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Die Rose von Shenzen

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Mae schloss kurz die Augen, als erneut Frustration in ihr aufsteigen wollte. Manchmal benahm er sich wirklich wie ein verzogenes Kind -- aber immerhin, er hatte geantwortet.

M: Natürlich. Ich liebe dich.

X: Können wir uns treffen? Heute abend?

M: Wann und wo?

X: Bei Ladenschluss. Ich hole dich ab.

Am Abend hatte Mae sich hübsch zurechtgemacht und es schien sich zu lohnen, denn Xiaoqius Augen leuchteten, als er sie sah und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, brachte er heute eine Blume mit, eine wunderschöne Orchidee. Mae schluckte überrascht und gerührt, stellte sie in eine langstielige Vase und liess sich dann in die Arme nehmen und küssen.

Seine Zunge stiess besitzergreifend in ihren Mund und er hielt sie minutenlang fest, ging mit seinen Händen über ihren ganzen Körper, wie um zu zeigen, dass es ihm allein zustand, diese Frau zu berühren.

Anschliessend führte er sie zum Essen aus und beide waren an diesem Abend nervös, lachten ein wenig zu viel, um sich darüber hinwegzutäuschen, denn sie sahen noch nicht, dass das Auftreten eines zweiten Mannes nur eine Entwicklung in Gang gesetzt hatte, die ohnehin unvermeidlich gewesen war und sich auch aus einem beliebigen anderen Grund hätte entzünden können.

Xiaoqiu hatte eine unerwartete Bedrohung gesehen und war auf Kampf ausgerichtet. Nun kam er nicht damit zurecht, dass es gar keinen Feind gab oder zumindest keinen, den man körperlich angreifen konnte, aber von den subtileren Aspekten dieses Spiels, vom Flirten mit einer Frau, selbst wenn man schon mit ihr geschlafen hatte bis hin zu eleganten Rededuellen mit einem Rivalen, verstand er nichts. Frau im Bett, Ziel erreicht, lautete seine Auffassung und dass eine Beziehung auch nach Monaten, ja nach zehn oder zwanzig Jahren noch zerbrechen kann, weil sie den Beteiligten nichts mehr gibt und dass man dieser Gefahr rechtzeitig entgegen arbeiten muss, indem man etwa die Frau von Neuem erobert, wollte nicht in seinen Kopf. Die Orchidee war eine oberflächliche Reaktion gewesen, mit der er nur Fernsehkitsch nachahmte und das Stück kaufte, das die Verkäuferin empfahl, etwa so, wie wenn er auf der Arbeit ein Bauteil, das nicht ganz passte, mit der Feile bearbeitete, ohne weiter darüber nachzudenken, was in beiden Fällen die Gefahr barg, eine tiefer liegende Ursache zu übersehen.

Auch Mae ignorierte in diesem Moment den Riss zwischen ihnen, denn Xiaoqiu war stark und vertraut, das wollte sie nicht verlieren und mit dem Rest glaubte sie fertig zu werden wie bisher.

Nun von „beiderseitiger Schuld" zu sprechen, ergäbe keinen richtigen Begriff von der Sache, es sei denn, man wollte es den beiden ankreiden, Menschen zu sein und menschliche Schwächen zu haben. Treffender ist „ein Mangel an Harmonie", womit wir die chinesische Philosophie bewundern dürfen, die diesen Punkt schon vor Jahrtausenden definierte und der weitere Verlauf entfaltete sich nach den Gesetzen der Tragödie, in der alle Mühen des Protagonisten, das Unglück zu vermeiden, eben dieses Unglück herbeiführen.

Der Grund: Disharmonie zwischen Menschen führt dazu, dass eine Spannung entsteht, die vom normalen Verhalten der Beteiligten nicht ausgeglichen werden kann und da unser Paar sein Verhalten nicht änderte, sondern die Kluft mit Normalität überbrücken zu können glaubte, was etwa so klug ist, wie mit einem gebrochenen Bein Marathon zu laufen, war die Entladung der angesammelten Energie unvermeidlich.

Eine Bemerkung Maes über weisse Schwäne auf einem Werbeplakat, als sie nach dem Essen durch die Stadt schlenderten, fachte das unter der Oberfläche schwelende Misstrauen in Xiaoqiu von neuem an. „Weiss", das verbanden seine Neuronen unterbewusst mit „weisser Mann", dann mit „Rivale" und ein ganzes Jahrzehnt an Chauvinismus, hinter dem sich Xiaoqiu vor der Komplexität der wirklichen Welt versteckte, fiel auf die gerade erst gebaute Brücke herunter.

„Du träumst wohl immer noch von deinem weissen Kavalier", fauchte er und fühlte sich bestätigt, als Mae heftig errötete. Dass er sie gerade beleidigt hatte, entging ihm völlig.

„Unsinn", wiederholte sie automatisch das Wort vom Vortag.

„Ich habe von diesen Tieren gesprochen."

Sie wollte auf das Plakat deuten, sich dazu halb umdrehen, aber er hielt ihre Hand plötzlich mit Gewalt fest, packte mit der Linken noch zusätzlich ihr Handgelenk und riss sie zu sich heran. Das wiederum löste in Mae einen Verteidigungsreflex aus und sie verpasste ihm mit ihrer freien Hand eine schallende Ohrfeige.

Irgendwo begann jemand zu lachen, jemand anders applaudierte und erst jetzt wurde den beiden wieder bewusst, dass sie sich auf einer öffentlichen Strasse befanden, zusammen mit Hunderten von anderen Menschen, von denen etliche in der Nähe interessiert zusahen. Einige dieser Zuschauer wirkten sogar angespannt, wie bereit zum Eingreifen, falls Xiaoqiu nun ernsthaft gewalttätig werden sollte.

Sein Puls ging nur allmählich wieder nach unten, aber er liess sie los und Mae trat einen Schritt zurück. Der Gesichtsverlust für sie beide war gewaltig, das wussten sie als Han-Chinesen nur allzu gut, doch bedeutete er nichts gegenüber dem, was sie sich gerade angetan hatten, ohne zu begreifen warum und auch der nicht besonders redegewandte Xiaoqiu empfand ihrer beider Sprachlosigkeit in diesem Augenblick als das Schrecklichste.

Schliesslich wehrten sich ihre Beinmuskeln dagegen, ewig so stehenzubleiben, davon bezwungen, wendeten sie sich wortlos voneinander ab und gingen in verschiedenen Richtungen davon, wobei diejenigen Zuschauer, die nahe genug standen, um entweder Maes oder Xiaoqius Gesicht zu sehen, hastig den Weg freigaben.

V.

Einen Tag später herrschte immer noch Funkstille zwischen ihnen und es wirkte wie eine Ironie des Schicksals, dass Xiaoqiu bei seinem ersten Eifersuchtsanfall nur Maes Telefon hatte sehen wollen. Wusste er nicht, dass man mit einem Tablet ebenfalls kommunizieren kann?

Um 17 Uhr 49 summte das Lenovo und Maes Augen wurden gross.

Es war ebenfalls eine Instant-Messaging-Nachricht: Darf ich es wagen, mit Ihnen zu sprechen? André Lebel.

Wie von selbst tippten ihre Finger die Antwort: Sie haben es gerade gewagt. Und nun?

Die Frage, woher er ihre Online-Adressen kannte, wäre Zeitverschwendung gewesen. Wahrscheinlich konnte man sie über Baidu finden -- Mae hatte sich nie die Mühe gemacht, das nachzuprüfen -- und zu behaupten, sie sei gar nicht die Gesuchte, wäre allzu lächerlich.

Ich bitte Sie, mich zu treffen. Heute um 20 Uhr vor dem Teehaus auf dem Lotusberg.

Mae verharrte, Intelligenz und Schlagfertigkeit liessen sie jäh im Stich.

Als die Zeitanzeige am Rande des Bildschirms um eine Minute weitersprang, schrak sie zusammen. Sie musste antworten.

Ich denke darüber nach.

Anschliessend schloss sie den Messenger und löschte den Cache. In den folgenden Minuten fühlte sie wieder diese verfluchte Unschlüssigkeit, die sie schon bei Andrés Blumensendung erfasst hatte. Sie redete sich ein, es sei falsch, diesem Fremden noch einmal zu begegnen und erwog gleichzeitig, dass eine solche Begegnung die Gelegenheit wäre, ihn durch einen Appell an die Vernunft loszuwerden, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen.

Mag es Kitsch für Touristen sein oder nicht, der Lotusberg im Lianhuashan-Park heisst wirklich so und es führt eine recht bequeme Treppe hinauf.

Das ebenfalls eher kitschig wirkende Teehaus wie auch der Platz davor waren belebt, aber Andrés hochgewachsene Gestalt ragte deutlich aus der Menge hervor und sein warmherziges Lächeln hätte man als Suchscheinwerfer verwenden können.

„Danke, dass Sie gekommen sind."

Seine Hand deutete voraus auf den Kiesweg und sie folgte der Einladung, ging eine Minute schweigend neben ihm her.

„Mae...", begann er dann und ihre Nervosität -- woher kam dieses Gefühl überhaupt? -- fiel ihm ins Wort.

„Stehen wir uns so nahe?"

„Nein", antwortete er leise, „aber ich habe gehofft, Sie würden es mir nicht übel nehmen."

Wieder herrschte einige Augenblicke Schweigen.

„Ich -- ich habe mich in Sie verliebt", platzte er dann heraus.

„Seit Tagen kann ich an nichts anderes mehr denken."

„Und daraus leiten Sie nun das Recht ab...?"

André atmete schwer, setzte von Neuem an.

„Nein. Ich habe keinerlei Anrecht auf Sie, Frau Sheng. Schon dass Sie mit mir sprechen, ist ein Geschenk und Sie küssen zu dürfen, wäre der Himmel."

Mae fühlte ihr Herz pochen, denn solche Komplimente hatte sie niemals zuvor gehört.

„Sie dürfen es nicht", sagte sie endlich.

„Auch wenn ich mich wiederhole, ich bin vergeben. Verstehen Sie dieses Wort?"

Damit hätte das Gespräch beendet sein sollen und ein Teil von Mae hoffte, dass es so wäre, aber André wagte einen jener Vorstösse, zu denen uns nur die Liebe treiben kann.

„Sie sehen nicht glücklich aus, wenn Sie das sagen. Lieben Sie diesen anderen Mann?"

Ein anderer Teil von Mae fühlte sich zu André hingezogen und ihre Gewissenhaftigkeit rang mit diesem Gefühl.

„Allein für diese Frage wird er Sie umbringen", lautete schliesslich ihre Antwort, mit der sie der Frage unbewusst auszuweichen versuchte.

„Und Sie -- Mae?", fuhr er fort und wagte sich mit der erneuten Verwendung ihres Vornamens noch weiter in die Gefahrenzone, „was werden Sie tun?"

Mae blieb stehen, wandte den Blick ab, sah den Franzosen erneut an und sagte schliesslich in einem Tonfall, der zwischen Fordern und Flehen lag: „Herr Lebel, in Ihrem eigenen Interesse, vergessen Sie mich."

Dies war jedoch ein psychologischer Fehler, denn André, der nun nichts mehr verlieren konnte, trat näher und ergriff die Frau an beiden Händen.

„Niemals. Mae Sheng, ich werde dich vielleicht nie besitzen, aber auch nie vergessen. Dein Freund kann mich töten und noch mit meinem letzten Herzschlag werde ich dich lieben."

Sein Gesicht schien auf das ihrige herunterzufallen, seine Arme rissen sie an sich, dann fühlte Mae den drängenden Kuss, in dem sie unter anderen Bedingungen mit Wonne zerschmolzen wäre und Andrés Hand, die über ihren Rücken nach unten glitt, sein Knie, das sich zwischen ihre Beine schieben wollte, fühlte das Begehren seines grossen, warmen Körpers und wie sich ihre Vernunft in nichts aufzulösen drohte, wollte sogar, dass es geschah...

...und konnte doch nicht anders, als den Kopf zurückzuwerfen, den Kontakt ihrer beider Lippen zu unterbrechen und in ihrer Verzweiflung zum Angriff überzugehen.

„Verschwinden Sie, alter Mann", zischte sie, entwand sich ihm und stiess ihn zurück.

„Gehen Sie und nähern Sie sich mir nie wieder. Keine Blumen, keine Nachrichten, nichts!"

Einige grauenhaft lange Sekunden sah er sie an und Mae -- bereit, diesem Weissen nun mit voller Wucht in den Unterleib zu treten, wenn nichts anderes helfen sollte -- fühlte, wie in ihm etwas zerbrach.

Dann verbeugte er sich wortlos und ging.

Als er ihr den Rücken zuwandte, liefen unserer Freundin die Tränen übers Gesicht.

VI.

Nach einer Weile kämpfte Mae ihren inneren Aufruhr nieder und fuhr zur Wohnung ihres Freundes, wollte ihm sagen, was geschehen war und damit ihre Liebe beweisen, aber das Opfer, das sie gebracht hatte, erwies sich als wertlos, denn Xiaoqiu wollte nicht einmal zuhören. Er hatte alles Vertrauen in sie verloren und Mae brauchte eine Viertelstunde vergeblichen Redens, bis sie das zu ahnen begann.

„Wie soll ich dich überzeugen?", rief sie schliesslich -- und das Universum hielt den Atem an.

Seine Antwort offenbarte einen Kontrollwahn, der alle Grenzen sprengte.

„Heirate mich und bleibe für immer bei mir. Sei eine Hausfrau, keine Ladeninhaberin. Dann begegnest du ihm nie wieder und auch keinen anderen falschen Männern."

Mit offenem Mund sah sie ihn an. Das konnte er doch nicht ernst meinen.

Aber seine fanatisch glühenden Augen zeigten nur zu deutlich, dass er wirklich meinte, was er sagte. In diesem Augenblick fürchtete sie sich vor ihm.

Keine Theorie und keine Ausbildung können uns auf eine solche Situation vorbereiten. Jedes lebende Wesen überwindet sie aus eigener Kraft oder es zerbricht daran.

Bei Mae war es die selbe Kraft, mit der sie gegen alle Widerstände und Rückschläge ihren Laden aufgebaut hatte, eine Kraft, die in früheren Jahrhunderten abwertend als „der Trotz eines dummen Mädchens" beschrieben wurde und heute als „die Power einer Selfmade-Frau" gilt.

Das bedeutete, dass sie jeden anderen Mann, der ihre Existenz derart bedrohte, auf der Stelle niedergeprügelt hätte, aber Xiaoqiu? Sie liebte ihn doch...

„Das kann ich nicht", flüsterte sie endlich. „Bitte versteh' das."

„Ich verstehe, dass du mich nicht liebst! Aber du gehörst mir!"

Selbst sie zu schlagen, hätte nicht dümmer sein können als diese beiden Sätze. Antworten trieben durch Maes Kopf, die alle gepasst hätten und doch wieder nicht, schliesslich begriff sie, dass Worte an diesem Punkt sinnlos waren und wenn sie sich jetzt ihrer Liebe sicher gewesen wäre, hätte sie diesen Mann in einem verzweifelten Rettungsversuch geküsst.

Stattdessen liess sie ihn stehen, liess alles Weitere unausgesprochen und stürmte aus der Wohnung. Auf dem nächsten Treppenabsatz hörte sie, wie über ihr die Tür aufgerissen wurde.

„Mae?"

Sie blieb nicht stehen.

„Mae!!"

Schrille Verzweiflung mischte sich in diesen Ruf.

Dann klappte die Haustür zu.

VII.

Am nächsten Tag hatte André im Blumenladen eine einzelne gelbe Rose an Mae in Auftrag gegeben, diesmal tatsächlich ohne eine Karte, denn Worte erschienen jetzt überflüssig.

„Giovanni B.", der die Blumensprache nicht nur kannte, sondern sie lebte und atmete, hatte diese Bestellung mit tiefer Betroffenheit angehört und sich anschliessend geweigert, dafür Geld zu nehmen.

Seine romantische Seele erkannte ein blutendes Herz auf einen Kilometer Distanz und als dieser besondere Kunde den Laden wieder verliess, da wankte Giovanni zur Kasse, an der seine Frau Giulietta mit bebenden Lippen zugesehen hatte, sie kam ihm auf halbem Weg entgegen, beide umarmten sich und weinten.

Anschliessend nahm André seine Wanderung durch die Stadt wieder auf, auch wenn er diesmal nicht viel von seiner Umgebung wahrnahm. Die Bewegung würde ihm vielleicht helfen, den Schmerz zu verarbeiten.

Um ihn herum tobte indessen das Leben. Das moderne Shenzhen hat gelegentlich noch Probleme mit der Luftverschmutzung, ist aber ansonsten eine Stadt wie jede andere auch, laut, schrill und voller Lebenshunger, in der Tag und Nacht ineinander übergehen. Es war noch nicht ganz 19 Uhr, doch die grellbunten Vergnügungsviertel waren schon so belebt, wie es nach dem Klischee höchstens gegen Mitternacht sein sollte.

André verharrte für einen Moment, als ein Liedchen, das er nur zu gut kannte, aus einer offenen Kneipe erklang: „Poupee de son".

Es war jedoch nicht France Galle, die da sang, das hörte der Kenner sofort heraus. „Karaoke Classics" verkündete eine Leuchtreklame.

Ohne nachzudenken, ging André hinein.

Für eine Weile sass er nur schwermütig an der Theke und hielt sich an einem „B 52"-Cocktail fest, während mehr oder weniger gut gesungene Imitationen über ihn hinwegplätscherten. Bei manchen, die in seiner eigenen Jugend erschienen waren, fühlte er sich schlagartig alt, ein Gefühl, das er kaum je zuvor gekannt hatte.

Dann trat der Ansager auf die Bühne und zog eine junge Frau mit sich, die sichtbar nervös wirkte.

„Meine liebe Kollegin Nelly möchte heute mal nicht nur die Drinks servieren", verkündete er mit jenem berufsmässig enthusiastischen Tonfall, mit dem er auch den Weltuntergang angepriesen hätte.

„Sie hat lange für die Rolle der Christine aus Phantom der Oper geübt. Wie ist es also, Leute? Haben wir hier jemanden, der bei dem berühmten Duett ihr Partner sein möchte?"

André hob den Kopf.

Verlegene Gesichter ringsum.

„Sag' es ihnen selbst, Kleines", rief der Ansager und drückte Nelly das Mikrofon in die Hand. Sie schluckte mehrfach.

„Kommt schon", schepperte es dann aus den Lautsprechern. „Ihr dürft den Text ja ablesen und so viel Englisch können wir doch alle."

André rutschte vom Barhocker und hob die Hand.

„Ablesen ist nicht nötig. Ich kenne die Rolle", sagte er in die erwartungsvolle Stille hinein.

Ohne ein weiteres Wort trat er auf die Bühne und nahm das zweite Mikrofon entgegen. Der Ansager rannte zum anderen Ende des Raums, schaltete etwas am Mischpult und hob in einer internationalen Geste den Daumen nach oben.

Nellys Stimme hatte vor Aufregung kieksig geklungen, es war offenkundig, dass sie keinerlei Bühnenerfahrung besass -- und dann konnte man beobachten, wie die unverwechselbare Melodie aus dem Musical ihren Zauber entfaltete.

Wie sich die junge Frau im Scheinwerferlicht verwandelte.

Exakt im richtigen Moment passte sie sich der Musik an und ihre helle Stimme liess die Membranen der Lautsprecher erzittern.

„In sleep he sang to me, in dreams he came,

that voice which calls to me and speak my name..."

Das gesamte Publikum starrte mit offenen Mündern zur Bühne. War das noch die selbe Person?

Es spielte keine Rolle. Die Magie wirkte im ganzen Raum und durch die offene Tür bis auf die Strasse hinaus, wo einige Passanten überrascht stehen blieben.

Ein anderer Sänger hätte unter diesen Umständen seinen Einsatz verpasst, wäre völlig von seiner Partnerin hingerissen gewesen.

Nicht so André Lebel.

Selbstverständlich hatte er den Roman von Gaston Leroux gelesen, auf dem dieser moderne Mythos basiert, er hatte sogar das Gefühl gehabt, das Phantom zu verstehen, lange bevor ein junger Schnösel namens Andrew Lloyd Webber sich des Themas angenommen hatte und nun sang André diese Rolle aus übervollem Herzen.

„... and though you turn from me, to glance behind,

the phaaaantom of the opera is there, inside your mind."

Nelly hatte erwartet, dass dieser Weisshaarige sie mit den Augen ausziehen würde, wie es alle anderen Männer taten, aber sein Blick ging an ihr vorbei in eine unendliche Ferne.

Er sah nur Mae vor sich und er sang für Mae.

Für eine Liebe, die auf ewig verloren schien.

Der tosende Beifall des Publikums bedeutete ihm denn auch nichts, aber selbst im Schmerz wahrte er die Form und küsste Nelly die Hand, ehe er die Bühne verliess und durch den Hinterausgang der Bar verschwand oder besser verschwinden wollte, denn der Besitzer des Lokals eilte ihm nach.

„Mein Freund", rief er im Laufen, „warten Sie."

André verharrte mit einem trüben Lächeln.

„Das -- das war fantastisch", japste der dicke Herr Bian, als er André einholte und schüttelte ihm kräftig die Hand.

„Wer sind Sie? Ich bringe Sie ganz gross raus!"

„Ich?", erwiderte der alte Herr mit einer Stimme, über der die Trauer lag wie Rauhreif im späten Herbst.

„Ich bin niemand. Zeigen Sie mir nur den Hinterausgang."

Bian Delong erbebte am ganzen Körper und seine Fantasie glaubte, das leibhaftige Phantom vor sich zu sehen.

Dann verbeugte er sich, so tief seine Körperfülle es zuliess und deutete in die gewünschte Richtung.

Nachdem er schliesslich seine Fassung wiedergefunden hatte, ging er zurück, um das Publikum zu beruhigen.

VIII.

Als die gelbe Rose ankam, hatte Mae sie mit zitternden Fingern entgegen genommen, den Laden früher als sonst geschlossen und Pingfen den Rest des Tages frei gegeben. Ihre sonst so fröhliche Angestellte war den Tränen nahe, denn ebenso wie Giovanni und Giulietta hatte sie die Ereignisse voller Mitgefühl verfolgt und gehofft, dass es doch noch irgendwie zu einem Happy End kommen würde.

Nun sass Mae in ihrer Wohnung über den Geschäftsräumen und fühlte sich wie gerädert von ihren widerstreitenden Gefühlen. In diesem Zustand der Unsicherheit hätte sie Wochen verharren können, vielleicht Monate, aber ihr gesunder Körper und nicht weniger gesunder Verstand wollten sich das nicht gefallen lassen.

Rationalität allein half allerdings nicht.

Dann ist es eben irrational. Dieser Fremde berührt etwas in mir, etwas, das bei Xiaoqiu gar nicht da ist.