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Eine Party und ihre Folgen 06

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„Gina?", fragte ich erstaunt, „was ist los? Was machst du hier?" Wie ich wusste, hatte Gina heute keinen Prüfungstermin, ich konnte mir daher nicht vorstellen, was sie heute in der Uni wollte. Vielleicht hatte sie ein paar Bücher in der Universitätsbibliothek ausgeliehen?

Doch ihr betrübter Blick verriet mir, dass das nicht der Grund sein konnte.

„Wir müssen reden, Julia", sagte Gina.

„Na klar, wo drückt denn der Schuh?", fragte ich besorgt.

„Nicht hier", sagte Gina. „Lass uns einen Ort suchen, wo wir beide ungestört sind."

„In Ordnung", sagte ich und schlug vor, dass wir nach draußen gehen könnten. Dort war es zwar ziemlich kalt, aber eingepackt in unsere dicken Mäntel würde uns die Kälte schon nichts anhaben können.

Wir setzten uns auf die gleiche Bank unter der Eiche, auf der wir einige Monate zuvor gesessen hatten. Jetzt im Februar war das dichte Blätterdach jedoch einer weichen Haube aus weißem Schnee gewichen. Die Luft war kalt und klar und brannte in den Lungen. Seit Tagen war das Thermometer nicht über zehn Grad minus gestiegen.

„Also, was ist los, Gina?", fragte ich, nachdem wir uns gesetzt hatten.

„Julia, ich ... ich werde Leipzig verlassen."

„Wie bitte?", fragte ich erstaunt. Hatte ich soeben richtig gehört?

„Weißt du, Julia, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich möchte, dass du weißt, dass du inzwischen meine beste Freundin geworden bist. Ich liebe dich, wie man eine Freundin nur lieben kann."

Ich nickte mit dem Kopf, denn mir ging es nicht anders. Gina war für mich in den letzten Wochen zu meiner besten Freundin geworden, für die ich alles tun würde.

„Und auch Tom ist wirklich wundervoll. Ich mag ihn wirklich sehr. Und ich mag unsere gemeinsamen Stunden im Bett. Zusammen mit dir, aber auch unsere Dreier sind für mich immer wieder wunderschön."

„Mir geht es genauso, Gina."

„Aber es schmerzt mich gleichzeitig, wenn ich sehe, wie vertraut und glücklich du und Tom miteinander umgeht. Ich meine, es ist kein Wunder, denn ihr beide seid ein Liebespaar."

Ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf Gina hinaus wollte. War sie etwa eifersüchtig? Hatte sie Angst, dass sie in unserer Beziehung keinen Platz mehr haben würde?

„Fühlst du dich etwa vernachlässigt, Gina?", fragte ich besorgt.

„Nein, das ist es nicht, Julia. Aber euch zwei so glücklich miteinander zu sehen, hat mich in den letzten Tagen erkennen lassen, was ich in meinem Leben aktuell vermisse."

„Du vermisst deinen Freund, habe ich recht?"

Gina nickte mit dem Kopf. „Genau. Weißt du, es ist unheimlich schwierig, eine Fernbeziehung miteinander zu führen. Auch wenn ich weiß, dass wir uns so sehr lieben wie du und Tom einander liebt, wird es von Tag zu Tag schwieriger für mich, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Ich spüre, dass die große Entfernung uns einander entfremdet und dass ich meinen Freund mit jedem Tag immer stärker vermisse."

„Das heißt also ..."

„Das heißt, dass ich gehen muss, genau. Martin hat ein Jobangebot in Bremen bekommen und ich habe mich dort an der Uni beworben. Ab dem nächsten Semester darf ich dort weiter studieren."

„Du wirst uns also verlassen", sagte ich traurig.

„Bist du mir böse?", fragte Gina.

Ich rang mir ein Lächeln ab. „Nein. Wie könnte ich denn auch? Ich kann mir vorstellen, wie es dir gehen muss. Und ich wünsche dir in Bremen alles Gute. Du hast genau die richtige Entscheidung getroffen und ich bin glücklich, wenn Martin und du es miteinander werdet. Aber versprich mir bitte eine Sache."

„Und die wäre?"

„Dass wir in Kontakt bleiben. Dass wir uns in den Semesterferien besuchen. Du mich hier in Leipzig und ich dich in Bremen."

„Aber natürlich. Wir sind doch beste Freundinnen."

Wir umarmten uns lange und beide hatten wir Tränen in den Augen als wir an diesem Nachmittag voneinander Abschied nahmen. Ich weiß nicht, wie lange wir auf der Bank saßen. Irgendwann waren wir völlig durchgefroren.

Am Abend erzählte ich Tom von Ginas Umzugsplänen. Auch er war traurig. Für unsere Zukunft bedeutete dies eine große Veränderung.

Doch im Gegensatz zu mir gelang es Tom, seine Gefühle ganz gut zu kontrollieren. Ganz pragmatisch sagte er: „Ich fürchte, dass du dir eine neue Bettgespielin suchen werden musst."

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ginas Umzug bedeutete selbstverständlich auch, dass ich mit ihrem Weggang auch meine gelegentlichen Ausflüge in die Welt des lesbischen Sexes fortziehen würden. Doch mit diesen Dingen konnte und wollte ich mich noch gar nicht auseinandersetzen.

Vier Wochen später war es so weit. Ich hatte Gina versprochen, ihr bei ihrem Umzug zu helfen und fleißig hatten wir ihre Sachen in Umzugskartons gepackt. Martin hatte sich von einem Kumpel, der bei einer Speditionsfirma in der kaufmännischen Abteilung tätig war, einen Umzugswagen geliehen und wollte die Sachen heute noch nach Bremen fahren. Tom hatte ursprünglich ebenfalls dabei helfen wollen, doch seine Mutter Barbara hatte sich überraschend zum Besuch angemeldet und er sollte ihr die Stadt ein wenig zeigen. Vor Jahren hatte Barbara selbst in Leipzig studiert und sie wollte wissen, wie sich die Stadt inzwischen verändert hatte.

„Das war die letzte Kiste", sagte Gina geschafft als der letzte Umzugskarton endlich auf der Ladefläche des Wagens verstaut war.

Gina gab Martin einen zärtlichen Kuss und sagte dann: „Versprich mir, dass du schön vorsichtig fährst, ja?"

„Aber natürlich. Deinen Sachen wird schon nichts passieren."

„Sehr witzig", antwortete Gina, „meine Sachen sind mir egal. Hauptsache, dass du gut ankommst und dir nichts passiert."

Nachdem Martin in den Wagen gestiegen war, winkten wir dem Wagen hinterher, bis die rot leuchtenden Rücklichter nicht mehr zu sehen waren. Da sich auch Ginas Bett schon auf dem Weg nach Bremen befand, hatten wir vereinbart, dass Gina ihre letzte Nacht in Leipzig bei uns verbringen würde. Da Toms Mutter sich ebenfalls zum Übernachten bei uns einquartiert hatte, hieß das zwar, dass wir diese letzte Chance auf einen Dreier nicht nutzen konnten, dennoch war es eine Selbstverständlichkeit für uns, Gina unsere Schlafcouch anzubieten.

Doch jetzt hatten wir beide erst einmal Hunger. Wir hatten den ganzen Tag über noch nichts gegessen und knurrend meldeten sich unsere beiden Mägen zu Wort.

„Lust auf Pizza?", fragte ich.

„Und wie!", sagte Gina.

„In Ordnung. Aber du zahlst."

Zwanzig Minuten später hatten wir uns an einen Tisch in der hoffnungslos überfüllten Pizzeria gleich um die Ecke gequetscht und warteten auf unsere Bestellung, eine Salamipizza, eine Pizza Margherita und zwei Apfelschorlen.

„Ich bin jetzt schon traurig, dass du gehst", sagte ich und streichelte dabei über Ginas Handrücken. „Ich werde dich wirklich vermissen."

„Ich werde dich auch vermissen, meine Süße. Aber weißt du was? Wie wäre es, wenn wir im Sommer gemeinsam einen Urlaub machen? Lass uns zusammen zwei Wochen an die Nordsee fahren. Wir mieten eine Ferienwohnung oder ein Ferienhaus und dann genießen wir vier, du und ich und Martin und Tom, das Leben."

„Das ist eine tolle Idee", sagte ich begeistert. „Wird bestimmt richtig lustig."

„Und hoffentlich auch prickelnd", sagte Gina lüstern grinsend. Die Bedienung brachte soeben unsere Pizzen, die noch ganz heiß waren und dampften und wunderbar nach Tomaten und italienischen Kräutern dufteten, während wir in einem intimen Kuss miteinander verschmolzen.

„Bitte sehr, die Damen", sagte der freundliche junge Mann mit rotem Kopf. Leicht verlegen bedankten wir uns.

Als er sich umdrehte, flüsterte Gina: „Hast du das gesehen? Dem schien unser Kuss aber ganz schön gefallen zu haben."

„Meinst du?"

„Aber klar doch. Hast du nicht die Beule in seiner Hose bemerkt?"

„Gina", sagte ich gespielt empört. „Ich habe zu Hause einen Freund, wieso sollte ich daher anderen Männern in den Schritt starren?"

„Na ja, dass du einen Freund hast, hält dich ja auch nicht davon ab, mit einer anderen Frau zu knutschen."

„Das ist was anderes. Von dir weiß Tom."

„Anfangs nicht", sagte Gina grinsend.

„Und dafür schäme ich mich heute noch."

„Trotzdem, du musst doch zugeben, dass unser Kuss unserer Bedienung nicht gleichgültig gewesen sein kann."

„Kann schon sein", druckste ich herum.

Gina lachte. Dann sagte sie mit dieser ihr so eigenen klaren Direktheit: „Ich wette, dass er jetzt erst mal aufs Mitarbeiterklo verschwindet und sich bei dem Gedanken an uns einen runterholt."

„Gina!", ermahnte ich meine beste Freundin empört.

„Was ist?", fragte Gina rotzfrech grinsend.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. „Nichts ist. Komm, unser Essen wird kalt."

Gerade als wir beide den ersten Bissen unserer Pizza nehmen wollten, klingelte das Smartphone in meiner Hose. Wer das wohl sein mochte? Fragend blickten wir einander an. Ich ließ das Stück Pizza in meiner Hand wieder auf den Teller zurückgleiten, wischte mir die fettigen Finger an einer Papierserviette ab und fischte anschließend das Telefon aus meiner Hosentasche heraus.

„Barbara", flüsterte ich als ich auf das Display schielte, auf dem in großen, weißen Lettern der Name des Anrufers stand, „Toms Mam. Was sie wohl will?"

Ich wunderte mich. Obwohl Barbara und ich uns sehr nahe standen und sie mich, wenn ich bei ihr zu Gast gewesen war, immer wie eine eigene Tochter behandelt hatte, rief sie so gut wie nie bei mir an. Meist meldete sie sich bei Tom.

„Vielleicht eine kleine Planänderung?", fragte Gina.

Das konnte gut möglich sein. Barbara war es vielleicht unangenehm geworden, dass sie die Nacht auf der Couch mit Gina verbringen sollte, einer Frau, die sie kaum kannte. Sie hatte es sich zwar nicht anmerken lassen und nichts gesagt, aber irgendwie hatte ich gespürt, dass es ihr nicht gerade recht gewesen war, als wir ihr am Vormittag offeriert hatten, sie müsse sich die Schlafstätte mit einer guten Freundin von uns teilen. Vielleicht hatte sie sich für die Nacht ein Zimmer in einer kleinen Pension genommen und wollte mir das nun mitteilen.

„Kann schon sein", sagte ich etwas ratlos. Mit dem Zeigefinger tippte ich auf den grünen Hörer auf dem Display.

„Hallo?", rief ich ins Telefon, „Barbara? Was gibt's denn?"

Zunächst hörte ich gar nichts am anderen Ende der Leitung. Dann ein aufgelöstes Schluchzen und dann ein verschnieftes Wimmern.

„Barbara?", rief ich noch einmal ins Telefon nachdem keine Antwort kam.

„Barbara?", noch einmal, diesmal etwas lauter.

Gina und ich tauschten einen besorgten Blick miteinander aus.

„Barbara? Was ist los? Ich kann dich nicht hören!", plärrte ich nun fast in den Hörer. Immer noch nur Schluchzen. Dann ein Rascheln. Ein lauter Seufzer und dann meldete sich zögernd eine mir unbekannte Männerstimme.

„Frau Adler?", fragte der Unbekannte.

„Jaaa", sagte ich zögernd, „die bin ich."

Der Mann sprach leise, fast flüsternd. So als wäre es ihm äußerst unangenehm, dass er dieses Gespräch führen musste. Mit jedem seiner Worte wurde mir immer flauer im Magen. Als er zu Ende geredet hatte, fiel mir vor Entsetzen das Telefon aus der Hand.

******

„Was ist passiert?", fragte Gina als ich fluchtartig aufstand und das Lokal verließ. Ich rannte zur Tür, völlig geistesabwesend. Wie benebelt.

„Warte!", rief Gina mir hinterher. In der Eile hatte ich meinen Mantel vergessen, der noch über der Rückenlehne meines Stuhls hing.

„Julia, was ist los?", fragte Gina energisch, griff meinen Mantel und half mir, ihn anzuziehen. Was gar nicht so einfach war, denn ich zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub.

„Ich ... ich weiß es nicht genau. Das war ein Doktor. Er sagt, Tom hätte einen Unfall gehabt."

Als wir fünfzehn Minuten später in Rekordzeit das Klinikum erreicht hatten, konnte ich kaum geradeaus laufen. Gina stützte mich und schleppte mich mit aller Mühe und Not ins Krankenhaus. Ein Schwall steriler, warmer Luft kam uns entgegengeweht, als wir das Gebäude über den Haupteingang betraten. In meinem Kopf herrschte Leere. Kein einziger Gedanke. Nur absolute Leere.

„Mein Name ist Gina Donatello. Das hier", sagte Gina als wir den Empfang erreichten zur freundlich dreinblickenden Empfangsdame und deutete auf mich, „ist Julia Adler. Wir haben einen Anruf erhalten. Ihr Freund wurde vor kurzem eingeliefert, Tom Löwinger."

Es war mir peinlich, dass Gina für mich das Reden übernehmen musste. Doch ich war absolut nicht imstande, ein paar Worte herauszubringen, geschweige denn vernünftig artikulierte Sätze. Der Schock hatte von mir Besitz ergriffen und lähmte meine Zunge. Wie ein Giftstachel steckte die Ungewissheit in mir. Was war passiert? Wie ging es Tom? Wie um alles in der Welt konnte das nur möglich sein? War alles vielleicht nur ein Traum. Vor ein paar Stunden hatten wir doch noch fröhlich Kisten verpackt.

„Einen Moment bitte", antwortete die junge Frau am Empfangstresen. Sie tippte Toms Namen in ihren Computer an und sagte dann: „In Ordnung. Herr Löwinger befindet sich derzeit im Operationssaal sieben. Mehr kann und darf ich Ihnen leider nicht sagen, da Sie nicht mit Herrn Löwinger verwandt sind. Sie dürfen aber gerne im Wartezimmer für Angehörige Platz nehmen. Wie ich den Unterlagen entnehmen kann, wartet dort bereits Herrn Löwingers Mutter. Sobald es etwas Neues gibt, wird sicher ein Arzt zu Ihnen kommen. Mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock, rechts den Gang entlang. Es ist auch ausgeschildert."

Gina bedankte sich höflich bei der Dame und schob mich in den Fahrstuhl.

„Soll ich mitkommen?", fragte Gina mich sorgenvoll, „oder soll ich hier unten auf dich warten?"

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich war zu keiner Entscheidung fähig.

„Also gut, dann komme ich mit."

Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte ewig. Mittlerweile war die Leere in meinem Kopf dem totalen Chaos gewichen. Sämtliche Gedanken, sämtliche Eindrücke prasselten ungefiltert auf mich ein, dass mir der Kopf brummte. Ich dachte tausende Gedanken auf einmal und brachte doch keine Ordnung in das Durcheinander.

Als wir ruckartig anhielten und eine sanfte Frauenstimme vom Band „vierter Stock" verkündete, wurde ich wieder in die Realität zurückgeholt.

„Wir müssen den Gang entlang nach rechts", sagte Gina leise.

„Ich weiß", murmelte ich. Die ersten vernünftigen Worte seit wir das italienische Restaurant verlassen hatten.

„Geht's wieder? Du warst so abwesend, erkundigte Gina sich besorgt.

„Keine Ahnung. Ich ... ich muss jetzt pragmatisch denken. Und das Beste hoffen."

Wir steigen aus dem Fahrstuhl und wandten uns nach rechts. Der Gang war endlos lang, der spiegelglatte Kunststoffboden frisch gebohnert, rechts und links war der Trakt mit weißen Fließen gekachelt. Hinweisschilder mit Pfeilen wiesen den Weg zu allen möglichen Zielen: Radiologie, Geriatrie, Labor, OP, Internistische Station, ... es war verwirrend.

Als wir das Ende des Gangs erreicht hatten, sah ich durch eine große Glasscheibe schon Barbara auf einem unbequem wirkenden Kunststoffstuhl im Wartesaal sitzen. Ihr Gesicht hatte sie in ihren Händen verborgen, doch ihre Haltung und das Beben, das durch ihren Körper fuhr, verrieten mir, dass sie weinte.

„Ich sollte besser alleine rein gehen", sagte ich leise.

„In Ordnung. Ich warte dann hier draußen auf dich."

Mit zittrigen Händen und kraftlos drückte ich die Türklinke herunter. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und raubte mir beinahe die Luft zum Atmen. Als Barbara mich sah, schreckte sie hoch.

„Gott sei Dank, dass du da bist", sagte sie erleichtert. „Ich hab's alleine kaum noch ausgehalten in diesem Raum. Bin schon fast durchgedreht."

Leise schloss ich die Tür hinter mir zu. Barbara Löwinger war eine gestandene Frau Ende vierzig. Immer stark, niemals zeigte sie Schwäche. Ich hatte sie immer, wenn ich bei Toms Familie zu Besuch gewesen war, als äußerst beherrschte, ruhige und pragmatische Frau gesehen. Doch nun war von dieser starken Persönlichkeit nicht viel geblieben. Stattdessen saß mir ein in sich zusammengesunkenes Häufchen Elend mit verquollenen Augen und rotem Gesicht entgegen.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, zumindest versuchte ich es. Mit belegter Stimme krächzte ich mühsam: „Was ... was ist passiert?"

Ich sank auf den Stuhl neben Barbara und berührte zaghaft ihre Schulter mit meiner Hand.

„Was ist passiert?", wiederholte ich noch einmal meine Frage. „Bitte rede mit mir."

Barbaras Lippen vibrierten, brachten jedoch keinen verständlichen Ton heraus. Sie rang mit sich selbst. Dann sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Schnell und monoton leierte sie ihren Text herunter so als hätte sie Angst, dass sie im nächsten Augenblick schon der Mut verlassen und sie am Weitersprechen hindern könnte.

„Wir waren am Augustusplatz", sagte sie, „mein Tom wollte mir das neue Augusteum zeigen. Das kenne ich ja noch gar nicht. Als ich noch studiert habe, stand da noch ein hässlicher Plattenbau und dieses gigantische Karl-Marx-Relief. Komm Mama, ich zeig' dir alles ganz genau, hat er mir zugerufen. Mich angelächelt. Und dann rannte er über die Straße. Ich rief ihm noch hinterher: Warte, deine alte Mutter kann nicht mehr so schnell! Er drehte sich nach mir um, stolperte dabei plötzlich und taumelte in der Luft, zwei oder drei Schritte rückwärts in Richtung der Gleise. Er konnte sich gerade noch so fangen, um nicht hin zu fallen. Und dann lief alles wie in Zeitlupe ab. Ich sehe immer noch die hellen Lichter. Wie zwei leuchtende Augen. Ich brüllte laut: Pass auf! Doch es war zu spät. Die Straßenbahn hat ihn voll erwischt."

Ich musste schlucken. Was Toms Mutter da erzählte, hatte man so oft in kitschigen Hollywooddramen gesehen oder in schmalzigen Liebesromanen gelesen. Aber so etwas passierte doch nicht im richtigen Leben. Und wenn doch, dann passierte es anderen, aber nicht einem selbst!

Unweigerlich begann auch ich zu weinen. Wir weinten beide und umarmten uns.

„Wenn ich doch nur einen Moment früher die Tram gesehen hätte", sagte Barbara leise.

„Du kannst nichts dafür. Tom kennt die Stelle. Er überquert die Straße fast jeden Tag", sagte ich. Innerlich lachte ich zynisch auf. Als ob meine Worte irgendetwas bewirken konnten. Ich wusste genau, dass Barbara sich die Schuld an dem Unfall gab und nichts und niemand konnte sie im Augenblick von diesen Schuldgefühlen abhalten. Jeder hätte an ihrer Stelle das Gleiche gefühlt.

„Es wird alles gut werden", flüsterte ich ihr leise zu. Meine Worte klangen nicht sehr überzeugend, ich glaubte nicht einmal selbst daran. Gar nichts war gut. Im Augenblick saßen in diesem Raum zwei hilflose und ahnungslose Frauen, allein gelassen mit quälender Ungewissheit.

Die Zeit verstrich. Unruhig starrte ich den Sekundenzeiger einer Wanduhr an, der unablässig im Sekundentakt seine Runden drehte. Es dröhnte in meinem Kopf, immer wieder: tick tack, tick tack, tick tack ... Auch Barbara sagte kein Wort. Inzwischen waren wir völlig tränenleer und wie eine Statue saß sie neben mir. Sie drückte ihre Finger krampfhaft in die Stuhllehne, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Er ist jetzt seit drei Stunden da drin", sagte Barbara schließlich unvermittelt. „Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?"

Ich ergriff ihre Hand und sagte zu ihr: „Ganz bestimmt ist das ein gutes Zeichen." Bis heute weiß ich nicht, wem von uns beiden ich damit eigentlich Mut zusprechen wollte -- Toms Mutter oder nicht doch eher mir selbst.

Plötzlich öffnete sich die Tür des OP-Saals. Ein Arzt im grünen OP-Kittel kam heraus. Er trug den Blick nach unten gesenkt, seine Schultern hingen schlaff herab und seine Schritte waren widerwillig. Als unsere Blicke sich kreuzten, wusste ich es. Und Barbara wusste es auch.

Als der Arzt den Wartesaal betrat, rang er mit seinen Worten. Er sagte nichts. Doch das war auch gar nicht nötig, durch die Stille war alles gesagt.

Auch Gina, die immer noch auf dem Flur stand, hielt vor Schreck die Hand vor den Mund und schüttelte mit dem Kopf als könne sie es nicht glauben.