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Rapunzel 03

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Mehrere Minuten später stieß er pfeifend die Luft aus. „Wow", sagte er.

Sie hob den Kopf und zog fragend die Augenbrauen hoch. Er rieb sich das Kinn.

„Das ist schon... irgendwie 'ne krasse Geschichte", begann er vorsichtig. „Du bist also quasi seit über dreizehn Jahren mit ihm zusammen. Lebst mit ihm zusammen, wollte ich sagen. Blöde Wortwahl, sorry."

„Du hast doch gerade alles gelesen", erwiderte Tanita leise. „Mehr gibt es nicht zu sagen."

„Und warum hast du dann mitten im Satz aufgehört? Was kommt nach dem „Aber"?"

Schulterzucken. „Weiß ich nicht."

„Doch", sagte Magnus ernst, „ich denke schon, dass du das weißt. Du willst es nur nicht richtig wahrhaben, deshalb hast du 's nicht hingeschrieben."

Sollte sie wütend werden? Nein. Leider hatte er ja recht.

„Was denkst du denn jetzt von mir?", wollte sie wissen. „Du hältst mich für total verkorkst, oder?"

„Himmel, nein!" Entschieden beugte er sich vor und griff nach ihrer Hand. Irgendwie tat es gut, wie er sie festhielt.

„Das Einzige, was ich denke, ist, dass du auf dem richtigen Weg bist. Ich meine, du bist jetzt hier und nicht bei ihm. Die Entscheidung hast du doch wohl selbst getroffen, oder nicht?"

„Natürlich."

„Wie...", er suchte anscheinend nach den richtigen Worten, „ich glaub, ich hab dich das schon mal gefragt... wie hat er es eigentlich geschafft, dass du ihm so... ach, wie sag ich das... ja, dass du immer alles so hingenommen hast, was er dir vorgeschrieben hat? Dass du sogar Angst hast, dich ihm zu widersetzen? Hat er dich wirklich nie... geschlagen?"

„NEIN!" Empört zog sie ihre Hand aus seinen Fingern. „Er würde mir nie im Leben etwas tun."

„Okay", beschwichtigte Magnus sie schnell. „Es war doch nur eine Frage, weil ich nicht verstehen kann..." Er machte eine Pause und warf noch einmal einen Blick auf die eng beschriebenen Blätter vor ihm. „Hm... wenn ich mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lasse, verstehe ich es vielleicht doch. So eine emotionale Bindung kann verdammt stark sein."

„Quatsch nicht daher wie ein blöder Psychologe", sagte Tanita gereizt. „Du wolltest wissen, was mit mir los ist, da hast du deine Antwort. Ich glaub, ich geh jetzt besser."

Sie schob ihren Stuhl zurück.
„Tana... bitte bleib."

Er schaute sie fast schon verzweifelt an. Irgendwie rührte sie das und sie blieb sitzen.

„Willst du, dass es immer so weitergeht mit euch?", fragte er eindringlich.

Tanita biss sich auf die Unterlippe, schüttelte endlich kaum merklich den Kopf. Noch nie hatte sie sich so unglücklich gefühlt. Einerseits gehörte sie zu Mick, aber nach den letzten Tagen, in denen er sich nicht so hatte einsetzen können, wie er wollte... Ihre Zeit so gestalten zu können, wie es ihr gerade in den Sinn kam, das war ein wunderbares Gefühl, das sie jetzt nicht mehr missen mochte. Aber mit Mick zusammen und dabei unabhängig zu sein funktionierte anscheinend nicht.

Außerdem war da noch Magnus. Er konnte sie auf unnachahmliche Art dazu bringen, aus sich heraus zu gehen. Der erste Mensch, der sich abgesehen von Mick für sie interessierte. Und noch dazu jemand, den Probleme nicht gleich aus der Fassung brachten.

„Warum lächelst du?", riss ihn seine Stimme aus ihren Gedanken.

Zaghaft streckte sie die Hand aus und strich ihm über den Arm. „Ich dachte nur gerade, dass ich wirklich froh sein kann, einen Freund wie dich gefunden zu haben."

Magnus erwiderte ihr Lächeln und legte seine Hand auf ihre. Plötzlich regte sich etwas in seinem Gesicht, als wäre ihm ein Geistesblitz gekommen.

„Hey, ich hab dir doch mal erzählt, dass ich noch 'nen Mitbewohner suche!"

Ungläubig starrte sie ihn an. „Du willst..."

„Na klar! Ich hab bis jetzt noch keinen Interessenten, der mir in den Kram passt. Und wenn du wirklich von ihm weg willst... also, du bist mir willkommen. Wenn du möchtest. Na ja, kann ja zumindest 'ne vorübergehende Lösung für dich sein."

„Danke, Magnus." Sie musste schlucken. Dass er noch so hilfsbereit war, nachdem sie ihn nicht immer gerade nett behandelt hatte...

„Warte mal", sagte er plötzlich und fing an, in den losen Zetteln zu blättern. „Du hast da was aufgeschrieben, was mich jetzt im Nachhinein stutzig macht. Ziemlich am Anfang... wo Mick gesagt hat... genau, hier."

Er hielt ihr das Blatt hin und pochte mit dem Zeigefinger auf die betreffende Stelle. Tanita las: „Warum gehst du denn dann?"
„Weil ich erwachsen bin. Und unabhängig sein will. Du und deine Eltern seid super und ich hab euch wirklich gern, aber trotzdem -- es sind nicht meine eigenen vier Wände, in denen ich lebe. Das fühlt sich auf die Dauer einfach scheiße an."

„Verstehst du, was ich meine?"; fragte Magnus fast aufgeregt. „Wenn du gehen willst und er dich nicht lässt, dann reib ihm genau das unter die Nase! Das, was er dir damals gesagt hat. Du bist doch schließlich auch erwachsen! Und wenn er dich liebt, wie du sagst, und nur das Beste für dich will... na ja, vielleicht lässt er ja dann mit sich reden."

Sie nickte müde. Diese Diskussion würde sie mit Mick nur dann führen können, wenn er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Und er würde es ihr verdammt lange nachtragen, wie sie sich ihm gegenüber benommen hatte. Dass sie einfach so gegangen war.

„Ich werd dran denken", versprach sie trotzdem. Dann stand sie entschlossen auf.

„Danke dir für deine Hilfe. Ich geh jetzt noch ein bisschen spazieren... muss den Kopf frei kriegen."

Er nickte. „Okay. Halt, eine Sekunde noch." Hastig sprang er auf, zog eine Schublade auf und wühlte darin herum, bis er triumphierend einen fast stumpfen Bleistift in der Hand hielt. Er nahm die letzte Seite von Tanitas Aufzeichnungen, wo noch etwas Platz war und kritzelte etwas unter ihren Text. Dann faltete er die Blätter sorgfältig wieder zusammen und reichte sie ihr.

„Hier. Damit du dir keine Gedanken machen musst, dass irgendjemand das hier gegen deinen Willen zu Gesicht bekommt. Und außerdem hast du jetzt endlich für alle Fälle meine Telefonnummer."

Tanita nahm das Papier entgegen und steckte es wieder in ihre Hosentasche. „Noch mal vielen Dank", sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Noch einen winzigen Augenblick zögerte sie, dann trat sie einen Schritt auf ihn zu und drückte ihn kurz.

„Bis dann, mein Lieber."
Vorsichtig erwiderte er ihre Umarmung. „Mach 's gut. Viel Glück."

Glück war es wohl eher weniger, was sie brauchte, dachte sie, als sie Magnus' Wohnhaus in Richtung Hafen verließ. Eher die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt.

***

Zur Uni war sie anscheinend nicht gegangen. Auf gut Glück war er hingefahren, hatte vor dem Physikzentrum gewartet, wo sie Freitags normalerweise einen Kurs besuchte. Fehlanzeige. Ein Haufen junger Leute strömte gegen zwei Uhr nachmittags aus dem Gebäude, aber sein Mädchen war nicht darunter. Dafür entdeckte er diesen langen Lulatsch, mit dem er sie einmal zusammen gesehen hatte, an dem Tag, als ihm dieser dämliche Unfall passiert war. Was für ein Milchreisbubi. So bescheuert hatte er in dem Alter garantiert nicht ausgesehen.

Ohne tiefere Absicht folgte sein Blick dem Jungen. Irgendwie machte der einen bedrückten Eindruck, er schlurfte für sich alleine in Richtung Bushaltestelle. Wie aus heiterem Himmel traf Mick eine Erinnerung. Tanita hatte ihn zum ersten Mal im Krankenhaus besucht und irgendwie kam es dazu, dass er sie nach diesem Typen fragte. Er sah wieder vor sich, wie sie sich auf die Unterlippe biss, eine typische Geste, wenn sie nervös war oder etwas zu verbergen hatte. Warum diese Verlegenheit, wenn dieses Backpfeifengesicht -- Magnus oder wie er auch hieß - „nur" ein Kommilitone war?

„Hör auf damit", schimpfte er leise mit sich selbst. „Das glaubst du doch nicht wirklich."

Aber sein Misstrauen hatte sich bereits selbstständig gemacht. Fast zwei Wochen war Tanita allein zur Uni und wieder nach Hause gefahren, weil sie sich angeblich keine Fehlzeiten leisten konnte. Manchmal war sie durchaus erheblich später gekommen als laut Stundenplan vorgesehen war. Sie erklärte ihm dann, sie wäre noch einkaufen gewesen oder hätte mit Kommilitonen zusammen gelernt. Außerdem würde sie mit dem Bus länger brauchen als er mit dem Auto. Woher wollte er wissen, was sie in der Zeit wirklich gemacht hatte?

Unwillkürlich biss er die Zähne zusammen. Bis zu diesem Mittwoch war sie obendrein außergewöhnlich aufgekratzt gewesen und ganz verrückt nach Sex. Als wäre sie frisch verliebt...

„So eine verdammte Scheiße!"

Der Bus in Richtung Innenstadt kam an ihm vorbei. Die Menschentraube an der Haltestelle machte sich bereit zum Einsteigen, so auch der Junge.

Mick dachte nicht länger nach. Er startete den Motor und folgte seinem Gefühl.

Es war schwieriger als gedacht, dem Bus hinterher zu fahren. An jeder Haltestelle musste er aufpassen wie ein Schießhund, ob der Junge ausstieg. Gleichzeitig durfte er nicht zu dicht auffahren, damit der Kerl ihn nicht entdeckte. Bestimmt kannte er das Auto, er hatte ja vermutlich oft genug gesehen, wie er Tanita abholte. Also achtete Mick darauf, dass immer mindestens ein Auto zwischen ihm und dem Bus war. Und hoffte, dass der Junge direkt nach Hause unterwegs war und nicht am Ende irgendwelche Abstecher vorhatte.

Endlich! Nach einer halbstündigen Stadtrundfahrt schob sich der blonde Wuschelkopf aus der hinteren Tür. Zum Glück ging er nicht in seine Richtung, sondern stapfte mit gesenktem Kopf die Straße hinunter. Fieberhaft überlegte Mick. Ihn im Schritttempo mit dem Auto zu verfolgen, konnte er schlecht bringen. Wo nahm er jetzt auf die Schnelle einen Parkplatz her, ohne den Jungen aus den Augen zu verlieren?

Hinter ihm hupte jemand aufgebracht.

„Fick dich doch, du gottverdammter Wichser!"

Ein Glück, dass der Junge sich wegen der Huperei nicht umgedreht hatte. Völlig geistesabwesend latschte er seines Weges. Mick fuhr langsam an und hielt verbissen Ausschau nach einer Möglichkeit, das Auto abzustellen. Verdammt, da vorne kam eine Kreuzung, wenn er jetzt nicht sofort eine Lösung fand, wäre der Junge womöglich gleich auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

„Na bitte!" Da vorn war etwas frei. Zwar nur aus dem Grund, weil dort ein Halteverbotsschild stand, aber das ging ihm jetzt definitiv am Arsch vorbei. Mick stellte den Wagen ab, gerade als der Junge um die Ecke bog. Hastig stieg er aus, erntete ein weiteres wütendes Hupen, weil er dabei fast jemandem die Tür ins Auto rammte und heftete sich dem Burschen an die Fersen.

Diese taube Nuss schien tatsächlich nichts von ihrer Umgebung mitzukriegen. Mick hätte sich eigentlich überhaupt nicht die Mühe zu machen brauchen, ihm unauffällig in einem möglichst großen Abstand hinterher zu schlendern. Selbst wenn er ihm von Marschmusik begleitet auf einem Elefanten gefolgt wäre, hätte der Junge sich wohl nicht umgedreht. Trotzdem blieb Mick stehen und tat so, als würde er die Auslage im Schaufenster eines Copyshops betrachten, als Blondie sich anschickte, die viel befahrene Straße zu überqueren. Aus dem Augenwinkel beobachtete er den Jungen. Ein Wunder, dass der sich überhaupt die Mühe machte, nach links und rechts zu gucken. Auf der anderen Straßenseite blieb er vor der Tür eines tristen Fünfziger-Jahre-Mietshauses stehen, fummelte in seiner Hosentasche herum und holte endlich einen Schlüsselbund heraus. Mick stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Tür öffnete und im Treppenhaus verschwand. Gut. Seine Verfolgung hatte hier also ihr Ende gefunden.

Er schlug den Kragen seiner Lederjacke gegen die Kälte hoch und lehnte sich im Eingangsbereich des Copyshops an die Wand. Von hier aus hatte er das Haus, in dem der Junge wohnte, gut im Blick, war aber selbst nicht so leicht zu entdecken. Jetzt hieß es warten.

Darauf, dass seine Ahnung sich bestätigte.

Der fast schon eisige Wind tat ihr gut. Er kam von vorn, sodass Tanita sich gegen ihn stemmen musste und blies ihr eine widerspenstige Strähne ihres lockigen Haars aus dem Gesicht. Ihr langer Zopf schwang im Rhythmus ihrer Schritte schwer von einer Seite zur anderen. Er kam ihr vor wie eine Last. Ungeduldig warf sie ihn über die Schulter nach vorne, zerrte das Haargummi ab. Mit flinken Fingern löste sie die straff geflochtenen Haare voneinander, bis sie den ganzen Wust ihrer dunklen Locken offen über den Rücken fallen ließ. Wie befreit atmete sie auf, lächelte, als der Wind fast schon grob daran herumzog.

Sie würde ihre Haare abschneiden. Seit Kindertagen hatte sie ihre Locken wachsen lassen, höchstens mal die Spitzen geschnitten. Davon hatte sie jetzt die Nase voll, sie wollte diesen Ballast nicht mehr.

Noch eine Straße und sie würde die Promenade erreichen. Zu dieser Jahreszeit, vor allem jetzt, da es schon fast dunkel war, würde sie mit Sicherheit nur mit wenigen Leuten den rauen Charme der Innenförde teilen müssen.

Mit einem Mal war ihr seine Anwesenheit so präsent, als hätte er ihr einen Schlag versetzt. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen, spürte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte. Sie wagte es kaum, sich umzudrehen.

Jetzt hatte sie den Wind im Rücken, er wirbelte ihr die Haare ins Gesicht, machte Anstalten, sie in seine Richtung zu schieben. Sie hielt die zerzausten Strähnen fest, konnte den Blick nicht lösen von Mick, der vielleicht zehn Meter von ihr entfernt dastand, ebenso unfähig sich zu rühren wie sie. Seine Lippen öffneten sich leicht, als wollte er ihr etwas zurufen, aber er brachte keinen Ton heraus. So finster und kalt hatte sein Gesicht noch nie gewirkt.

Er machte einen halben Schritt auf sie zu und das gab den Ausschlag. Ohne nachzudenken, wirbelte sie herum und rannte.

Ein paar Sekunden lang hörte Tanita nichts außer ihrem Atem, den harten Sohlen ihrer Schuhe auf dem Asphalt und ihrem hämmernden Herzschlag. Dann mischten sich seine Schritte in ihr Keuchen, er brauchte nur lächerlich wenig Zeit, bis er sie eingeholt hatte, am Oberarm packte und zu sich herumriss.

Schwer atmend standen sie voreinander. Unwillkürlich hatte sie die Hände hochgerissen, als müsste sie sich verteidigen. Micks Anblick ließ sie tatsächlich schaudern. Seine Augen waren dunkel, es lag kein Funkeln darin, kein Schimmer von Zuneigung. Alles an ihm schien zum Zerreißen gespannt, seine Wangenmuskeln zuckten, so fest biss er die Zähne zusammen.

Bei einer falschen Bewegung ihrerseits würde er explodieren.

Abrupt wandte er den Blick von ihr ab und setzte sich in Bewegung, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er zerrte sie mit sich, stieß sie ein Stück nach vorne und ließ dann ihren Arm los. Stumm ließ sie sich von seiner geballten Wut in ihrem Nacken vorantreiben, dachte nichts, fühlte nur -- Angst.

Sie gingen an Magnus' Wohnhaus vorbei, bogen um eine Ecke, standen vor dem altvertrauten schwarzen Golf.

Woher hatte er gewusst, wo er sie finden würde? Um nichts in der Welt hätte sie es jetzt gewagt, diese Frage zu stellen. Er öffnete ihr die Beifahrertür, sie stieg ein, schnallte sich mit zitternden Fingern an. Laut knallte die Tür ins Schloss, sie kam sich vor wie jemand auf dem Weg zu seiner Hinrichtung.

Beiläufig registrierte sie, dass unter dem Scheibenwischer ein Strafzettel klemmte. Als er um die Vorderseite des Wagens herumging, riss er ihn ab und warf ihn achtlos beiseite.
Es war die schrecklichste Autofahrt, die Tanita je erlebt hatte. Mick raste nicht etwa, worauf sie sich schon halbwegs gefasst gemacht hatte. Im Gegenteil, er fuhr mit fast erschreckender Besonnenheit. Sonst fluchte er immer beim Autofahren, er konnte sich nie mit Kommentaren zum Fahrstil anderer Verkehrsteilnehmer zurückhalten. Jetzt aber schien ihm alles gleichgültig zu sein, was ihn nicht unmittelbar betraf. Sein Schweigen war so eisig, dass Tanita Magenschmerzen bekam.

Zuhause stieg sie wie vor zwei Tagen vor ihm die Treppe hoch. Kurz kam ihr der Gedanke, bei Frau Kunstein zu klingeln, bei ihr Zuflucht zu suchen. Einer alten Frau würde Mick doch nichts tun, oder? Aber noch während sie darüber nachdachte, hatte sie schon die Treppe ins nächste Stockwerk zur Hälfte hinter sich.

Er schloss auf, ließ sie in die dunkle Wohnung eintreten.

Klack. Geradezu sanft glitt die Tür ins Schloss. Tanita drückte auf den Lichtschalter, presste sich dann mit dem Rücken an die Wand gegenüber der Garderobe, wäre am liebsten mit ihr verschmolzen.

Noch immer war Mick merkwürdig ruhig. Er zog seine Lederjacke aus und hängte sie auf. Er zog seine Sweatshirtjacke aus und hängte sie auf.

Selbst die kleinste seiner Bewegungen vibrierte vor Anspannung.

Zum ersten Mal seit er sie... eingefangen hatte, schaute er sie plötzlich wieder an. Sein Blick war immer noch hart, aber nicht mehr kalt.

Jetzt brannte er.

Steifbeinig kam er auf sie zu. Knopf für Knopf öffnete er sein Hemd, riss es sich schließlich ungeduldig vom Leib. Sie folgte dem Kleidungsstück mit den Augen, wie es kurz durch die Luft flog und dann in einer Ecke auf dem Boden landete. Krampfhaft fixierte sie das Häufchen Stoff, um ihn nicht ansehen zu müssen. Nur noch in Unterhemd und Jeans stand er vor ihr, so dicht, dass sie seine Hitze fühlen konnte.

Unvermittelt griff er an ihr Gesicht, zwang sie unsanft, ihm in die Augen zu schauen. Verzweifelt versuchte sie, etwas von ihrem Mick darin zu erkennen, wollte ihn stumm darum bitten, mit ihr zu sprechen, aber nicht...

Er ließ sie wieder los. Einen Schritt trat er zurück, seine Augen wurden schmal. Seine Rechte ballte sich zu Faust.

Er holte aus.

Bis in ihren Körper dröhnte es, als er gegen die Wand schlug, zwanzig Zentimeter neben ihrem Kopf. Erst als sie nach Luft schnappte, merkte sie, dass sie in ihrer Furcht den Atem angehalten hatte.

Plötzlich wagte sie es wieder, sich zu rühren, wich ihm mit zitternden Knien aus in Richtung Wohnzimmer. Sein wilder Blick hielt sie fest, er folgte ihr. Gerade als sie dachte, diesmal würde er sie wirklich schlagen, bog er abrupt ab. Er stürmte geradezu ins Zimmer, hielt auf den Tisch zu. Ein paar Bücher waren darauf, eine halbvolle Flasche Mineralwasser, zwei Gläser, Fernbedienung, Zeitschriften...

Nicht einen Augenblick hielt er in der Bewegung inne. Rücksichtslos fegte er mit dem Arm über die Tischplatte und alles, was sich darauf befand, polterte zu Boden. Jetzt blieb er stehen, starrte wie von Sinnen den Tisch an, packte ihn kurzerhand und warf ihn um, als wäre er so leicht wie Pappe. Mit einem gewaltigen Krachen landete das Möbelstück auf der Seite.

Als nächstes griff er sich einen Stuhl, schmetterte ihn wieder und wieder gegen die Wand, bis er nur noch die Lehne in den Händen hielt. Der zweite Stuhl flog hinterher, büßte fast ein Bein ein.

Inzwischen hockte Tanita im Türrahmen und beobachtete ungläubig, wie Mick wahnsinnig und blind vor Wut nach und nach fast die komplette Einrichtung des Wohnzimmers zertrümmerte. Bücherregal. Sessel. Schrank.

In einer Tür hatte der Schrank eine Glasscheibe, dahinter standen ein paar alte Fotoalben und Andenken aus Urlaubsreisen. Hier hatte es den Anschein, als würde er einen Herzschlag lang innehalten, aber dann siegten Zorn und Hilflosigkeit.

Tanita hatte das Gefühl, die Splitter würden sich in ihre eigene Haut bohren, als seine Faust das Glas durchschlug. Nicht einmal jetzt gab er einen Ton von sich, aber anscheinend reichte es ihm.

Mit hängenden Schultern stand er vor dem Schrank und starrte schnaufend ins Leere, während von seiner rechten Hand das Blut auf den Boden tropfte. Als er den Kopf wandte und Tanitas Blick suchte, stöhnte sie leise auf. Er sah aus, als hätte er all die Gewalt, die er eben ausgeteilt hatte, selbst einstecken müssen. Er schlug die Augen nieder, verbarg den Ausdruck von Schmerz und Trauer darin und schlurfte mit gesenktem Kopf zum Sofa, dem einzigen Möbelstück, das hier noch an seinem Platz stand.

In diesem Moment klingelte es an der Tür.

Sie zuckte zusammen. Unsicher schaute sie zu Mick, aber der hatte sich aufs Sofa fallen lassen und tat, als hätte er nichts gehört.

Es klingelte ein zweites Mal, zusätzlich ertönte ein energisches Klopfen. Tanita erhob sich langsam, zog sich auf dem Weg zur Tür noch die Jacke aus und hängte sie an der Garderobe auf.