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Magische Orte

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Vera erforscht eine Ruine und begegnet dem Fotografen Till.
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Vera erforscht eine Ruine und begegnet dem Fotografen Till.

********************

Vera ist eine leidenschaftliche Sucherin nach ´Lost Places´, verwunschenen Orten aus der Vergangenheit, heute vergessen und überwuchert. Gerade hat sie mitten im Wald eine Industrieruine aus der Kaiserzeit gefunden, da trifft sie einen anderen Abenteurer...

Dingo666

********************

„Ah! Da bist du ja."

Vera steckte das Handy weg, das sie mittels GPS-Ortung an diesen Platz geführt hatte, und spähte nach vorne. Zwischen den Bäumen schimmerten alte Backsteinmauern hindurch. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Ihre Finger waren nass, als sie sich über die Stirn fuhr. Das Handydisplay zeigte kaum ein Uhr, doch die Julisonne brannte an diesem Mittwoch derart unbarmherzig vom Himmel, dass sie den Schwarzwald in einen schwülen Dschungel verwandelte.

Sie nahm einen Schluck aus der Trinkflasche und schritt weiter, ein tonloses Summen auf den Lippen. Wie sie diese einsamen Ausflüge genoss, diese Zeit nur mit sich und für sich. Sie brauchte das einfach, als Ausgleich für den täglichen Wahnsinn im Job bei der Eventagentur.

Seit sie vor zwei Stunden aufgebrochen war, hatte sie keine Menschenseele gesehen. Dieser Teil des Schwarzwaldes schien touristisch kaum erschlossen. Der Wanderweg wucherte an mehreren Stellen zu und die Hinweisschilder hingen schräg, alt und verblichen an den Baumstämmen. Perfekt für ihre Zwecke.

Vorsichtig schob sie sich durch das Buschwerk, immer in Richtung der Ruine vor ihr. Sie trug bei der Hitze nur ein Bustier in Feinripp-Optik und eine kurze Shorts, etliche Kratzer und Schrammen zierten ihre Arme und Beine. Doch das gehörte dazu, es würde sie auch noch in den nächsten Tagen an ihren Ausflug in die Wildnis und die Vergangenheit erinnern.

Dann stand sie vor dem Bauwerk und ließ den Rucksack zu Boden gleiten. Sie atmete tief durch und sog die Stille und die Atmosphäre des Platzes ein. Die Textilfabrik ´Gebr. Muttner & Cie.´, einst ein Ort voller Hoffnung und Leben, lag nun im Dämmerschlaf des Verfalls. Das Hauptgebäude stand noch, doch das Dach der angrenzenden Werksbaracke war eingestürzt. Büsche überragten die Mauern und schoben ihre Äste durch leere Fensteröffnungen. Nur das Summen von Insekten lag in der Luft. Vögel zwitscherten kaum noch, auch sie schienen zu ermattet von der Hitze.

Vera nickte, von Befriedigung erfüllt. Wie schön! Dieser „Lost Place" war noch kaum dokumentiert, es gab nur ein paar Fotos im Netz. Das hatte Interesse geweckt, denn der Standort war in keiner Karte verzeichnet. Sie musste selbst nachforschen und die Geschichte der Fabrik recherchieren.

An dem Platz stand ursprünglich eines der unzähligen kleinen Sägewerke der Gegend. Im Jahre 1908 kaufte der Ingenieur Johann Muttner das stillgelegte Gelände und errichtete eine Textilfabrik. Die Maschinen wurden durch eine Elektroturbine mit Strom versorgt, die am nahen Retzbach lagen -- damals modernste Technologie. Leider führten der Erste Weltkrieg und die darauffolgende Wirtschaftskrise zum Bankrott. Das Gebäude wurde von einem Geschäftsmann aus der Schweiz aufgekauft, doch die geplante Sanierung und Wiedereröffnung fand nie statt.

Wem genau die Immobilie heute gehörte, das hatte Vera nicht ermitteln können. Jedenfalls schien seit hundert Jahren niemand mehr eine Idee zu haben, was man mit diesem Gelände und dem Jugendstil-Industriebau anstellen könnte. Also rottete es vor sich hin, bis der Wald es in eine Dornröschen-ähnliche Abgeschiedenheit gezogen hatte.

Ein ´Lost Place´, wie er im Buch stand. Und zwar keiner derjenigen, die inzwischen zur Touristenattraktion verkommen waren. Wie aufregend! Sie nahm noch einen Schluck Wasser und begann mit der Erkundung. Der Baracke schenkte sie nur einige Blicke, da war nicht mehr viel zu sehen. Doch das Hauptgebäude, drei Stockwerke hoch und mit großen Bogenfenstern versehen, sah noch einigermaßen intakt aus.

Die Doppelflügel des Haupteingangs waren mit Querbalken verrammelt. Hier kam sie nicht rein, ohne massive Gewalt anzuwenden, und das würde sie nicht tun. „Verändere nichts, nimm nichts mit außer Fotos, und lasse nichts da außer Fußabdrücken", so lautete der Slogan der Szene. Sie hielt sich daran, immer, denn sie war überzeugt von der Sinnhaftigkeit dieses Gebots.

Langsam umrundete sie den Bau und bewunderte die Industriearchitektur einer vergangenen Epoche. Wie sorgfältig die Bögen über den Fenstern mit Backsteinen geformt waren! Die Dachsparren zierten sogar geschnitzte Enden. Die Fassade zeigte ein mattes Braunrot, an einigen Stellen fast schwarz. Die Zeit, sonst so flüchtig und abstrakt, war hier beinahe mit den Händen zu greifen.

War es das, was sie so daran faszinierte?, fragte sie sich, nicht zum ersten Mal. Sie selbst war erst zwanzig Jahre alt, also geradezu ein Küken im Vergleich. Wie mochte es sein, wenn sie so alt war wie dieses Gebäude? Falls sie jemals dieses Alter erreichen sollte. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Nacken.

Auf der Rückseite erstreckte sich eine Laderampe, und hier stand eine verrottete Holztür einen Spalt offen. Sie umrundete einen gewaltigen Busch aus Brennnesseln und betrat die Rampe. Vorsichtig, die Stabilität prüfend. Das Herz pochte schwer in ihrer Brust wie immer, wenn sie vor der Schwelle eines besonderen Ortes stand. Sie streifte die feuchten Hände an der Shorts ab und lauschte an dem Türspalt.

Nichts. Die Stille im Inneren schien noch tiefer. Vera sah sich um, eine Enge im Hals. Nur friedlicher Wald. Sonnenstrahlen, die beinahe senkrecht durch das Blätterdach fielen. Gerüche nach erhitztem Holz, nach Laub und nach trockenem Moos. Ein Specht hämmerte irgendwo in der Nähe drauflos.

„Platz da, Indiana Jones!", murmelte Vera vor sich hin und kicherte. „Das hier würde dir auch gefallen, hm?"

Sie atmete tief durch und schob sich durch den Spalt. Ein Lagerraum anscheinend, nicht besonders groß. Leer. Laub und Dreck häufte sich in den Ecken, und im Schmutz auf dem Boden zeichneten sich einige Fußabdrücke ab. Offenbar hatten auch ihre Vorgänger hier den Zugang gefunden.

Vorsichtig drückte sie eine Holztür ins Innere auf, die sich knarrend bewegte. Sie hielt den Atem an, als sie sich umsah. Das unterste Stockwerk war ein einziger, offener Raum, mindestens sechs Meter hoch. Der Boden aus schweren Holzdielen schien noch intakt und stabil, und durch die großen Fensteröffnungen ringsum fiel Dämmerlicht herein. Die Scheiben starrten zwar vor Schmutz und weißer Farbe, die jemand von innen darauf geschmiert hatte. Doch es klafften etliche Löcher in den fein gegliederten Fenstern, die Licht und Luft hereinließen.

Offenbar eine Art Maschinenhalle. Ausgeräumt, doch an einer Schmalseite stand noch ein Monster aus rostigem Stahl, bestückt mit Zahnrädern, Ventilen und Kurbelwellen. Es erinnerte an die Gebeine eines längst toten Drachen. Die Luft roch trocken und nach abgelagertem Holz. Es war beinahe kühl hier drin, wenn man direkt von der Sommerhitze hereinkam.

Diese Aura! Still und gesammelt. Würdevoll. Wie in einer Kirche. Nein, noch intensiver. Nicht gestört von den Wegen der Gläubigen, der Priester. Nur die Zeit hing in der Luft. Gott selbst, vielleicht. Sie nahm einen tiefen Zug der Luft und schmeckte den Staub, die Trockenheit. Es roch wie in der alten Kiste, in der ihr Großvater die Andenken an seine Kindheit aufbewahrte.

Vera wagte sich hinein, mit einem Gefühl der Beklommenheit. Sie kam sich vor wie eine Pilgerin, die nach langer Reise endlich das Mysterium des Wallfahrtsortes erblickte. In die Mitte des Raumes drehte sie sich einmal ganz langsam um die eigene Achse, betrachtete in aller Ruhe ihre Umgebung. Ein Kontrollblick an die Decke zeigte zwar einige Wasserflecken, aber nichts, das auf einen baldigen Einsturz hinwies. Die mulmige Ahnung in der Magengrube legte sich.

Ja, dieser alte Bau würde ihr nichts tun. Sie fühlte sich sicher. Geborgen. So aufgehoben, dass sie automatisch die Augen schloss, um sich noch tiefer in das Gebäude einzufühlen. Eins zu werden mit ihm. Selbst alt, auf eine gewisse Art. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, und ganz von selbst hoben sich ihre Arme, streckten sich über den Kopf, der Decke entgegen. Sie kam sich vor wie eingespannt. Unten der Boden, die Verwurzelung in der Erde, ihre Füße als Säulen. Oben der Kontakt zum Himmel. Ihre Energie folgte dem Sog der Architektur nach oben.

Ein traumhaftes Gefühl. Sie atmete langsam, aber tief, und genoss es, wie ihre Muskeln und Sehnen sich reckten, wie die Haut sich spannte. Das warme Pulsieren ihrer Adern. Das Knacken von Gelenken. Ein Summen kam von den Stimmbändern. Ohne Entschluss, einfach so. Ihr Lächeln vertiefte sich.

Genau diesen Moment, diese Qualität suchte sie. Alleine, nur mit sich. Weit weg von den hektischen, anstrengenden Menschen, dem Trubel des Tages, den Aufregungen und Ablenkungen.

Sie wurde still, innerlich.

So still wie der ruhende Raum um sich herum.

Eins.

Ihre Arme senkten sich ebenso selbständig, wie sie sich erhoben hatten. Das Summen verstummte. Zurück blieb nur Schweigen. Und sie. Vera Creudlitz, zwanzig Jahre alt, Berufsanfängerin.

Single. Leider.

Die Leere ringsum schwang sich ein mit der Leere in ihr, wurde eins. Ermöglichte einen Kontakt, einen Übergang. Öffnete eine Tür, die sonst fest verschlossen war, so verbarrikadiert wie der Haupteingang. Einen Kanal zu ihr selbst. Zu Ebenen von ihr, die im Alltag nicht zugänglich waren, weil sie geschützt werden mussten.

Es war nichts Dramatisches. Sie weinte nicht. Fühlte nur eine vage Traurigkeit, wie ein Nachhall früherer Turbulenzen. Jetzt war sie alleine, hier an diesem zauberhaften Ort. Doch das war ihre Entscheidung. Wenn sie wollte, konnte sie Kontakt aufnehmen, das wusste sie, und empfand es auch so. Sie hatte Freunde, und Kollegen. Liebhaber, wenn sie wollte. Dennoch fühlte es sich richtig an, diese innere Tür ab und an zu öffnen. Dann war es immer so, als ob abgestandene Luft herausdrang und sich verflüchtigte, bevor etwas da drin verfaulen konnte.

An magischen Orten funktionierte das am besten...

Ein leises Geräusch. Vera blinzelte, kam langsam zurück ins Hier und Jetzt. Sie blickte sich um. Da stand ein Mann an der Tür zum Lager, reglos. Mitte zwanzig vielleicht. Groß und sehnig. Braungebrannte Haut, dunkler Vollbart, sauber gestutzt. Er trug ähnliche Kleidung wie sie selbst. Ein Funktionsshirt und Shorts, ein Rucksack. Um seinen Hals hing eine Kamera mit großem Objektiv. Er sah sie an, mit Respekt in den Augen. Beinahe furchtsam.

„Äh -- hi", brachte er heraus und räusperte sich.

„Hi", gab sie zurück und wusste nicht so recht, ob sie sich jetzt ertappt fühlen sollte, oder ärgerlich wegen der Störung.

„Bitte entschuldige. Ich störe wohl. Ich wollte nur ein paar Fotos machen, aber ich kann auch später wiederkommen." Er lächelte vorsichtig.

„Ach -- nein, nicht notwendig", hörte sie sich sagen. „Ich bin schon, äh, fertig." Sie biss sich auf die Lippen. Jetzt würde er sicher fragen, mit was sie denn fertig war, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm das erklären sollte. Oder ob sie das überhaupt wollte. Oder konnte.

Er nickte und trat ein, sah sich um. Doch sein Blick ging zurück zu Vera, als würde er magnetisch angezogen. Tiefblaue Augen, bemerkte sie.

„Ich bin Till", sagte er mit einem weiteren Lächeln. „Ich besuche gerne solche ´Lost Places´ und fotografiere sie. Die Bilder von hier werden fantastisch, denke ich."

„Vera." Sie erwiderte das Lächeln. Der Typ schien ganz nett zu sein. „Ich bin aus demselben Grund hier. Nur meine Ausrüstung ist nicht so gut." Sie hielt ihr Handy hoch und zuckte die Schultern.

„Wenn du willst, kannst du gerne ein paar Bilder mit meiner Kamera machen. Ich schicke sie dir dann." Er hielt sein Gerät hoch.

„Danke, lass mal. Mir geht es nur um ein paar persönliche Schnappschüsse als Erinnerung. Ich bin keine Fotografin. Aber ich bin gespannt, was ein Profi jetzt macht." Sie trat beiseite und überließ ihm damit den Raum.

Till nickte zögernd und schlenderte umher, betrachtete kritisch die Wände und die Perspektiven. An einer Stelle hob er die Kamera, beschäftigte sich eine Weile mit Einstellungen, und drückte ab. Das Ratschen eines massiven Spiegelreflexverschlusses hallte durch den Raum und schwang in der Stille nach.

Vera lehnte sich an eine schmutzige Fensterbrüstung und sah ihm zu. Till bewegte sich langsam, mit beherrschter Kraft. Das erinnerte sie an eine Raubkatze, die lässig durch die Savanne trottete. Aufmerksam, aber entspannt. Das passte hierher. Sie war dankbar, dass er nicht plapperte, und verfolgte das Spiel der Muskeln an seinen Armen und Beinen, als er sich stabil hinstellte und die Decke ins Visier nahm.

Sollte sie auch ein paar Bilder schießen? Oder auf sein Angebot eingehen? Mal sehen. Im Moment war es gut, ihn machen zu lassen. Ihn zu beobachten.

Er bemerkte ihren Blick und ließ die Kamera sinken. „Das ist das erste Mal, dass ich jemand anderen an einem solchen Ort treffe", meinte er, beinahe entschuldigend, und atmete durch.

„Geht mir auch so." Sie kratzte sich am Hinterkopf. „Soll ich rausgehen? Willst du lieber alleine fotografieren?"

„Nein, nein!" Er verzog die Mundwinkel. „Sogar ganz im Gegenteil."

„Hm?"

„Ich..." Er fingerte an seiner Kamera herum und blickte zu Boden. Dann sah er auf. „Das war ein unglaublicher Anblick vorhin, als du hier standst, die Arme hochgestreckt", erklärte er ernsthaft. „Ich dachte, ich bin in einem Traum gelandet, als ich zur Tür reinsah. Äh -- ich würde gerne ein Bild so von dir machen. Natürlich nur, wenn du das möchtest."

„Von mir?" Vera hob eine Hand vor den Mund, ein wenig überrumpelt.

„Von dir." Er lächelte. Ein sehr gewinnendes Lächeln.

„Nun -- warum nicht", kicherte sie. „Dann bin ich mal das Model. Das Foto kannst du mir dann gerne schicken. Was soll ich tun?"

„Stell dich einfach wieder hierher, wie vorhin. Mach die Augen zu. Vielleicht kannst du dich wieder so vertiefen." Till ging rückwärts, die Kamera in beiden Händen.

Sie nickte und nahm dieselbe Position ein, genau in der Mitte. Die Augen zu. Entspannen. Die Arme hoch. Die Stille spüren. Alles wie vorhin. Sie war selbst neugierig, wie das Foto von ihr aussehen würde. Konnte man wirklich sehen, was in ihr vorging?

Ein tiefer Atemzug. Strecken. Lauschen. Die Verbindung.

Doch das war nicht so einfach. Sie hörte seine leisen Schritte, seinen Atem. Das fast unhörbare Klicken, wenn er eine Taste drückte. Das ergab ein anderes Feld. Keinen leeren Raum, in dem sie schwebte. Sondern zwei Punkte, er und sie. Dazwischen schwang eine Verbindung, gewollt oder nicht. Sie war nicht alleine, wurde ihr klar. War es nie gewesen, selbst im Waisenhaus nicht. Es gab immer andere Menschen, und es gab immer Beziehungen, Kontakte, Austausch.

Vera mahnte sich zur Ruhe, wollte es mit Konzentration erzwingen. Doch das führte nur dazu, dass sie sich noch mehr als Bezugspunkt fühlte: Noch weniger alleine, noch weniger ruhig. Da war ein fremder Mann, nur drei oder vier Meter entfernt. Er sah sie an, durch das Objektiv seiner Kamera. Sah sie. Jede Einzelheit. Vergrößert. Ihr Gesicht. Ihren Körper.

Das Gefühl wurde stärker, überflutete sie. Nicht unangenehm, nur -- anders. Okay, sie wurde fotografiert. Kein Problem, oder? Schon tausendmal erlebt. Sie gab es auf, die innere Stille erreichen zu wollen, und überließ sich der Präsenz der Kamera. Ihre Haut prickelte ganz leise, und sie veränderte ihre Haltung, unbewusst, unmerklich.

Die Kamera ratschte.

„Wow!", hauchte Till. Sie ließ die Arme sinken und sah, wie er auf das Display an der Rückseite der Kamera starrte.

„Gut geworden?" Sie ging zu ihm hinüber.

„Äh -- denke schon. Und wie!" Er drehte die Kamera, ließ sie mit auf den Bildschirm schauen. Sie sah eine schlanke, junge Frau mit dunkelblonden Haaren, die Arme hochgereckt, die Beine leicht gespreizt. Till hatte sie halb im Profil getroffen. Das Licht spielte wunderbar weich über ihren Körper und hob die Konturen hervor. Im Hintergrund ragte die rostige Maschine auf, verschwommen und kaum erkennbar, aber mit einer latent bedrohlichen Ausstrahlung. So, als ob sie sich jeden Augenblick auf das Mädchen stürzen und es verschlingen würde.

„Das ist -- schön", flüsterte sie mit großen Augen. „Ich bin schön."

„Und wie!" Till vergrößerte das Bild, holte sie näher, gestochen scharf. Das Mädchen hielt den Kopf ein wenig nach oben, die Lippen schimmerten, leicht geöffnet. Ein Lichtreflex betonte den Hals. Die Konturen der mittelgroßen Brüste bildeten vollendete Kurven unter dem weißen Stoff des Oberteils, und die Nippel ragten deutlich auf. Unter der nackten Haut am Bauch zeichneten sich die Muskeln ab, ein Ensemble aus warmen Linien. Und der Schnappschuss zeigte sowohl die Wölbung des Schamhügels unter der weichen Shorts, als auch die Rundung des Hinterns. Zusammen ergab das die beinahe unanständig exakt abgebildete Form ihres Unterkörpers, mit leicht gespreizten Schenkeln.

„Wie hast du das gemacht?", wollte sie wissen und konnte sich kaum sattsehen an dem Bild.

„Was gemacht?"

„Na, normalerweise bin ich nicht so schön." Sie zeigte auf das Bild. „Meine Hüften sind zu breit, und sooo schlank bin ich auch nicht."

„Das macht vielleicht die Haltung, so in die Länge gereckt, denke ich", grinste er. „Aber ich muss dich korrigieren. Du bist so schön, Vera. Das Foto sagt die Wahrheit."

„Bin ich auch so -- so sexy, wie es hier aussieht?", fragte sie leise.

„Bist du."

Sie sahen sich in die Augen, und gleich wieder aneinander vorbei.

„Äh -- noch eins?", schlug Till vor und hob die Kamera.

„Wenn ich wieder so drauf bin, dann gerne."

„Okay." Er verfiel in den Profi-Modus und scannte den Raum mit den Augen. „Hier drüben, vielleicht. Stell dich da hin, ans Fenster. Stütz dich auf. Leicht nach vorne. Ja, genau so. Jetzt schau zur Seite. Da rüber. Das Kinn ein wenig runter."

Vera kicherte innerlich. Mit sowas hatte sie wirklich nicht gerechnet, als sie sich am Vormittag auf den Weg machte. Diese improvisierte Fotosession war so plötzlich über sie hereingebrochen, dass sie sich überhaupt keine Gedanken über ihr Äußeres machen konnte. Sie war verschwitzt und ihre Haare feucht und zerzaust. Normalerweise legte sie großen Wert auf sorgfältiges Styling vor einem Foto. Doch nun spielte das irgendwie keine Rolle mehr.

Die Kamera klickte endlich. Till trat neben sie und zeigt ihr das Display. Wieder schien das Bild zwei Ebenen zu vermitteln. Auf der ersten stützte sich eine junge Frau locker auf eine schmutzige Fensterbrüstung, umgeben von Alter und Verfall. Sie hatte den Blick ins Nirgendwo gerichtet und schien in einer eigenen Sphäre gefangen. Auf der anderen reckte ein aufreizend leicht bekleidetes Mädchen ihren wohlgeformten Hintern in die Kamera. Die Form der Pobacken zeichnete sich gut erkennbar durch den dunkelblauen Stoff ab und bildeten eine Einheit mit den nackten Schenkeln darunter. Und in der Mitte lugte die Wölbung ihrer Scham unter den Kurven hervor.

„Gefällt dir das auch?" Tills Stimme klang besorgt.

„Es ist -- toll." Sie schluckte und lachte, ein wenig unsicher. „Ich weiß nur nicht, ob ich das jemals jemandem zeigen will."

„Warum denn nicht?"

„Ich bin so..."

„Sexy?"

„Ja. Ist das nicht zu, uh, nuttig?"

„Zu nuttig?" Er schnaubte. „Ganz und gar nicht. Eher im Gegenteil. Du bist sexy, aber es sieht überhaupt nicht so aus, als würdest du irgendjemand damit beeindrucken wollen. Genau das ist ja das Tolle."

„Hm." Sie betrachtete das Bild kritisch. Er hatte ja recht, aber...

„Vielleicht kann ich dir den Unterschied zeigen", bot er an, ganz der eifrige Unterstützer. „Mach doch mal auf nuttig. Dann siehst du, dass das ganz was anderes ist."

Sie lachte hell auf, und auch er grinste breit. Hatte er das ernst gemeint? Und -- wollte sie das?

Konnte sie das überhaupt?

Üblicherweise hielt sie sich bedeckt. Buchstäblich, was die Kleidung betraf. Heute war sie nur so leicht angezogen, weil der Wetterbericht schwüle Hitze vorhergesagt hatte, und weil sie kaum mit anderen Leuten rechnete. Nicht an einem Werktag. Doch jetzt und hier, da schienen ohnehin alle Regeln außer Kraft. Sie war weit weg, war draußen. Im Feenland.