Das Refugium Teil 3 - Kapitel 01

Manfreds Fantasie reichte.

"Jeder der sofort alle Waffen wegschmeißt hat eine Chance, ungeschoren davonzukommen. Jeder der auch nur einen gefährlich aussehenden Kugelschreiber behält, wird von seinen Kameraden gnadenlos attackiert."

"Genau." Sandy sah, dass Manfred der Gedanke, dass die Marauder ihre Waffen gegeneinander richten würden, sehr gefiel. Langsam bekam sie Aufwind und wurde zuversichtlich, dass ihr Manfred ihren Alleingang und die Heimlichtuerei verzeihen würde.

"Ich denke, mit diesem Zeug kann man sich die meisten Gegner vom Hals halten. Und es gibt noch andere Geschosse mit anderen Spezialwirkungen. Spontane Kotz- und Durchfallerreger zum Beispiel, oder plastikfressende Turbo-Bakterien. Du kannst ja mal die Handbücher lesen, oder Lisa fragen, auch ihre Ideen sind eingeflossen. Aber für den Fall, dass alles versagt, sozusagen als letzte Option, habe ich noch das da eingebaut."

Sandy drückte wieder ein Icon. Aus dem Bauch des Copters schob sich eine halbkugelige Halterung, aus der das unverwechselbare mehrläufige Rohr einer Gatling-Kanone ragte. Manfred erkannte das Modell sofort, es war das, mit welchem Lisa die Marauder dezimiert hatte, während sie Sandy befreiten.

"Überrascht? Ich bin nicht mehr die idealistische Träumerin, die ich einmal war. Im Käfig der Marauder ist auch ein wenig von mir gestorben." Sandy sah Manfred prüfend an, wie würde er reagieren?

Der war ziemlich schockiert. "Wo hast du das her? Ich dachte, die Stationscomputer weigern sich, ohne Autorisierung von höchster Stelle Waffen zu produzieren. Ich kann mich nicht erinnern, meine Zustimmung gegeben zu haben?"

"Ich habe sie aus deinem Heli ausgebaut. Tut mir leid, ich weiß, ich hätte fragen sollen."

"In der Tat, das hättest du." Manfred blickte zornig zu Sandy. Aber er beruhigte sich schnell. Er gestand sich ein, dass die Zeiten von Verbrennungsmotor-getriebenen Rotor-Helikoptern vorbei waren. Die elektrogetriebenen Copter der Station waren um so viel besser, dass die alten Modelle daneben wirkten wie ein Gleiter von Otto Lilienthal neben einem Hochleistungs-Segelflieger. Auch er selbst flog inzwischen lieber elektrisch, alleine schon deswegen, weil der Aufwand zur Synthetisierung von Flugbenzin so unglaublich hoch war. Dennoch hing er aus sentimentalen Gründen an seinem alten Kampfhubschrauber, er hatte ihn eigenhändig eingemottet. Dass er nun ein zahnloser Tiger war, schmerze Manfred in seinem Innersten nicht wenig.

"Ich werde die Genehmigung erteilen, eine Zweite zu bauen, dann ist mein Heli wieder komplett."

Sandy errötete ein wenig, und blickte verlegen an Manfred vorbei.

"Du hast doch nicht etwa noch mehr ausgebaut, oder?"

Manfred ließ Sandy stehen, eilte zurück in die große Halle, und schaltete das Licht ein. Die Deckenlichter sprangen an, und im gleißenden Licht standen, ordentlich nebeneinander aufgereiht, die zahlreichen Fluggeräte, darunter auch sein Heli. Er schien soweit komplett zu sein und sah aus wie immer. Manfred scannte die lange Reihe der Maschinen, alles okay.

"Du musst jetzt sehr stark sein, und bitte schimpfe nicht los, bevor du nicht alles gesehen hast." Sandy drückte wieder ein Icon.

Plötzlich verschwand das gewohnte Bild mit all dem vertrauten Fluggerät wie weggewischt. Es löste sich einfach in Luft auf, wie Nebelschwaden in der Morgensonne. Er war die ganze Zeit mit einer Projektion genarrt worden. Vor sich sah Manfred, was tatsächlich in der Halle stand. Sie war leer, es war kein einziges Flugzeug mehr da, auch sein Helikopter fehlte.

"Du hast alles weggeschafft? Wo sind die Flieger geblieben? Wo ist mein Heli?"

"Entschuldige." Sandy gab sich zerknirscht. "Ich habe viel zusätzliches Roh-Material gebraucht. Die Metall-Vorräte der Station hätten nie und nimmer gereicht, die 'Hermes' zu bauen. Ich habe den alten Krempel recycelt."

Manfred rang mühsam um Beherrschung.

"Was zum Teufel ist die 'Hermes'?"

Wortlos drückte Sandy auf ihren Controller.

In der Mitte der Halle enttarnte sich eine Kette von fünf strahlend weißen Containern, die alle exakt in Reih und Glied hintereinander diagonal durch die Halle aufgestellt waren. Jeder mochte etwa acht Meter lang und vier Meter breit sein. Oben waren sie mit einer Gitterstruktur durchverbunden, die an einen Fachwerkträger einer Brücke erinnerte. Darüber angebracht, und einer Fahrbahn nicht unähnlich, zog sich in der ganzen Länge ein breiter, viereckiger Kasten mit abgerundeten Seiten.

"Darf ich vorstellen, das ist die 'Hermes'", sagte Sandy leichthin.

"Was soll das sein? Ist das eine Art Containersiedlung oder so?" Manfred hielt seinen Zorn nur mühsam zurück.

"Nein", sagte Sandy fast beleidigt, "das ist dein neuer Dienstwagen, der zeitgemäße Ersatz für deinen vorsintflutlichen Heli. Schau genau zu." Wieder folgte ein Fingerdruck auf ein Icon.

An der oberen Kastenstruktur klappten die Seitenwände herunter, und ein lautes Rauschen und Zischen ertönte. Wie in Zeitlupe quoll beidseitig ein über die ganze Länge reichender Wulst heraus, und blähte sich immer weiter auf. Zwei gasgefüllte Röhren, vorne und hinten spitz zulaufend, bildeten sich, strebten nach oben und wurden immer dicker. Eine Art Himmels-Katamaran, eine Hindenburg mit zwei Tagkörpern, entfaltete sich vor Manfreds staunenden Augen. Als die Tragkörper nur noch wenige Meter von der Hangardecke entfernt waren, genügte der Auftrieb, und ganz sanft hoben die fünf Container einige Zentimeter vom Boden ab. Das Rauschen und Zischen verstummte. Ein aus fünf aneinandergereihten Segmenten bestehendes Luftschiff schwebte knapp über dem Boden.

Der Anblick war so überwältigend, dass Manfred das Schimpfen vergaß. Sandy machte einige Klicks auf dem Controller. An der hintersten Einheit war auf jeder Seite eine schwenkbare Antriebsgondel angebracht. Sie waren offenbar vergrößerte Versionen der Antriebseinheiten, welche die Copter antrieben. Sandy drehte sie in eine horizontale Position, und ließ sie anlaufen. Ein leises Summen und Rauschen war zu hören, und das riesige Luftschiff begann sich grazil auf der Stelle im Kreis zu drehen.

Manfred fiel sofort das weit überhängende Vorderteil auf.

"Da fehlt noch eine Einheit? Musst du noch so eine Kiste bauen?"

"Nein", antwortete Sandy, da kommt die 'Ikarus' hin. Sie ist nicht nur das Beiboot, wenn sie angedockt ist, ist ihr Cockpit auch das der Hermes. Schau!"

Sandy machte einige Wischbewegungen auf ihrem Controller. Aus der kleinen Halle wurde der neue Copter auf seinen Transportplattformen stehend herangefahren. Die Plattformen setzten sich präzise unter das Vorderteil der Hermes, und die Ikarus startete ihren Antrieb. Langsam schwebte sie an ihren Platz, und mit einem satten Klicken verankerte sie sich als Bugstück an dem Längsträger der Hermes. Nun war das Luftschiff komplett.

Sandy ließ den Anblick noch einige Sekunden wirken, dann trat sie an die Hermes heran, öffnete eine Cockpit-Tür in der weißen Seitenwand der Ikarus, und machte eine einladende Geste. "Nach Ihnen, Herr Kapitän".

Manfred ließ sich nicht lange bitten, und schwang sich in den Pilotensitz der Hermes. Er hatte seinen alten Heli für den Augenblick völlig vergessen. "Mal sehen, was du kannst", murmelte er, nahm fast liebevoll das Steuerrad in die Hand, und bewegte es probeweise ein wenig hin und her. Willig und ob ihrer Größe überraschend agil folgte die Hermes seinen Steueranweisungen.

"Machen wir zusammen einen Probeflug?" Manfred tätschelte den Beifahrersitz, um Sandy zum Einsteigen aufzufordern. "Du kannst mir gerne alles zeigen, was diese Schönheit zu bieten hat."

"Ich fliege ein Andermal mit. Ich habe das Gefühl, du und die Hermes, ihr werdet euch auch ohne meine Hilfe gut verstehen. Die Ehre, beim Jungfernflug neben dir zu sitzen kommt einer anderen Frau zu. Und jetzt ist Schluss mit dem Müßiggang, wir haben endlich wieder zu arbeiten und keine Zeit für Vergnügungsflüge. Die Welt braucht unsere Hilfe, und das am besten schon gestern."