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Kampf des Willens Ch. 01

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Der September fand wie jedes Jahr im Leskower Schlossfest seinen Abschluß.

Außenstehenden war es oft schwer nachvollziehbar, warum die kleine Stadt ihr mittelalterliches Spektakel als Schlossfest betitelte, wenn es doch in der Umgebung des Leskower Sees nicht einmal die Ruine eines Schlosses gab. Wie jedes Jahr aber waren die Geschichts- und Deutschlehrer sehr bemüht, den Schülern die Legende, die diesen Umstand erklärte, näher zu bringen. Die Erklärungsversuche wurden inzwischen längst mit gelangweilten Seufzern begrüßt, dennoch sahen alle mit Freude den Festlichkeiten entgegen, die mit dem Wetttauchen der jungen Männer im schon kalten See ihren Höhepunkt fanden, und gleichzeitig die Badesaison offiziell abschlossen.

Laura hatte nicht vor, dieses Jahr überhaupt zum Festival zu gehen. Sie kannte alles schon in- und auswendig: die mittelalterlich angehauchten Kostüme, die Unmengen Bratwürste und Bier, die Reden. Außerdem ging ihr immer wieder durch den Kopf, wie sie letztes Jahr mit David hier gewesen war. Und David hatte sich vor einigen Monaten schon für das diesjährige Wetttauchen angemeldet. Damals hatte er versprochen, er werde für sie gewinnen. Ob er wohl noch immer daran teilnehmen würde? Laura jedenfalls wollte ihn gewiss nicht tauchen sehen.

Im Haus bleiben konnte sie aber auch nicht. Ihren Eltern war aufgefallen, wie seltsam sie sich in letzter Zeit benahm. Auch dass David nicht mehr zu Besuch kam, hatten sie gemerkt. Ihrer Meinung nach brauchte die Tochter nun Ablenkung, und sie bestanden darauf, dass sie aus dem Haus und ihrer Meinung nach zum Fest ging.

Stattdessen wanderte Laura ziellos durch die Straßen. Ihr entgegen kamen Familien, die in Richtung See, zur Festwiese, gingen. Aber je weiter sie sich vom Veranstaltungsort entfernte, desto ausgestorbener wurden die Straßen. Laura genoss die Stille, und ließ ihre Gedanken schweifen.

Und plötzlich, sie wusste selbst nicht, wie es gestehen war, stand sie an der Festwiese. Auf einer Bühne spielten ein paar Kinder gerade die Legende von der Prinzessin im Leskower Schloss, die sich in einen Zauberer verliebte, der aber böse war und Prinzessin samt Schloss auf den Grund des Sees sinken ließ, dann selbst auch verschwand, vielleicht im selben See, um die Prinzessin nur für sich zu haben. Am Ufer machte sich eine Gruppe junger Männer zum Wetttauchen bereit.

Mit Herzklopfen entdeckte Laura David unter ihnen. Seine dunklen Haare waren vom Wind zerzaust, sein Oberkörper war, obwohl es schon Herbst war, noch sommerlich braungebrannt. An seinem Arm glitzerte etwas. Laura erkannte das Armband, dass er ihr hatte schenken wollen.

Die breite, etwas unförmige und bleiche Figur neben David überraschte Laura – es war Martin. Nun, auch Martin war neunzehn Jahre alt, und hatte somit das Mindestalter zur Teilnahme am Wetttauchen erreicht. Aber nie hätte Laura oder irgendjemand anders damit gerechnet, dass Martin freiwillig an etwas so Anstrengendem teilnehmen würde, noch dazu den Blicken der ganzen Stadt ausgesetzt. Aber da war er nun. Ihn nur in Shorts zu sehen, und mit einer Kette mit Amulett, die er um den Hals trug, ließ ihn Laura noch unangenehmer erscheinen, als er ihr ohnehin schon war. Obwohl nicht besonders dick, erinnerte er sie irgendwie an Pudding.

Laura trat näher heran, zwischen die anderen Zuschauer. Da sie nun schon einmal hier war, konnte sie auch zusehen.

Des Bürgermeisters Stimme tönte aus Lautsprechern über die Wiese und erklärte für Besucher und für Einheimische, die vielleicht seit dem letzten Jahr alles vergessen hatten, die Regeln des Wetttauchens: Ein Kästchen mit einem Preis war in etwa drei Metern Tiefe, in einem eingeschränkten Bereich des Sees, versenkt worden. Die Wetttauchenden mussten unter Wasser danach suchen – das durch das Kästchen symbolisierte Schloss „befreien". Zum Dank durften sie es dann behalten, und erhielten außerdem einen Kuss von der „Prinzessin", einer Elftklässlerin mit langen blonden Haaren und eingefrorenem Lächeln, die im mittelalterlichen Kleid neben dem Bürgermeister auf der Tribüne stand, und in einem dem Festival vorangehenden Wettbewerb zur diesjährigen Schönheitskönigin gekürt worden war.

Dann gab der Bürgermeister das Signal zum Beginn des Tauchwettbewerbes. Die etwa acht jungen Männer, die da am Ufer standen, rannten schnell ins kalte Wasser des Sees, warfen sich nach vorn, und schwammen auf den für den Wettbewerb mit Bojen markierten Bereich zu. Gleich mehrere von ihnen jedoch schienen ihre Schwimmbewegungen nur schwer koordinieren zu können. Sie schwammen auffällig langsam, oder aber in eine ganz falsche Richtung, und so erreichten am Ende nur drei Jungen den Bereich, in dem das Kästchen sich befand – sowohl Martin als auch David waren unter ihnen. Die anderen Teilnehmer waren zu weit entfernt, um noch eine Chance zu haben, und gaben daher auf.

Wie auf Kommando tauchten die Drei nun gleichzeitig ins Wasser ein – es war eine Sache von Geschicklichkeit wer zuerst den Grund erreichte, und eine Sache von Glück, wer dann auch wirklich das Kästchen zuerst im dunklen Wasser des Sees finden würde. Die Leute am Strand jubelten ihnen zu, riefen den Namen ihres Favoriten, wenn sie jemanden der drei kannten.

Nach etwa einer Minute wurden die Jubel leiser und nach und nach von einem besorgten Gemurmel ersetzt. Sollten die Taucher nicht längst wieder an der Oberfläche sein, einer von ihnen mit dem Kästchen in der Hand? Doch der See lag still da. Laura hielt den Atem an.

Dann, endlich, tauchte ein Kopf aus dem Wasser: Martin, und im nächsten Moment hielt er triumphierend das Kästchen in die Höhe. Ein paar Leute begannen erleichtert zu jubeln, und der Jubel wurde lauter, als einige Sekunden später auch Davids Kopf an der Oberfläche erschien. Beide begannen auf das Ufer zuzuschwimmen.

Aber noch fehlte ein Taucher, Erleichterung und Jubel ließen schnell wieder nach und machten gespanntem Schweigen Platz. Minute um Minute verstrich, aber der dritte Taucher tauchte nicht wieder auf.

*

Der dritte Taucher hieß Peter Grabow, war zwanzig Jahre alt, und wollte ab Oktober Sport und Geographie auf Lehramt studieren. Schwimmen und Tauchen war schon immer seine Spezialität gewesen, teilte die schluchzende Mutter wieder und wieder jedem in ihrer Umgebung mit.

David und Martin sagten aus, dass keiner von ihnen Peter auch nur angefasst habe. Er sei dort mit ihnen unter Wasser gewesen, habe aber den Grund zu weit vom Kästchen entfernt erreicht. Als sie wieder auftauchen wollten, habe es ausgesehen (insofern sie dass unter Wasser, noch dazu in so dunklem Wasser wie das des Leskower Sees erkennen konnten) als ob er noch immer den Grund des Sees absuche. David fügte noch etwas hinzu. Es habe beinahe so ausgesehen, als wollte Peter nicht wieder in Richtung Oberfläche schwimmen.

Nachdem die Leiche geborgen worden war, musste die Aussage der beiden bestätigt werden – nichts wies darauf hin, dass Peter unter Wasser irgendeinen Kampf hätte ausstehen müssen. Es schien, als sei er einfach weiter den Grund des Sees entlang geschwommen, bis er eben gestorben wäre.

Die Siegeszeremonie wurde nicht abgehalten. Martin sah dennoch recht zufrieden mit seinem Sieg aus. Er hielt das Kästchen fest, wollte niemandem den Inhalt zeigen – aber es fragte sowieso kaum jemand danach, alle waren mit Theorien um Peters Tod und eventuellem Selbstmord beschäftigt. Dass er keinen Kuss von der Prinzessin in Mittelalterkleid und mit Werbeplakatlächeln erhielt, schien Martin nichts auszumachen.

Laura schaute sich nach David um. Er war auf dem Weg in die Umkleideräume. Stumm, und mit einem verstörten Gesichtsausdruck.

*

Vielleicht zwei Wochen waren seit dem Fest vergangen. Der Oktober brachte kalten Wind und viel Regen mit sich, die Bäume verloren ihre Blätter beinahe über Nacht.

Laura konnte sich im Unterricht besser konzentrieren. Ständig müde war sie allerdings immer noch. Ihre Eltern sahen jetzt jedoch den Grund darin in dem Schock, einen ehemaligen Schüler ihrer Schule ertrinken gesehen zu haben. Die meisten Leute der kleinen Stadt waren erschüttert, und auch Laura nahm sich das Ereignis bestimmt zu Herzen, hatte wahrscheinlich Alpträume und daher wenig erholsamen Schlaf.

Tatsächlich erwachte das Mädchen oft verschwitzt und mit rasendem Herzen. In jener Oktoberacht war es das Klappern ihres Schlafzimmerfensters, das sie weckte. Wie immer fühlte sie sich mehr angestrengt als erholt. Sie war verschwitzt und doch war ihr kalt. Einige Momente lang lauschte sie dem Klappern des Fensters, ehe sie wusste, woher das Geräusch kam. Dann erhob sie sich, um das Fenster zu schließen. Durch die Bewegung erwachte sie vollständig, und durchforschte ihre Erinnerung an den vergangenen Abend. Sie hatte das Zimmer gelüftet, ja, aber sie konnte sich auch deutlich daran erinnern, dass sie danach das Fenster wieder geschlossen hatte.

Laura machte das Licht an und sah sich im Zimmer um. Auf dem Boden, zwischen dem Fenster und ihrem Bett, entdeckte sie ein paar kleine, dunkle Flecken auf dem Boden. Sie hockte sich hin, um sie näher zu untersuchen. Ein wenig Schlamm, ein paar Wassertropfen, ein feuchtes Blatt, angeordnet in der Form eines schlanken Fußabdrucks. Sie setzte sich hin, um ihre eigenen Füße untersuchen zu können. Zwischen ihren Zehen steckte ein wenig Schlamm, auch die Sohlen waren schmutzig, an einer Ferse klebte ein weiteres, halb verfaultes Blatt.

*

Laura begann, Angst vor dem Schlaf zu haben. Sie hatte auch Angst vor dem Wachsein, und vor allen Dingen vor der Schule. Krankheit und Fieber schienen der einzige Ausweg. In einem halbwachen Zustand lag sie im Bett, und wehrte sich gegen den Schlaf, der sie doch irgendwann immer wieder übermannte. Und wie schon zuvor, fühlte sie sich beim Erwachen nicht erholt, sondern es schien, dass ihr Fieber jedes Mal nur noch mehr anstieg.

Ihre Eltern blickten besorgt auf ihre Tochter, wann immer sie das Zimmer betraten und ihr ein Fieberthermometer, eine Schüssel zum Inhalieren, oder etwas zum Essen oder Trinken brachten. Als die Mutter auf dem Weg zur Arbeit kurz an der Schule angehalten hatte, um Lauras Krankenschein vorzuweisen, war sie von der Englischlehrerin angesprochen wurden. Man kannte sich, wie es nun einmal war in solch einer kleinen Stadt, und so konnte die Lehrerin die Mutter sofort als zu Laura gehörig einordnen und sie somit über den beängstigenden Leistungsabfall der ehemals so guten Englischschülerin informieren.

Laura war das einzige Kind ihrer Eltern, und auch was die Bildung betraf, setzten diese hohe Hoffnungen in sie. Je länger jedoch das Fieber der Tochter anhielt, um so mehr trat die Sorge um Lauras Leistungen zurück, die Gesundheit hatte natürlich Vorrang.

Laura selbst kämpfte weiter gegen den Schlaf. Zwar konnte sie sich beim Erwachen nie an ihre Träume erinnern, aber dennoch war da so ein unangenehmes Gefühl, als hätte sie Alpträume gehabt. Vage Erinnerungen schwebten in ihren Gedanken, die sie fast greifen konnte. Doch bevor sie irgendeine Form annahmen, verschwanden sie ganz. Sie schaffte es immer häufiger, irgendwann in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf zu schrecken. Alles war so wie am Abend zuvor – auch das Fenster fand sie nie mehr offen vor.

Der Oktober neigte sich dem Ende, der November brachte Stürme und schlechtes Wetter mit sich. Laura war beinahe froh, krank zu sein und nicht hinaus in den Regen zu müssen. Dennoch erkältete sie sich zusätzlich zu ihrem Fieber, und nieste und hustete den ganzen Tag. Nur nachts, im Schlaf, hörten ihre Eltern keine Hustenausbrüche.

*

An jenem Sonntag kämpfte sie wie immer lange gegen den Schlaf an. Als er sie dann doch zu besiegen schien, setzte sich der Kampf irgendwo in einer Ecke ihres Gehirnes fort. Ohne sich dessen bewusst zu sein, versuchte sie verzweifelt aufzuwachen. Schließlich gelang es – sie schreckte auf.

Nein, sie saß nicht in ihrem Bett. Sie stand schon. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um die dunkle, unerwartete Umgebung aufzunehmen. Es war kalt, und sie trug nur ein Nachthemd. Unter ihren Füßen befand sich kalter, nasser Matsch aus Regen, Erde, und verfaulten Blättern. Um sie herum – Bäume. Sie befand sich im Wald, und glaubte irgendwo in einiger Entfernung den Leskower See dunkel zwischen den Stämmen zu sehen. Ein eisiger Wind wehte, und Regen klatschte ihr ins Gesicht.

Einige Sekunden stand Laura wie erstarrt. Dann schrie sie.

*

Laura erwachte in ihrem Bett. Es schien ihr, als seien nicht mehr als einige Sekunden vergangen, seit sie in den Wald hinein geschrieen hatte. Ein Blick auf das Fenster jedoch verriet ihr, dass es bereits spät am Morgen war – im Wald war es noch dunkle Nacht gewesen.

Ein Traum? Laura glaubte, den Wind, den Regen, den Schlamm unter ihren Füßen zu deutlich gespürt zu haben. Außerdem hatte sie sich in den letzten Wochen nie an ihre Träume erinnern können.

Laura untersuchte Fußboden, ihre eigenen Füße. Oberflächlich schien alles in Ordnung, aber zwischen ihren Zehen befanden sich wieder winzige Schlammreste. Als habe sie sich die Füße gesäubert, sei aber nicht gründlich genug gewesen.

Sie war sich nicht sicher, begann, ihren Körper weiter zu untersuchen – den Oberkörper, die Beine. Als sie an ihrem Hintern anlangte, zuckte sie leicht zusammen. Die Berührung ihrer Finger direkt auf den Anus tat weh. Die Umgebung fühlte sich leicht geschwollen an.

Umso mehr Laura darüber nachdachte, um so sicherer war sie sich, dass sie vor einigen Wochen ein leichtes Stechen beim Verrichten ihrer Notdurft gespürt hatte, das aber mit der Zeit nachließ. Und jetzt, dessen war sie sich sicher, würde Nummer Zwei ihr bestimmt Schmerzen bereiten.

*

Langsam ging es ihr wieder besser – Laura wusste selbst nicht genau, ob das – was auch immer es war – was mit ihr geschah, seltener wurde seit jener Nacht, oder ob es vielleicht ihr Wunsch war, gesund zu werden. Sie wollte die Kraft haben, die sie brauchte, um herauszufinden, was da vor sich ging. Und seit sie wieder aufstehen konnte, sich an ihren Computer setzen und diverse Seiten mit elektronischen Geräten im Internet durchforsten konnte, wusste sie, was sie noch dazu brauchte. Aber das kostete einiges: Ein kleines, digitales Diktiergerät schien ihr die beste Idee. Eines mit genug Speicher, mehrere Stunden aufnehmen zu können.

Selbst konnte sie das nicht kaufen, aber Weihnachten wäre schon irgendwann da. Sie musste bloß ihre Eltern davon überzeugen, ihr genau das zu schenken. Und das war leichter als gedacht – sie waren froh, ihre Tochter munterer und ohne Fieber wieder bei den gemeinsamen Mahlzeiten am Tisch zu haben. Selbst eine Rückkehr in die Schule in baldiger Zeit schien absehbar. Und dass Laura auf einmal die Idee einer journalistischen Laufbahn in Erwägung zog, kam ihren ehrgeizigen Vorstellungen von der Zukunft des Kindes eigentlich nur entgegen. Ein Diktiergerät, um vielleicht schon jetzt für die Schülerzeitung oder ähnliche Medien arbeiten zu können? Nun gut, warum eigentlich nicht. Aber bis Weihnachten sollte sie dennoch warten müssen.

*

Laura kehrte zwei Wochen vor Beginn der Weihnachtsferien in die Schule zurück. Nur wenige Mitschüler schienen ihre Abwesenheit bemerkt zu haben, sie war nie besonders auffällig gewesen, und so konnte sie sich ohne Fragen in den Schulalltag eingliedern. Ein paar Lehrer fragten nach ihrer Gesundheit, aber selbst sie stellten sich mit vagen Antworten zufrieden. Alles schien wie immer.

Nur als sie das erste Mal wieder das Schulgebäude betrat, entdeckte sie David, der ihr einen undefinierbaren Blick zuwarf, und sich dann rasch umdrehte und davonging. Laura hatte ihn inzwischen seit mehreren Wochen nicht gesehen, und im Grunde auch wenig an ihn gedacht. Aber dieser Blick, die Sekunde, die sie in seine dunklen Augen blickte, ließen ihr einen Blitz in die Magengrube fahren.

Eine seltsame Sehnsucht schmerzte in ihr, als Laura ihr Klassenzimmer betrat und sich auf den gewohnten Platz setzte. Erst nach einiger Zeit nahm sie wahr, dass Martin fehlte. Da sie jedoch auch in der Zeit, da sie neben ihm saß, selten ein Wort mit ihm gewechselt hatte, dachte sie kaum darüber nach.

*

Weihnachten kam, ohne dass irgendetwas Besonderes geschehen wäre. Laura fühlte sich inzwischen wieder ganz gesund. In den Ferien fuhr sie über Neujahr mit ihren Eltern zu einer Tante in Bayern, eine Art Familientradition, an der sie ohne Protest jedes Jahr teilnahm. Immerhin hatte sie dort die Möglichkeit, Ski zu fahren. Die Landschaft zu Hause erlaubte dies nicht.

Laura hatte das gewünschte Geschenk erhalten, und noch einige Bücher über Journalismus und gutes Schreiben – sie bereute ihren Wunsch jedoch fast, denn seit jener Nacht im Wald war nichts dergleichen mehr geschehen. Sie fühlte sich erholt nach dem nächtlichen Schlaf, und in den letzten Unterrichtswochen, an denen sie vor den Weihnachtsferien noch teilgenommen hatte, konnte sie sich problemlos konzentrieren. Sie war wieder vollkommen gesund, und die winterliche Luft im verschneiten Bayern tat ihr gut.

***

Am ersten Unterrichtstag im neuen Jahr war auch Martin wieder da. Als Laura das Klassenzimmer betrat – es war Montagmorgen, und die Woche begann wie immer mit dem Mathematikunterricht – saß er bereits auf seinem Platz in der letzten Bank der Fensterreihe. Er blickte hoch als Laura auf ihren Platz zuging, und als er sie sah, lächelte er. Unwillkürlich lächelte sie zurück. Im nächsten Moment musste sie daran denken, wie falsch und unangenehm sein Lächeln doch aussah. Dennoch war sie überrascht. Lächeln war nichts, was Martin besonders oft tat.

Die erste Hälfte der Unterrichtsstunde verlief ausgesprochen gut. Laura war erholt und arbeitete konzentriert mit. In den Ferien hatte sie sich an den Abenden den während ihrer Krankheit verpassten Stoff selbst erarbeitet. Obwohl Mathematik gewiss nicht ihr Lieblingsfach war, konnte sie sich doch häufig melden und richtige Antworten geben.

Dann jedoch begannen ihre Gedanken erneut abzuschweifen. Beim Klingeln schreckte sie auf – sie hatte keine Ahnung, was die Lehrerin während der letzten zehn Minuten erklärt haben könnte. Außerdem tat ihr der Hintern mehr weh, als dies der harte Holzstuhl rechtfertigen könnte. Im Grunde fühlte es sich so an, als habe sie jemand ziemlich kräftig dort hinein gekniffen. Nachdenklich wanderte Laura zum nächsten Unterrichtsraum. Geschichte. Eines der Fächer in denen sie selbst im Oktober keine Probleme gehabt hatte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass Martin nicht in ihrem Geschichtskurs war. Doch auch der Englischleistungskurs, und der Kunstunterricht danach verliefen ohne besondere Vorkommnisse.

Dennoch war Laura besorgt, und als sie abends ins Bett ging, beschloss sie, dass es nun vielleicht an der Zeit wäre, ihr neues Diktiergerät auszuprobieren. Sie hatte schon vor längerer Zeit eine versteckte kleine Tasche an die Innenseite ihres Nachthemdes genäht, gerade groß genug um das winzige Diktiergerät darin zu verstecken. Gegen elf Uhr abends schaltete sie es ein – in acht Stunden würde sie aufstehen müssen, und für diese Zeit genügte der Speicherplatz des Gerätes ohne Probleme.

***

Als Laura am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so müde wie schon lange nicht mehr. Außerdem nieste und hustete sie. Draußen war es noch fast dunkel, und in der Dunkelheit tanzten Schneeflocken.

Am liebsten hätte sie sich sofort an den Computer gesetzt, um die Aufnahmen ihres Diktiergeräts auszuwerten, doch zunächst musste sie einen weiteren, langen Schultag über sich ergehen lassen – Martin saß zwar neben ihr, und blickte sie einige Male mit seinem seltsam verschwommenen Blick an, doch ansonsten verlief der Tag ruhig.

Sobald sie wieder zu Hause war, machte sie sich an die Auswertung ihrer nächtlichen Aufnahmen. Ihre Eltern waren noch auf der Arbeit. Dennoch hätte Laura normalerweise zunächst ihre Hausaufgaben erledigt, sie war sich ihrer Pflichten bewusst. Doch die Neugier und auch ihre Angst war stärker.