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Dunkler Abgrund Ch. 10

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Wer auch immer diese Beamten waren, bisher hatte Robert sie noch nicht gesehen. Und er kannte alle Agenten, die mit diesem Fall betraut worden waren.

„Guten Abend, Mr. McIntyre", sagte der Mann freundlich und nickte ihm zu. Es war wirklich überraschend, wie warm und herzlich diese Stimme klang.

Roberts Blick glitt kurz zur Uhr an der Tür. „Gute Nacht, wohl eher", scherzte er lahm. Es kam nur selten vor, dass er als Cheriff vor zwei Uhr in der Nacht nach Hause kam. Sein Blick glitt von den beiden Agenten zu dem verblassten Streifen an seinem Ringfinger. Kein Wunder, dass sich seine Frau nach fünfzehn Jahren von ihm trennte und nun scheiden ließ. Er riss sich zusammen, auch wenn die Einsamkeit für einen Moment seine Gedanken beherrschte. „Wie kann ich ihnen helfen?"

Die beiden zeigten ihre Ausweise. „Wir arbeiten für die Abteilung illegale Adaption und Kidnapping", sagte die Frau, laut Ausweis Agent Cornwells, leise. „Normalerweise operieren wir an der Grenze zu Mexiko, weil viele Kinder aus den Vereinigten Staaten außer Landes geschafft und dort von Unterhändlern für viel Geld in das Adoptionssystem verkauft werden."

Robert war das nicht neu. Es gab Menschenhändlerringe, die in ganz Amerika Kinder aus Krankenhäusern und Kindertagesstätten stahlen, weil die Nachfrage an Babys groß war. Doch davon abgesehen, konnten die Kidnapper einiges an Lösegeld einsacken, während die Kinder schon lange mit falschen Geburtsurkunden in ihrer Nachbarschaft auftauchen konnten. Alle Beweise wurden so vernichtet. „Ich habe davon gehört", sagte er, weil er etwas sagen musste.

„Vor drei Stunden ging eine Vermisstenmeldung bei uns ein. Nach einem Teenager."

Robert nickte. Also hatte es doch nichts mit dem Dimesdale-Massaker zu tun. „Wie kann ich Ihnen helfen? Gibt es Hinweise darauf, dass der Junge hier gelandet ist?"

„Das Mädchen", korrigierte Agent Goldman. Er tauschte einen kurzen Blick mit seiner Partnerin. „Uns wurde mitgeteilt, dass die Akten vom Dimesdale-Massaker hier gelagert werden. Wissen sie zufällig, ob aktuelle Bilder von Grace Newlands dabei sind?"

Robert öffnete seinen Mund, verstummte dann allerdings wieder. Die Verbindung zwischen diesen beiden Fällen war ihm vollkommen schleierhaft. „Warum?", fragte er, obwohl es ihn eigentlich nichts anging. Schließlich gehörte weder Entführung noch der Fall von den Fosters in seinen Befugnisbereich.

Die Frau nickte unmerklich ihrem Partner zu, der daraufhin anfing zu sprechen. „Es gibt Grund zu der Annahme, dass die Vermisstenmeldung über Grace Newlands handelt. Das Bild ist gerade mal drei Stunden alt, das bei der Meldung beigefügt war." Er zögerte einen Moment. „Gibt es neuere Erkenntnisse darüber, ob Grace wirklich bei den Opfern dabei war?"

„Die Forensik will es nicht ausschließen", gab Robert zu. „Aber..." Er verstummte, denn er konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass sich Grace schon gemeldet hätte, wäre sie noch am Leben. Schließlich rückte ihr Überleben die ganze Geschichte in ein neues Licht. Was wenn Grace die Täterin gewesen war? Robert schüttelte innerlich den Kopf. Er hatte sie kennengelernt, kurz nachdem sie... verwaiste. Sie kam ihm so schrecklich unschuldig vor, als sie mit blecherner, kurzatmigen Stimmchen immer wieder wiederholte, dass ihre Mommy sterben musste, weil sie zu den Engeln gehörte. Er war einer der ersten gewesen, die die Todesursache als Unfall bezeichneten. Auch wenn Grace selbst es unglücklicherweise so hinstellte, dass sie ihre Mutter absichtlich umgebracht hatte. Sie war später in eine psychiatrische Anstalt gekommen, doch mehr wusste Robert nicht von ihr. Vielleicht hatte die Anstalt ihre Spuren auf Grace hinterlassen und sie zum Durchdrehen gebracht. Allerdings sagten die meisten aus ihrem Bekanntenkreis in Hollywood, dass sie eine moralisch einwandfreie Frau war, die niemals auch nur vor einem Hydranten geparkt hatte, um schnell ein Brötchen zu kaufen. Was davon wahr war, konnte Robert nach so vielen Heiligsprechungen nicht mehr auseinanderhalten, doch all ihre Bekannten beharrten darauf, dass sie ein absolut liebevoller, integrer und tugendhafter Charakter war. Besonders die Organisatoren, die mit ihr zusammen einen langen Aufenthalt in Afrika geregelt hatten, sprachen von ihr in den höchsten Tönen. Unmöglich konnte ein Mensch über so einen langen Zeitraum hinweg irgendeinen psychologischen Schaden verbergen, der sie dazu brachte eine befreundete Familie aufs bestialischste zu ermorden. Das konnte sich Robert einfach nicht vorstellen, auch wenn man auf seine Meinung wohl kaum wert legte. Schlussendlich blieb er eben ein Kleinstadtcheriff.

„Keinerlei Spuren, was mit ihr passiert ist?", fragte die Frau.

„Es gab Blutspuren von ihr auf einem Sessel. Die DNA-Analyse hat gezeigt, dass es definitiv von Grace war." Robert massierte wieder seine Nasenwurzel, als Kopfschmerzen hinter seinen Augen zustachen. Doch das stand alles bereits in den Akten. Auch Bilder von dem Sessel. Grace musste halb darauf gelegen haben, denn das Blut war so gespritzt, als würde es zwischen ihren Schenkel hervorquellen. Wieder eine Sache, an die er sich ungern erinnerte.

„Keine Leiche?", fragte der Agent.

„Keine Teile im Mageninhalt der anderen?", fragte die Agentin im selben Moment.

Roberts Kopfschmerzen wurden heftiger. Offensichtlich hatten sie also doch die Akten gelesen, denn nur Eingeweihte wussten, dass die Fosters sich scheinbar gegenseitig und auch selbst gegessen hatten. Nachdem sie sich Teile von ihren Körpern in der Pfanne gebraten hatten. „Nein. Nur das Blut."

„Es ist ausgeschlossen worden, dass es sich um einen Blutsturz während der Periode handelt", sagte Agent Goldman. „Die Blutspuren von ihr, meine ich."

Robert nickte.

„Trotzdem war es nicht genug Blut, um tödliche Folgen zu haben", fuhr er fort. „Es ist also möglich, dass sie überlebt hat."

Robert nickte wieder. Es war möglich. Allerdings wusste er in diesem Moment nicht, ob es gnädiger für Grace gewesen wäre, hätte sie das Grauen nicht überlebt. Es musste katastrophal sein bei solchen Geschehnissen dabei zu sein und mit den Erinnerungen zu überleben. Robert selbst hatte täglich Albträume, weswegen er seine Arbeitszeit auch jeden Tag ein bisschen verlängerte.

Die beiden Agenten warfen sich wieder lange Blicke zu und schienen ein wortloses Gespräch zu führen, bis die Frau seufzte. „Mr. McIntyre", sagte schließlich Agentin Cornwells. „Bisher wurde nicht nach ihr gefahndet. Doch plötzlich taucht diese Vermisstenmeldung auf mit einem sehr frischen Bild von ihr. Von heute Nacht, um genau zu sein." Die Agentin öffnete einen Aktenkoffer, den Robert bisher vollkommen übersehen hatte und reichte ihm eine Akte.

Robert zögerte und schlug sie schließlich auf. Während er die Meldung durchging, fügte die Dame hinzu: „Diese Meldung ging zeitgleich in allen Polizeistationen ein. Auch bei uns also, obwohl wir uns eher mit Kleinkindern und Säuglingen beschäftigen. Das kam uns seltsam vor, deshalb haben wir uns erkundigt, ob es Hinweise gäbe, dass das Mädchen in Richtung Mexiko unterwegs sei. In unseren Befugnisbereich also. "

Robert erstarrte kurz, als er die Seite umschlug und auf das Bild von Grace Newlands stieß. Es gab keinen Spielraum für Verwechslungen, denn es war sie, eindeutig. Sie lag offensichtlich mit der Wange auf dem Boden und ihre Augen glänzten wirr, aber eindeutig lebendig. Mehr war nicht zu sehen. Nicht einmal ihr Hals, doch es reichte vollkommen zur Identifikation. Es war ihr viel zu junges Gesicht, das tatsächlich eher zu einem Teenager, als zu einer erwachsenen Frau passte. Sie hatte also überlebt.

„Und dabei fanden wir heraus, dass die Vermisstenmeldung von keinem Büro abgesegnet worden war. Keiner war zuständig, verstehen Sie?"

Robert schüttelte ehrlich und betäubt den Kopf. „Nein."

„Die Meldung kam nicht von einer staatlichen Behörde. Irgendjemand ist hinter dem Mädchen her und das sind nicht wir."

Robert sah auf. „Wie meinen Sie das?"

Die Frau hob den Blick zur Decke, doch ihr Partner sprang ein, bevor Robert sich dumm vorkommen konnte. „Grace Newlands Vermisstenanzeige wurde in unsere Computer geschleust. Und nicht nur in die polizeilichen, sondern in alle Systeme wie das FBI und die CIA. Man hat sich eingehackt, um nach diesem Mädchen zu suchen. Wer, glauben Sie, hat die Macht so etwas zu tun? Die Mittel, das Know-How? Um nach einem Teenager-Mädchen zu suchen, dass in Wahrheit für tot gehalten wird."

„Ich weiß es nicht...", murmelte Robert leise. „Ich habe keine Ahnung."

„Wir glauben, dass es Grace gelungen ist vor dem Mörder an der Familie Foster zu fliehen und dass der Täter nun auf der Suche nach ihr ist."

„Weshalb geht sie dann nicht zur Polizei?", fragte Robert lahm.

Agentin Cromwells lächelte langsam. „Wenn der Täter in der Lage ist, das ganze System der Polizei zu hacken... Weshalb sollte sie dann den Beamten trauen? Der Mörder könnte sich ebenso leicht eine Dienstmarke besorgen wie die Anzeige starten. Er könnte einfach hereinspazieren, das Verhör übernehmen und sie umbringen. Vielleicht glaubt sie das."

„Und was sollen wir jetzt tun?"

„Sie finden. Vor dem Täter", gab Agent Goldman trocken zurück. Er strich sich über die Narbe an seiner Wange. „Um jeden Preis."

*

Grace blinzelte, als sich die Neonröhren einschalteten. Dann schnappte sie nach Luft. „Oh mein Gott!" Sie drehte sich zu Alec um und fixierte ihn streng. „Was verbirgst du noch vor mir? Ist in diesem Haus auch noch irgendwo ein Freizeitpark versteckt?"

Alec zog einen Mundwinkel hoch. „Ich kann dich gleich herumführen, wenn du möchtest."

Sie hörte ihm nur halb zu, während sie sich umdrehte und fassungslos die Regale, Kühlschränke und Gefriertruhen anstarrte. Auf zwanzig Quadratmetern Fläche waren bis zur Decke Lebensmittel in abgepackter und frischer Form gestapelt.

„Vorratskammern", murmelte sie, als sie sich aus dem ersten Regal eine Tüte Reiskekse nahm. „Sind Kammern und nicht in Ladengröße vorhanden." Lauter fügte sie hinzu. „Wie viele Menschen sollten denn als frische Nahrung in diesem Haus gehalten werden?"

„Bei einem drohenden Angriff..." Alec lehnte sich in den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Sein Gesicht wirkte wieder unnahbar, wie immer wenn er an Damon und die drohende Gefahr dachte. „...Um die sechzig Menschen."

Grace stapelte eine Packung Fertig-Tortillas auf die Crispies und griff sich dann abgepackten Quark, Zwiebeln und allerlei Gemüse, bevor sie sich den Kühlschränken zuwandte. „Wie oft kommt so etwas vor, dass man immer vorbereitet sein muss? Ich meine, hier liegt frisches Obst und Gemüse herum!" Wirklich ärgerlich, dass sie sich an halbgaren Nudeln statt gegessen hatte.

„Alle drei Tage kommt ein Lieferant und wechselt alles aus."

Eine Tüte rutsche aus ihren Händen, als sie sich zu schnell zu ihm umdrehte. „Zahlst du ihm das oder machst du dieses Mentalisierungs-Ding mit ihm?" Sie bückte sich und hob es auf.

„Beides." Alec stieß sich von der Wand ab, kam auf sie zu und nahm ihr die Sachen ab. „Was hast du vor?"

Sie sah ihn ratlos an. „Wir haben Gäste. Es gebietet die Gastfreundschaft, dass ich ihnen etwas zu essen mache." Sie hob das Kinn. „Was dagegen?" Bevor er antworten konnte, öffnete sie die Gefriertruhe und suchte nach einer passenden Fleischbeilage für das mexikanische Essen. Sie fand Putenbrüste und angelte sie aus den Untiefen.

„Ja", sagte Alec und als sie sich verwirrt umdrehte, sah sie, dass sein Blick eine ganze Weile brauchte, bevor er von ihrem Hintern hoch wanderte. „Ich habe etwas dagegen."

Als er nicht anfing, die Lebensmittel wie ein geiziger Kobold zurück in die Regale zu räumen, hob sie die Augenbrauen. „Warum?"

Er trat langsam auf sie zu und ließ den Blick über ihren Körper wandern. „Oh, Engelchen, das weißt du doch." Er grinste leicht und sah ihr in die Augen. „Die Zeit, die du zum Kochen brauchst, können wir auch ganz anders nutzen."

Sie erschauderte, doch sie riss sich zusammen und fing das Putenfleisch auf, das ihr aus der Hand zu rutschen drohte.

„Engelchen? Das passt nicht zu mir", fand sie, doch leider würde er ihr dabei wohl kaum Mitsprachereichte einräumen, so wie sie ihn kannte. Sie betrachtete die Pute. Sie selbst mochte zwar kein Fleisch, doch das hielt sie nicht davon ab als gute Gastgeberin welches zu braten. „Von einem unsterblichen Vampir habe ich irgendwie ein besseres Zeitmanagement erhofft. Wir haben doch noch ewig Zeit dafür und heute ist das Pensum eindeutig erreicht." Stundenlang zu vögeln klang zwar gut, aber jetzt brauchte Grace mal eine Pause. „Willst du denn gar nichts anderes mehr tun?"

Alec zuckte mit den Schultern. „Nein."

Sie rollte mit den Augen, schloss die Truhe und ging langsam an ihm vorbei in die Küche zurück. „Du musst noch einen Krieg planen."

„Ich dachte, heute willst du eine Pause von dieser ganzen Krieg-und-Flucht-Sache."

„Es gibt da diesen neuen Club, der nennt sich Vernunft. Du solltest beitreten", sagte sie, während sie die Lebensmittel auf der Kochinsel ausbreitete. Das gute an Tortillas war, dass sie nur die Teigtaschen aufbacken und das Fleisch anbraten musste. Danach würde sie alle Zeit der Welt haben, um mit Alec wieder zwischen die Laken zu verschwinden. Aber eins nach dem anderen. „Außerdem hat sich die Abendplanung eindeutig geändert durch das Auftauchen von... Verbündeten." Oder wie auch immer man das nannte.

„Wie schaffst du das bloß, dass wir plötzlich die Positionen gewechselt haben?", fragte Alec zurück und legte seine Sachen dazu.

Grace zuckte mit den Schultern und tauchte ab, um nach einer Pfanne zu suchen. „Magie." Sie fand eine und stellte sie auf den Herd. „Du sollest mal mit deinen Gästen reden. Ich glaube, es laufen noch einige durch das Haus auf der Suche nach deinen Waffenkammern, um dich auszurauben."

Alec seufzte abgrundtief und schüttelte fassungslos den Kopf. „Gut. Ich trommele sie zusammen und spreche mit ihnen die weiteren Pläne ab. Soweit ich das verstanden habe, sind die Hexen auf Rache an Damon aus. Das kommt uns sehr gelegen."

„Dann schick sie nach dem Pläneschmieden in die Küche. Ich mache solange was zu Essen", rief sie ihm nach und goss Öl in die Pfanne. Dann zögerte sie: „Moment mal... Hexen?"

*

Holly zog ihre Beine an und setzte sich auf ihre Fersen, während sie die anderen Frauen beobachtete. Neben ihr saßen Michelle und Pheobe, die es sich ebenfalls gemütlich gemacht hatten, auch wenn der Rest der Hexen aufgeregt durch den Raum schwirrte. Nur die beiden Vampire, Lukan und Jean Antoine, hatten sich ebenfalls gesetzt.

„Opacus", flüsterte Michelle fasziniert und nickte in eine dunkle Ecke des Salons. „Seltene Viecher."

Holly starrte in die schattige Ecke, doch sie konnte nichts erkennen. „Was?"

„Schattendämonen. Sie beobachten uns." Wieder wies sie in die unscheinbare Ecke, doch diesmal konnte Holly sehen, wie sich der Schatten für einen Moment veränderte.

„Ich dachte, Arkansas ist auf unserer Seite. Weshalb lässt er uns beobachten?"

„Arkaios", berichtigte Pheobe sie sofort. „Das ist eine Art Vampirkönigstitel. Kein Name."

„Opacus beobachten einfach gerne. Ich glaube nicht, dass man ihnen Befehle geben kann. Zumindest habe ich davon bisher nichts gehört", fügte Michelle hinzu. „Meist leben sie in verlassenen Häusern, weil die Energie von Lebenden nicht ertragen."

„Sind Vampire also ernsthaft tot?" Sie erschauderte und warf Lukan einen schnellen Blick zu. Er erwiderte den Blick, als starre er ununterbrochen zu ihr herüber. Wieder lief ein Schauer durch ihren Körper. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er sie fast erwürgt, sie mit seinen Zähnen bedroht und ihr befohlen hatte zu tun, was er sagte. Wenn es etwas an einem Mann gab, das sie auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann war es die Neigung ihr zu sagen, wie sie zu leben hatte. Sie war selbst in der Lage Entscheidungen zu treffen. Und die erste, die sie an diesem Tag gefällt hatte, war, dass sie sich von diesem untoten Vampir fern halten würde.

„Ja." Michelle strich ihr über die Seite. „Denk immer daran; sie sind unsterblich und tot. Mach also keine Dummheiten."

„Natürlich nicht." Holly ignorierte Pheobes skeptischen Blick. „Ich hätte nicht gedacht, dass es sie wirklich gibt", fügte Holly hinzu.

„Und die ganzen Lektionen über die Kraft des Lebendigen, unserer Hexenkraft hast du einfach nur gehört und vergessen?"

Holly zuckte mit den Schultern. „Mal ehrlich: Habt ihr daran geglaubt, bis ihr einen gesehen habt?"

„Ja", sagten beide unisono.

„Kein Wunder, dass du nicht gut hexen kannst", fügte Pheobe hinzu. „Du glaubst gar nicht an die Macht der Erde."

Holly legte den Kopf schief und betrachtete das Pärchen. „Natürlich glaube ich daran. Ich sehe doch ständig, wie ihr Dinge erschafft und Zeug manipuliert. Wie könnte ich dann nicht glauben?"

Pheobe schüttelte langsam den Kopf und verzog das Gesicht. „Süße, das ist nicht dasselbe. Du musst glauben."

Michelles Gesicht verzog sich zu exakt derselben Grimasse. „Ich fass es nicht, Holly. Hast du uns denn nicht einmal zugehört?"

Holly runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. Was sollte das denn jetzt? Natürlich hatte sie zugehört und selbstverständlich glaubte sie an die Macht der Erde. Zumindest so halbwegs. Sie glaubte eben, dass die anderen hexen konnte und dass bei ihr einfach etwas nicht stimmte. Das hieß aber nicht, dass sie seltsame Erklärungen suchte, wie ihre Freundinnen Dinge erschaffen konnten. Auch wenn sich unter ihrem Bett im Laufe der letzten Jahre jede Menge Grundwissenbücher über Physik, Chemie und Magnetismus angesammelt hatten. Als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, bemerkte sie, dass Lukan sie immer noch anstarrte. Sie sah in eine andere Richtung und dabei fiel ihr als erstes auf, dass ein weiterer Mann den Raum betrat. An der verspäteten Reaktion einiger Frauen und der beiden Vampire erkannte sie, dass es sich wohl um den Schwarzen Arkaios handelte.

Unwillkürlich wich sie etwas zurück. Wenn sie Lukans stille, seltsame Art schon bedrohlich gefunden hatte und Jean Antoines freundliches, zuvorkommendes Lächeln erschreckend fand, dann war dieser narbenübersäte, eiskalte Vampir die Spitze des Eisbergs.

Sein Gesicht wirkte emotionsloser als ein weißes Blatt Papier, doch in seinen eisgrauen Augen sah sie tiefe, grauenvolle Abgründe des Leids, das er verursachen konnte. Er trug nur eine Hose, deshalb konnte sie ein dichtes Narbengeflecht auf den kräftigen Unterarmen und dem Bauch betrachten. Dieser Mann war ein Kämpfer und zwar einer von der unehrenhaften, dreckigen, unfairen Sorte. Ohne Probleme konnte sie sich vorstellen, wie sich dieser Mann von hinten an seine Opfer heranschlich und sie ohne ehrenwerten Kampf von hinten erstach. Sie rückte unwillkürlich auf dem Sofa zurück, als er seine Hände in die Hosentaschen vergrub, als wolle er einen möglichst unkämpferischen Eindruck machen. Doch Holly wusste es besser.

„Alec!", rief Jean Antoine und stand auf. Mit einer Geste des Respekts neigte er den Kopf, bevor er auf Lukan zeigte, der sich ebenfalls langsam erhob. „Darf ich dir meinen Geschaffenen Lukan vorstellen?"

Alec legte den Kopf schief und trat näher in den Raum. „Ich entschuldige mich für... die Art unseres ersten Zusammentreffen, Lukan."

Lukan funkelte ihn wütend an, doch auch er neigte verspätet den Kopf. „Schwarzer Arkaios", grüßte er zögernd. Seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut.

Verwirrt warf Holly den Frauen einen Blick zu, die zusammen mit Lukan auf der Suche nach den Waffenkammern im hinteren Bereich des Hauses gewesen waren. Keine von ihnen hatte mitbekommen, was zwischen Lukan und Alec vorgegangen war, denn sie waren schon viel früher geflüchtet. Zumindest hatte Holly das so verstanden. Was sie allerdings wirklich verwirrte, war die Tatsache, dass die Hexen aus der Küche geflüchtet waren, bevor dieser narbenübersäte, bedrohliche Alec aufgetaucht war. Und dieser war definitiv von der Besser-zuerst-flüchten-und-später-Fragen-stellen-Sorte. Doch die Frauen wirkten durch Alecs erscheinen nicht im Mindesten verängstigt.