie ebenfalls von den beiden Supermagiern des fünften Jahrhunderts bis heute."

"O-kay."

"Und dann ist da noch Éabha Ní Ceridwen. Irische Göttin, meine Großmutter väterlicherseits. Ich kann nichts dafür, ich wurde so geboren."

"Großer Gott im Himmel!"

"Also solltest du dir mich warmhalten."

Ja, das sollte ich. Vielleicht ist sie sogar in der Lage, den Fluch — Stechender Schmerz fuhr mir durch den Kopf.

"Leon", sagte sie besorgt. "Hast du Schmerzen?"

Ich winkte ab. "Geht", keuchte ich, "gleich — wieder — vorbei."

Sie legte ihre Hand auf meine und ich schrie auf. Nicht nur mein Kopf dröhnte wie eine riesige Glocke, meine Haut brannte wie Feuer und mein Mageninhalt wollte unbedingt ins Freie.

Ich sprang auf und rannte los.

7

Patrizia

Ich schrie vor Schmerz und Überraschung auf. Meine Hand zuckte zurück. Sie brannte wie Feuer. Das war der dickste Abwehrzauber, den ich je erlebt hatte.

"Scheiße", brüllte ich und steckte unwillkürlich meine Hand in den Rieseneisbecher. Nicht, dass so etwas gegen magische Schmerzen nutzt. Aber zumindest hatte ich einen Vorgeschmack davon bekommen, was Leon durchmachen musste.

Ich sprang auf, schrie "Ich komme wieder" in Ritas Richtung und rannte los. Ich lief viel. Lange Strecken. Ich wollte nächstes Jahr einen Marathon laufen — ohne magische Unterstützung.

Aber Leon war schon verschwunden. Ich legte noch einen Zahn zu, lief um die Ecke des Alchemie-Gebäudes und sah ihn hinter der Cafeteria verschwinden. Der Kerl war schnell!

Er schien in die Richtung des Wohnheims zu laufen. Also konzentrierte ich mich, erzeugte ein kleines Wurmloch und sprang hundert Meter vor ihn. Naja, plus/minus zwanzig Meter, aber da gab es glücklicherweise keine Hindernisse und ich kam vor ihm heraus.

"Leon", schrie ich. "Bleib bitte stehen."

Er sah mich, drehte sich, wollte in eine andere Richtung rennen, aber überlegte es sich glücklicherweise noch einmal. Fünf Meter von mir entfernt hielt er an. "Bleib weg. Bitte."

Ich hob die Hände. "Ich werde dich nicht wieder berühren. Verstanden?"

"J-j-ja."

"Ich werde dir auch nie wieder private Fragen stellen. Verstanden?"

"Ja."

"Das, was ich jetzt sage, sind keine Fragen, sondern Feststellungen."

Er lächelte leicht. "Verstanden."

"Du hast Schmerzen."

"Im Moment nicht."

"Du brauchst Hilfe."

Er schwieg, doch sein Gesicht verzerrte sich leicht.

"Ich will dein Freund sein. Ich will dir helfen. Wenn ich das nicht tun soll, dann lauf jetzt einfach weg. Wir bleiben Freunde und ich stecke meine viel zu lange Nase nicht mehr in deine Privatangelegenheiten."

Er lief nicht weg. Er zuckte die Schultern. "Du hast eine hübsche Nase." Dann verzog er wieder das Gesicht.

Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu. "Du läufst verdammt schnell."

Er lächelte. "Nationalsport. Ich laufe, seit ich Laufen kann."

Ich lachte auf. "Wollen wir es mal zusammen tun? Ich trainiere für den Marathon, und du kannst mir bestimmt Tipps geben."

Er schien in sich hineinzuhorchen. "Gerne. Wann und wo?"

"Morgen Abend, wenn diese verdammte Hitze ein bisschen nachgelassen hat. Um acht im Uni-Stadion?"

Wieder dieses In-sich-hinein-Horchen. "Geht klar."

"Und ich bleibe auf Distanz. Ja? Keine Berührungen, keine bohrenden Fragen."

Er lachte. Ein in Anbetracht der Umstände recht fröhliches Lachen. "Geht klar. Wir sehen uns dann morgen." Er holte tief Luft, wandte sich um und ging.

Puuh! Noch einmal gut gegangen. Langsam machte ich mich auf den Weg zurück zum Eiscafé.

Dieser Abwehrzauber — Noch nicht einmal die Struktur kam mir auch nur annähernd bekannt vor. Ich brauchte Hilfe — zumindest einen Rat. Bauch oder Kopf? Hexe oder Magier? Oder —

Ich holte mein Handy raus. "Hallo Myrddin!"

"Cool! Muss ich mir merken."

"Als ob du einen so simplen Spruch nicht kennen würdest."

"Ich meine nicht den Spruch, sondern diese blinkende Maschine in deiner Hand."

"Handy", sagte ich. "Zweihundert Gulden in jedem Laden. Aber ich habe ein anderes Problem."

"Ja", sagte er. "Das ist eine seltsame Struktur. Ich melde mich morgen. Bis dahin solltest du schon einmal dunkle Materie sammeln."

"Was?"

"Tausend Tonnen sollten reichen."

Ohne meine Antwort abzuwarten, unterbrach er die Verbindung. Ich starrte auf mein Handy. Irgendwie war das Gespräch ganz anders verlaufen, als ich mir vorgestellt hatte. Hatte er etwa alles schon vorher gewusst? Oder meine Gedanken gelesen?

Tausend Tonnen Dunkle Materie!

Ich seufzte auf. Es war nicht schwer, an so etwas zu kommen. Dunkle Materie steckt überall zwischen Atomen. Es gibt sechsmal so viel davon wie von "normaler". Jeder Magier konnte sie manipulieren, normalerweise allerdings in der Größenordnung von Millionstel Gramm. Sammeln war auch einfach. Man konzentrierte sich auf einen mathematischen Punkt und stellte sich einen Sog vor. Peanuts. Zumindest für mich.

Tausend Tonnen Dunkle Materie!

Größere Mengen davon tendierten allerdings dazu instabil zu werden. Glücklicherweise ohne große Konsequenzen. In der Regel bildete sich nur ein schwarzes Loch. Im Falle von tausend Tonnen wäre das in der Größenordnung von — hmmm, drei hin, eins im Sinn — irgendwo bei zehn hoch minus vierundzwanzig Metern. Ein Yoktometer. Ein Milliardstel Protonenradius. Völlig ungefährlich und innerhalb kürzester Zeit verdampft. Aber das wollte ich — oder Merlin — ja nicht.

Ich kratzte mir am Kopf, während ich die Eisportionen für Leon und mich bezahlten. Inklusive einem saftigen Trinkgeld als Trost für das Durcheinander, den wir angerichtet hatten.