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Amba - Ein Weihnachts-Special

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Ein Geräusch rechts von ihr ließ sie zusammenzucken. Da war doch etwas gewesen, oder etwa nicht? Sie hätte schwören können, dass eine schemenhafte Gestalt nur wenige Meter neben ihr vorbeigehuscht war. Oder spielte ihr der Verstand nur einen Streich?

„Florian, bist du das?", fragte sie ängstlich.

Irgendwo in der Ferne hörte sie Wölfe heulen. Es klang unheimlich, schaurig, drang durch die Knochen bis in die Psyche vor und verstörte. Obwohl Julia wusste, dass Wölfe für Menschen nicht gefährlich waren, ließ das Heulen ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Am liebsten wollte sie umkehren. Doch Florian brauchte sie, das spürte sie ganz deutlich. Sie zwang sich weiter zu gehen. Noch tiefer in den Wald hinein.

Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie schon gekommen war und wie lange sie dafür gebraucht hatte. Das Stapfen durch den hohen Pulverschnee war anstrengend und nur langsam kam sie voran. Ihre Augen tränten und die kalte Luft brannte in ihrer Nase, schien ihre Schleimhäute gefrieren zu lassen. Immer wieder hielt sie kurz an und leuchtete mit ihrer Lampe ringsherum in die Dunkelheit. Sie versuchte, irgendetwas zu erkennen, doch es war unmöglich, einen markanten Wegepunkt wiederzuerkennen. Alles, was sie sah, waren geisterhafte Bäume, die ihre knorrigen Äste wie Arme nach ihr auszustrecken versuchten.

Florians Spuren waren im Schnee immer undeutlicher zu erkennen, je mehr Zeit verstrich. Wenn das so weiter ging, würde sie bald den Weg nicht mehr erkennen und sich verlaufen und das war nicht gut. Wenn sie sich verirrte, würde sie diese Nacht nicht überleben, denn dann würde sie erfrieren. Und auch Florian würde sterben müssen.

„Wo bist du nur?", rief sie laut, die Hände zu einem Trichter geformt.

Sie musste ihn einfach finden! So schnell wie möglich.

Der Weg führte nun in einem weiten Bogen nach rechts. Sie erinnerte sich an diese Kurve und mit dem Gefühl, die Orientierung wenigstens teilweise wieder zurückerlangt zu haben, keimte neue Hoffnung in ihr auf. Allzu weit konnte es jetzt eigentlich nicht mehr sein. Bald würde der Weg abfallen in Richtung Fluss. Sie musste nur aufpassen, denn der Weg gabelte sich dann auf und sie musste die richtige Abzweigung nehmen.

Ob Florian vielleicht versehentlich falsch abgebogen war und deshalb nicht zurückkam? Hatte er sich vielleicht verirrt?

Julia fragte sich, ob sie überhaupt die Zeit hatte, beide Wege abzusuchen, wenn er nicht den richtigen Weg zur Kamera gegangen war. Falls er sich wirklich verirrt haben sollte, konnte er überall sein. Es wäre unmöglich, ihn dann zu finden. Allein der Versuch grenzte schon an Selbstmord.

Die Kälte war unerträglich geworden. Obwohl sie sich körperlich verausgabte, fror sie. Ihre Hände waren bereits steif gefroren. Von unten kroch die Kälte durch die Stiefel ihre müden Beine hinauf. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.

Das Wolfsgeheul war wieder zu hören. Es klang diesmal näher als beim ersten Mal. Kein gutes Zeichen.

Endlich tauchte die Weggabelung auf. Links führte der Weg irgendwohin ins Nirgendwo.

Bitte lass Florian nicht falsch abgebogen sein, schickte sie ein stummes Stoßgebet gen Himmel.

Er war es nicht. Seine Spuren waren zwar kaum noch erkennbar, führten aber eindeutig nach rechts in die richtige Richtung. Erleichtert atmete Julia aus.

„Flo? Bist du hier?", rief sie in die Schwärze.

Aber sie erhielt wieder keine Antwort. Nur die Bäume ächzten und knackten im frostigen Wind, dass man meinen konnte, sie würden zerspringen.

Sie war am Ende ihrer Kräfte angekommen, doch sie zwang sich zum Weitergehen. Sie bog nach rechts ab. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Kamera. Wenn Florian nicht vom Weg abgekommen war, dann würde sie ihn bald finden. Hoffentlich.

Ab hier fiel der Weg leicht ab. Julia merkte, dass der Schlitten von allein ins Rutschen geriet, denn sie spürte auf einmal sein Gewicht nicht mehr an ihr zerren. Das war gut, denn sie konnte das letzte Stück rodelnd zurücklegen und neue Kräfte sammeln, die sie dringend benötigen würde.

Sie setzte sich auf den Schlitten, stellte ihre Beine auf die Kufen und mit etwas Schwung setzte sich das Gefährt in Bewegung, nahm an Fahrt auf und bald schon kam sie schnell voran.

Immer wieder musste sie bremsen und Geschwindigkeit aus der Fahrt nehmen. Der Untergrund war uneben und voller Buckel, außerdem sah sie immer noch kaum etwas und wollte nicht riskieren, mit einem Baum zusammen zu stoßen.

Plötzlich waren die Spuren verschwunden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst, hörte das regelmäßige Muster der Schuhabdrücke einfach auf.

Sie hielt an. „Florian!", schrie sie verzweifelt, so laut sie konnte.

Dann sah sie es plötzlich. Blut.

Oh nein, schoss es ihr durch den Kopf.

„Wo bist du?", rief sie verzweifelt. „Florian!" Immer wieder, so laut sie konnte.

Florian antwortete nicht.

Sie stieg vom Schlitten und suchte die Umgebung ab. Es waren eindeutig Blutspritzer im Schnee. Dann entdeckte sie, dass im Geäst eines kahlen Busches etwas hing. Es war ein Fetzen seiner Hose. Er musste offenbar gestürzt und dann hier hängen geblieben sein. Der Ast hatte ihm die Hose aufgerissen und wahrscheinlich auch sein Bein verletzt, daher das Blut.

Aber was war anschließend passiert?

Sie fand die Antwort, als sie dem Blut und einer Spur folgte, die aussah als hätte jemand einen schweren Sack durch den Schnee gezogen. Er war einen Abhang nach unten gerutscht.

Mit der Taschenlampe leuchtete sie die Spur entlang und fand ihn. Etwa zehn Meter vom eigentlichen Weg entfernt lag er im Schnee unter einer großen Sibirischen Tanne. Er musste gegen den Baum geprallt sein, denn er war über und über mit einer Schneeschicht bedeckt, die beim Zusammenstoß von den Zweigen herab auf ihn gefallen war.

„Um Himmels willen, Florian!", kreischte Julia entsetzt.

Er gab ihr keine Antwort und sie befürchtete das Schlimmste. Sein Körper lag regungslos im Schnee auf dem Rücken, Beine und Arme von sich gestreckt wie eine leblose Schlenkerpuppe.

„Hörst du mich? Ich komme jetzt runter!", rief sie nach unten. Vorsichtig stieg sie hinab. Der Abhang war nicht besonders steil, aber der Untergrund war rutschig.

Als sie bei ihm war, wischte sie den Schnee von seinem Körper. Er hatte die Augen geschlossen. Seine Haut war ganz blass. An Nase und Ohren war sie leicht aufgeschwollen und um die Lippen herum bereits bläulich verfärbt. Erste Anzeichen von Erfrierungen.

Bitte nicht, dachte sie verzweifelt.

Sie griff seine Hand und zog ihm den Fäustling aus, um am Handgelenk seinen Puls zu fühlen. Ihre Finger waren kalt und kaum beweglich.

Da! Da war er, ganz schwach, flach und deutlich verlangsamt, aber immerhin regelmäßig. Er lebte noch!

„Gott sei Dank", sagte sie erleichtert. „Flo? Hörst du mich?"

Sie rüttelte an seinem Körper, klatschte ihm eine Ohrfeige ins Gesicht, aber er wachte nicht auf. An seinem Hinterkopf tastete sie etwas Krustiges. Er hatte sich bei seinem Aufprall am Baum den Kopf aufgeschlagen und hatte daraufhin das Bewusstsein verloren. Aber er lebte und nur das zählte. Doch sie musste sich beeilen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, saugte die Kälte das Leben aus ihrem Freund. Wenn sie ihn nicht bald ins Warme brachte, würde er erfrieren.

Sie musste ihn irgendwie nach oben bekommen und dann auf den Schlitten hieven. Und zwar schnell. Sie packte ihn unter seinen Achseln und versuchte, ihn den Hang hinauf nach oben zu ziehen. Doch er war zu schwer, der Boden zu rutschig und prompt rutschte sie selbst aus und landete mit dem Gesäß im Schnee.

„Scheiße!", fluchte sie laut.

So würde sie es niemals schaffen.

„Ich lass mir etwas einfallen, versprochen", flüsterte sie ihrem Freund ins Ohr. Sie wusste nicht, ob er sie hören konnte. Er sollte trotzdem das Gefühl haben, dass sie bei ihm war und ihn nicht im Stich lassen würde. „Ich komme gleich wieder zurück, geh bloß nicht weg, hörst du?" Was ziemlich unsinnig war, denn aus eigener Kraft würde er ohnehin nicht von hier weg kommen.

Sie kraxelte nach oben und hastete durch den Schnee stolpernd zum Schlitten, auf dem ihr Rucksack lag. Darin fand sie auch schnell, wonach sie gesucht hatte, ihre Kletterausrüstung: Bandschlingen, mehrere Karabiner und ein langes Seil. Es war nicht ideal, aber damit konnte sie einen improvisierten Flaschenzug bauen und Florian wahrscheinlich nach oben ziehen.

Als erstes brauchte sie einen Fixpunkt, in den sie einen Karabiner als Umlenkrolle einbauen konnte. Sie schaute sich um und fand, dass der knorrige, dicke Stamm einer Mongolen-Eiche dafür gut geeignet war. Julia nahm eine Bandschlinge und befestigte sie am Stamm. Dann hängte sie einen Karabiner ein und gleich noch einen weiteren. Damit konnte sie eine Garda-Sperre bauen.

Anschließend nahm sie das Seil, eine Bandschlinge und einen dritten Karabiner und lief damit wieder nach unten.

Florian war immer noch bewusstlos. Julia keuchte angestrengt. Sie ging in die Knie und hob seinen Körper ein paar Zentimeter in die Höhe und schob die Bandschlinge unter seinem Gesäß hindurch. Die beiden Schlaufen rechts und links führte sie vor seinem Becken zusammen, anschließend griff sie zwischen seine Beine und holte eine dritte Schlaufe hervor. Mit dem Karabiner verband sie die drei Schlaufen und hatte so einen improvisierten Tragegurt geschaffen, an den sie nun das Seil anknotete.

„Ich hab's gleich", sagte sie beruhigend.

Dann rannte sie, das andere Ende des Seils in der Hand haltend, wieder nach oben. Sie führte das Seil durch die beiden Karabiner am Baum und dann das Zugseil noch einmal durch den ersten Karabiner und schließlich zwischen die beiden Karabiner hindurch. Anschließend lief sie zum Rucksack zurück und besorgte sich eine kurze und eine lange Reepschnur und drei weitere Karabiner. Die kurze Schnur band sie zu einer Prusikschlinge, die sie ans Lastseil knotete und in die sie einen Karabiner einhakte. Auch die lange Reepschnur verknotete sie zu einer Schlinge, die sie am Fixpunkt befestigte. Das andere Ende führte sie durch den Karabiner an der kurzen Schlinge und hängte in die lange Schnur einen weiteren Karabiner, durch den sie nun das Zugseil führte. Fertig.

Dann zog sie kräftig am Zugseil. Über die Umlenkung wurde nun die Kurzprusik samt dem an ihr befestigten Lastseil nach oben gezogen. Sie fühlte die Spannung, kämpfte dagegen an und zog weiter.

Es funktionierte. Auch wenn das Ziehen leichter ging als ohne Flaschenzug, brauchte sie trotzdem all ihre Kräfte. Schweißperlen rannen von ihrer Stirn. Das Seil schnitt in ihre Hände und scheuerte die Haut auf. Als sie die Kurzprusik bis nach oben gezogen hatte, hörte sie zu ziehen auf. Das Zugseil hing nun schlaff herab, aber die Rücklaufsperre verhinderte zuverlässig, dass Florian durch sein Gewicht wieder nach unten fiel. Sie schob die Kurzprusik am Lastseil wieder so weit nach unten wie möglich, bis die lange Reepschnur wieder gespannt war, dann zog sie erneut.

Sie fand einen guten Rhythmus zwischen Hub und Neujustierung. Langsam aber stetig wurde der schlaffe Körper ihres Freundes nach oben gehoben.

Endlich hatte sie es geschafft.

Sie wuchtete Florian auf den Schlitten. Dann holte sie aus dem Rucksack eine Wolldecke, die sie über ihn legte. Diese würde ihn voraussichtlich einigermaßen warm halten. Danach baute Julia den Flaschenzug ab und verstaute alles wieder im Rucksack, nur die Bandschlingen packte sie nicht wieder ein, sondern nutzte sie, um Florian damit auf dem Schlitten zu fixieren.

Nun kam der schwierige Teil. Sie musste den Schlitten und Florian den ganzen Weg zurück zur Hütte ziehen. Bergauf. Und sie hatte jetzt schon kaum mehr Kraft.

Warum haben wir keine Schlittenhunde mitgenommen?, fragte sie sich im Stillen. Aber beide hatten von Schlittenhunden keine Ahnung.

Die Kälte lähmte ihre müden Beine. Jeder einzelne Schritt war ein Kampf, den sie mit sich selbst ausrang. Ihre Lunge brannte und die Muskeln schmerzten. Immer wieder kostete es sie all ihre Kraft, um sich zum nächsten Schritt zu überwinden und nicht völlig erschöpft einfach in den Schnee zu fallen. Aber sie wusste auch, dass sie nicht aufgeben durfte. Wenn sie jetzt der Erschöpfung nachgab, würde sie nie wieder aufstehen und beide würden im eisigen Schnee den Tod finden.

Sie fragte sich, wie spät es wohl sein mochte. War noch Heiligabend oder hatte inzwischen der erste Weihnachtstag begonnen? Sie wusste es nicht und es war auch egal. In dieser erbarmungslosen Wildnis, die dem Körper alles abverlangte, wurde jegliche weihnachtliche Stimmung ohnehin ausgelöscht.

Schließlich kam der Punkt, an dem Julia überhaupt nichts mehr dachte. Ihr Kopf war völlig leer und sie funktionierte einfach nur noch. Meter für Meter kämpfte sie sich durch den Schneesturm, quälte sich zurück zur Hütte. Zurück ins Leben.

Immerhin kamen die Schneeflocken jetzt von hinten geflogen und wurden ihr nicht mehr ins Gesicht geweht, sondern verfingen sich in ihrer Uschanka.

Der Wind heulte stärker auf. Das Unwetter wurde schlimmer. Sie kam an der Gabelung vorbei. Bis zur Hütte war es immer noch ein weiter Weg.

Jäh tauchte in der Dunkelheit vor ihr die Silhouette eines gewaltigen Ungeheuers auf. Sie hielt es erst für einen weiteren Streich, den ihr der Verstand spielte. So etwas wie Monster gab es schließlich nicht. Bestimmt war es wieder nur ein knorriger Baumstamm, der sie verschreckte.

Sie blinzelte, um den bösen Geist zu vertreiben. Doch als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt immer noch da. Sie war nicht nur ein Hirngespinst, sondern äußerst echt. Aus Fleisch und Blut und beunruhigend groß.

Julias Herz sank eine Etage tiefer.

Bedrohlich und mit blitzenden Zähnen stand das Monster direkt vor ihr und stierte sie mit grimmigen Augen an. Wie der leibhaftige Teufel sah es aus. Ein riesiges, gieriges Maul hatte es, einen übergroßen Kopf und ein dichtes, struppiges Fell aus borstigen Haaren.

Julia blieb starr vor Schreck stehen, unfähig sich zu rühren.

Der Schein der Taschenlampe leuchtete der Kreatur mitten ins Gesicht.

Es war kein Ungeheuer, stellte sie nun fest. Jedenfalls war es kein fantastisches Fabelwesen. Nein, es war ein riesiges Wildschwein. Ein kräftiger Keiler mit überlangen Hauern und furchteinflößend real.

Für einen kurzen Augenblick schien das Tier genauso erschrocken zu sein wie Julia. Aber dann setzte es sich ruckartig in Bewegung, den Kopf gesenkt, und kam genau auf sie zu gerannt.

Der Keiler quiekte laut und drohend. Ein Schrei, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Donnernd kam das Wildschwein näher gestürmt. Mit einem wütenden Wildschwein war nicht zu spaßen. Nicht einmal Wölfe trauten sich an einen rasenden Keiler heran.

Sie wollte zur Seite springen, aber ihr Körper reagierte überhaupt nicht. Die Angst lähmte sie und das Wildschwein kam näher und näher.

Ich muss hier weg! Ich muss hier weg! Ich muss hier weg!, dachte sie. Ihr Puls raste.

Der Keiler war inzwischen so nahe, dass sie ihn riechen konnte. Ein widerlicher, testosterongeschwängerter Gestank.

Endlich konnte sie sich aus ihrer Starre befreien. Gerade noch rechtzeitig hechtete sie zur Seite und brachte sich in Sicherheit. Aber das Wildschwein rannte mit voller Wucht in den Schlitten, der durch die Kraft des Aufpralls mehrere Meter nach hinten katapultiert wurde und quer zum Weg liegend stehen blieb. Julia, die immer noch im Schlittenseil hing, wurde ruckartig zu Boden gerissen.

Das Wildschwein schüttelte irritiert den Kopf. Dann erblickte es die am Boden Liegende und taxierte sie schnaubend. Es sammelte sich wieder und setzte dann zu einem neuen Angriff an.

Diesmal würde sie nicht ausweichen können. Nun würde sie das Wildschwein mit voller Kraft erwischen. Irgendwann hatte jeder einmal sein Glück aufgebraucht.

Jetzt ist es aus, schoss ihr die grausame Erkenntnis durch den Kopf.

Das Wildschwein pflügte mit den Klauen wutschnaubend durch den Schnee und röhrte markerschütternd.

Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass sie einmal auf diese Weise ihr Ende finden würde.

Kurz bevor man stirbt, so sagte man sich, zöge noch einmal das ganze Leben wie ein Film an einem vorbei. Julia wusste nun, dass dem nicht so war. Alles, was sie fühlte, war das tiefe Bedauern, dass sie ihr letztes Weihnachtsfest auf Erden nicht im Kreis ihrer Liebsten verbracht hatte und dass es ihr nicht gelungen war, ihren Freund zu retten.

Verzweifelt richtete sie ihren Oberkörper auf und befreite sich strampelnd aus dem Schlittenseil.

Sie formte etwas Schnee zu einem Ball und warf es dem Keiler entgegen. Auch wenn sie ahnte, dass es zwecklos war, aufgeben würde sie nicht. Niemals.

„Hau ab!", kreischte sie so laut sie konnte.

Das Wildschwein machte überrascht einen Satz nach hinten. Aber dann blieb es stehen.

„Du sollst abhauen, hab' ich gesagt!" rief sie und warf einen weiteren Schneeball. Diesmal traf sie das Schwarzwild am Rüssel.

Der Keiler quiekte missmutig auf. Diese Art von Gegenwehr schien er nicht erwartet zu haben und nun wusste er offenbar nicht so recht, wie er reagieren sollte. Abwartend blieb das Tier stehen und rührte sich nicht.

Jetzt bloß nicht wieder verärgern, dachte Julia.

Dann kam ihr die Idee, dass sie im Rucksack eine Leuchtrakete hatte, die jedes Tier abschrecken sollte. Aber wo war bloß ihr Rucksack?

Zuletzt hatte sie ihn auf dem Schlitten liegen gehabt, doch dort lag er nicht mehr. Er war beim Aufprall davon geschleudert worden. Doch wohin nur?

Julia kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Angestrengt versuchte sie, irgendetwas erkennen zu können. Die Taschenlampe war ihr bei ihrem Sturz ebenfalls entrissen worden. Sie lag viel zu weit weg im Schnee und leuchtete schwach ins Nirgendwo. Unmöglich, sie zu erreichen. Oder etwa doch nicht?

Sie musste es versuchen. Im Zeitlupentempo rutschte Julia über den kalten Schnee, das Wildschwein nicht aus den Augen lassend. Sie wagte kaum zu atmen. Ganz vorsichtig tastete sie sich vorwärts. Zentimeter für Zentimeter. Sie streckte die Hand aus und bekam die Lampe zu fassen. Dann richtete sie den Kegel den zugeschneiten Forstweg entlang vom Schlitten weg.

Da lag er! Der Rucksack war, Trägheitsgesetz sei Dank, nicht gemeinsam mit dem Schlitten stehen geblieben, sondern hatte seine Richtung noch eine Weile beibehalten und lag nun ein, zwei Meter dahinter im Schnee. Er wäre vermutlich noch weiter geflogen, hätte ihn nicht ein Baum aufgehalten, unter dem der Beutel jetzt ruhte.

Das war viel zu weit weg, stellte Julia enttäuscht fest. Sie würde den Rucksack nie im Leben rechtzeitig erreichen können. Und doch musste sie es zumindest versuchen.

Explosionsartig brachte sie all ihre verbliebene Kraft auf und sprang auf. Dann sprintete sie los.

Im selben Moment stürzte auch der Keiler los. Mit überraschend hoher Geschwindigkeit kam er auf sie zugeschossen. Julia rannte um ihr Leben.

Das schaffe ich niemals!

Hinter ihr stampfte der Keiler mit erstaunlicher Trittsicherheit durch den Schnee und beschleunigte dabei noch immer. Bald würde er sie eingeholt haben.

Verzweifelt ließ Julia sich mit nach vorn ausgestreckten Armen in den Schnee fallen, so wie sie es beim Schulschwimmen immer beim Sprung vom Startblock getan hatte. Sie prallte mit der Bauchseite in den Schnee und rutschte dem Rucksack entgegen. Sie bekam Schnee ins Gesicht und hustete. Reckte ihre Finger dem Rucksack entgegen. Sie bekam ihn zu fassen.

Julia setzte sich auf, den Baum im Rücken.

Aber sie wusste, dass die Zeit trotzdem nicht reichen würde. Das Wildschwein hatte sie fast erreicht und die Leuchtpatrone zu finden, würde viel zu lange dauern. Unmöglich.

Entmutigt ließ sie den Rucksack in ihren Schoß sinken und bereitete sich auf den drohenden Impakt vor. Sie schloss die Augen. Atmete ein letztes Mal tief ein und ...

Plötzlich passierte etwas. Wie aus dem Nichts kam eine raubtierartige Gestalt von der Seite aus dem Wald gebrochen und brüllte laut. Es war so laut, dass sie sich erschreckt die Ohren zuhalten musste.