Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Weiße Kacheln 01

Geschichte Info
Die Unterwanderung einer Familie und eine schöne neue Welt.
6.8k Wörter
4.24
15.7k
7
Teile diese Geschichte

Schriftgröße

Standardschriftgröße

Schriftabstand

Standard-Schriftabstand

Schriftart Gesicht

Standardschriftfläche

Thema lesen

Standardthema (Weiß)
Du brauchst Login oder Anmelden um Ihre Anpassung in Ihrem Literotica-Profil zu speichern.
ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

Sie kamen in der Nacht, und niemand konnte etwas tun. Als Jakob Augenblicke nach den ersten Geräuschen erwachte, war es lange zu spät.

Ein leises Klirren weckte ihn auf und ließ ihn durch die Dunkelheit des Schlafzimmers blicken. Mina schlief ruhig neben ihm, zu einer Kugel zusammengerollt, die Decke von sich getreten am Fußende. Durch das Fenster fiel das Flackern einer Straßenlaterne, vor der kahle Lindenzweige im Wind schwankten. Ein paar Herzschläge harrte er aus, lauschte nach weiteren Geräuschen, bis er schon meinte, sich geirrt zu haben. Da erklang ein weiteres Klirren, als hätte jemand zum Toast gegen ein Glas geschlagen.

Jakob setzte sich auf und schob die Beine seitlich über die Bettkante, tastete mit den Zehenspitzen nach seinen Hausschuhen, die da irgendwo im Schatten liegen mussten. Als er sie anhatte, drückte er sich so sanft wie möglich vom Bett hoch, um nicht zu große Bewegung in die Matratze zu bringen. Geräusche mochten Mina nicht sonderlich interessieren, aber Bewegungen waren ein Wundermittel, um sie wach zu rütteln. Da vermutlich nur eines der Kinder durch das Bad im Erdgeschoss stöberte, wollte er lieber kein Risiko eingehen, von ihrem genervten Gemurmel durchs Haus begleitet zu werden.

Ein weiteres Klirren, genauso laut wie die letzten beiden. Schlug unten etwas gegen eines der Fenster? Jakob durchquerte den Raum, drückte die Türklinke nach unten und machte einen langen Schritt aus dem Zimmer heraus, um die knarzenden Dielen zu übertreten. Er schloss die Tür sachte hinter sich und spähte den Gang hinunter. Weder Luisas noch Lukas Tür stand offen, und die Treppe nach unten befand sich in völliger Dunkelheit. Kein Licht schien im Haus zu brennen. Seltsam, dachte Jakob und steuerte auf die Treppe zu. Dabei fuhr er mit einer Hand die Wand entlang, tastete sich vor durch die Finsternis, die umso dichter war, da der Gang keine Fenster hatte.

Auf halber Höhe der Wendeltreppe hörte er das Geräusch erneut, diesmal lauter. Es kam eindeutig aus dem Wohnzimmer. Jakob schlich die letzten Stufen herab, sah zu Boden und drückte den Lichtschalter im Erdgeschoss. Sofort kniff er die Augen zusammen und blinzelte einige Male, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, dann tapste er weiter Richtung Küche, die den Flur mit dem Wohnzimmer verband. In allen Räumen, die er durchquerte, knipste er das Licht an, erleuchtete Stück für Stück das Haus, und lauschte derweil auf das Klirren.

Schließlich stand er im Wohnzimmer und sah sich um. Die Verandatür war geschlossen, die große Couch mit dem Beistelltisch sauber abgeräumt. Hinter den geschlossenen Fenstern konnte er nichts erkennen, was gegen die Scheiben stoßen könnte. Kein Glas weit und breit also, das klirren konnte. Jakob seufzte, begab sich auf alle viere und spähte unter das Sofa, dann unter die Schränke, suchte nach einem herabgefallenen Gegenstand, der ein derartiges Geräusch von sich hätte geben können. Er richtete sich auf und kratzte sich den Kopf, dann durchschritt er noch einmal das gesamte Stockwerk, Küche, Flur, Klo, Bad; ohne Erfolg.

Schulterzuckend und murmelnd schlurfte er in die Küche zurück, um sich ein Glas Wasser zu holen und ins Bett zurückzukehren. Was auch immer er gehört hatte, es war anscheinend verschwunden. Vielleicht war es irgendein Vogel, der gegen ein Fenster geprallt ist. Oder irgendein Nachbar hat sich eine Katze besorgt, dachte er.

Jakob leerte das Glas und drehte eine letzte Runde durchs Erdgeschoss, wobei er sämtliche Lichter wieder ausschaltete. Oder ich bin langsam alt genug für die senile Bettflucht. Den Gedanken verwarf er schnell wieder. Mit Anfang 40 litt kein Mensch an seniler Bettflucht, selbst wenn er in nur halb so guter Verfassung wie Jakob wäre, der trotz seines Bürojobs und der damit einhergehenden Hockerei stets darauf geachtet hatte, Bewegung in seinen Alltag zu integrieren. Seine Vorliebe fürs Tennis hatte er zwar weder an seine Frau noch an eines ihrer Kinder weitergeben können, aber zumindest Luisa ging mehrmals die Woche ins Fitnessstudio. So fit wie sie war, würde sie Jakob vermutlich binnen kurzer Zeit auf dem Feld abziehen, wenn sie dem Tennisspiel eine Chance geben würde. Seine Erfahrung würde seinen Durchschnittskörper mit Bauchansatz nicht vor ihrer Jugend und ihrem durchtrainierten Körper retten können. Jedenfalls nicht länger als die paar Wochen, die jeder neue Spieler brauchte, bis er den Ball mit Absicht und nicht aus Glück traf.

Jakob schüttelte die Gedanken ab und stieg die Treppe empor. Besser, jetzt nicht zu viel nachzudenken, damit ich wieder einschlafen kann. Dann trat er auf die Dielen vor der offenen Schlafzimmertür. Ein lautes Knarzen folgte seinem Fauxpas.

Jakob zog eine Grimasse und atmete tief ein, wappnete sich für Minas Erwachen und die Flüche, die sie seit ein paar Jahren zunehmend lockerer vom Stapel ließ. Häufig waren es nur Schimpfwörter - kurze Ausrufe, wenn eine Tasse runterfiel oder sie sich den Finger geklemmt hatte. Doch gerade, wenn Jakob einen Fehler gemacht hatte oder sie es zumindest so hinbiegen konnte, dass es den Anschein hatte, schleuderte sie Beleidigungen auf ihn. Keine harten, die ihn wirklich verletzen könnten, natürlich nicht. Aber eben Beleidigungen: Idiot, Mistkerl, Wichser, Drecksack.

Doch gerade jetzt blieb Mina stumm.

Jakob wartete sicherheitshalber einige Sekunden ab, dann stieß er leise seinen angehaltenen Atem aus. Er betrat das Schlafzimmer, wobei er die Tür hinter sich... Hatte ich sie vorhin nicht geschlossen? Er hielt in seiner Bewegung inne und starrte auf die Klinke in seiner Hand. Ich hätte schwören können, dass ich sie... Ja, ganz sicher. Ich hatte sie zugemacht.

Verwirrt blickte er sich im Raum um, fixierte das Bett, auf dem Mina liegen und fluchen sollte. Doch da lag niemand. Ein kaltes Gefühl zog ihm von den Fersen hoch bis in den Nacken, als sich sämtliche Haare aufstellten und sein Körper sich instinktiv anspannte. Sofort machte Jakob kehrt, huschte mit klopfendem Herzen zurück auf den Flur, wich den Dielen aus, und starrte angestrengt ins Dunkel. Luisas Tür am Ende des Ganges war geschlossen. Lukas Tür stand offen.

Jakob ballte die Fäuste, bemühte sich um Geräuschlosigkeit, doch sein Puls schoss ihm durch die Ohren, so dass er nicht einschätzen konnte, welche Geräusche seine Bewegungen erzeugten. Er hoffte, dass er leise war. Neben Lukas Tür presste er sich an die Wand, lugte vorsichtig um die Ecke. Blickte auf das Bett, das gegenüber der Tür stand. Das leer stand. Jakob gefror das Blut in den Adern.

Im nächsten Augenblick hörte er direkt neben seinem Ohr das Klirren, als würden zwei Weingläser aneinandergestoßen. Er wirbelte herum, nutzte die Drehung für einen Faustschlag ins Ungewisse hinein, während sein Herzschlag wie ein Trommelfeuer durch seinen Schädel peitschte.

Sein Schlag traf einen riesenhaften Schatten in die Seite, der ihn um mindestens einen Kopf überragte. Getroffen zuckte der Schatten zurück, und Jakob setzte hinterher, schlug noch einmal zu, noch einmal; versuchte, den Eindringling so schnell wie möglich zu überwältigen. Doch statt dass die Gestalt zurückwich oder sich krümmte, schienen die Schläge an ihrer Brust abzuprallen. Jakob fühlte, wie sich etwas in sein Gesicht drückte, eine riesige Hand, die ihm Mund und Nase zuhielt. Im nächsten Moment packte jemand seine Handgelenke und presste sie zusammen in etwas, das sich wie eine Faust anfühlte, sich aber wie Stahl um seine Unterarme legte. Die Gestalt presste sich von hinten an ihn und hielt ihn wie ein Kind an Ort und Stelle, während er zappelte und um sich trat. Jakob versuchte zu schreien, zu atmen, doch die Hand in seinem Gesicht verhinderte beides - also biss er zu.

Metallgeschmack flutete seinen Mund. Die Hand rührte sich keinen Millimeter. Statt Freiheit brachte ihm sein Manöver tiefer in die Bredouille, denn nun musste er die in seinen Mund sickernde Flüssigkeit hinunterschlucken. Ihm wurde übel, die Schatten vor ihm begannen, sich zu drehen, und sein Treten verebbte. Zunehmend verschwamm seine Sicht, seine Muskeln brannten, und er hörte den in seinen Ohren dröhnenden Herzschlag schwächer werden, während seinem Körper die Luft ausging.

Kurz schien sich die Welt zu bewegen. Als nächstes sah er vor sich die Rollen eines Schreibtischstuhls, der aus der Wand zu wachsen schien, an die er sich presste. Etwas packte seine Füße, schleifte ihn ein kurzes Stück, und er begriff, dass er am Boden gelegen hatte. Die hohe Gestalt hob ihn auf, nahm ihn in die Arme wie ein Bräutigam seine Getraute und der dunkle Flur zog an ihm vorbei. In ihm glaubte Jakob weitere Schatten stehen zu sehen, die ebenfalls etwas trugen. Er sah die geöffnete Tür von Lukas, die geöffnete Tür zu seinem und Minas Schlafzimmer, und schließlich, als die Gestalt die Wendeltreppe hinabtrabte, die geschlossene Tür am Ende des Ganges, wo Luisas Zimmer lag.

Als Mina aufwachte, fühlte sie sich hundemüde und war allein. Das war nichts ungewöhnliches, Jakob ging oft früher zur Arbeit als sie und verließ das Haus, bevor sie aufwachte. Selbst am Wochenende bekam sie ihn in der Früh manchmal erst zu sehen, wenn sie ihn im Wohnzimmer auf der Couch liegend fand. Er behauptete dann stets, er habe nicht einschlafen können und deshalb ein wenig ferngeguckt, bis er eingenickt war. Manchmal kaufte Mina ihm das ab.

Doch diesen Morgen fehlte nicht nur Jakob, auch das Zimmer sah anders aus, wie sie verschlafen registrierte. Sie riss die Augen auf und schreckte in eine Ecke des Bettes zurück, plötzlich hellwach, als sie verstand.

Statt dem gewohnten Doppelbett mit den nordischen Intarsien und massiven Pfosten lag sie auf kaum mehr als einer Pritsche. Ebenso breit und lang wie ihr Ehebett, aber eher wie das Gerüst eines Bettes, der Prototyp, der nur zu funktionieren brauchte, bevor man eine Version baute, die auch schön aussah. Decke und Kissen lagen daneben auf dem Boden, ordentlich gefaltet.

Vor ihr erstreckte sich ein länglicher Raum, dessen Boden und Wände aus mattweißen Kacheln zu bestehen schienen, beleuchtet von einer sanft strahlenden Decke. Das Bett stand mittig im Raum, weit entfernt von jeder der vier kahlen Wände. In der Ecke rechts vor sich sah Mina eine voluminöse Holztruhe und ein klappriges Pult, auf dem ein einsames Buch lag. In der linken Ecke nahm ein breites Monster von einem Stuhl den Raum ein.

Der Stuhl schien aus Stoff zu bestehen. Er hatte Rücken- und Armlehnen wie ein Sessel, doch erschien verzerrt: Die Rückenlehne war eigenartig dünn, als befände sich unter dem Bezug die Lehne eines Klappstuhls, der Rest des Stuhl erschien dagegen dick und massiv. Die Armlehnen waren zu hoch und zu ausladend, verfügten vorne über seltsame Verlängerungen, als habe man versucht, die Polster zu Beistelltischen zu formen. Die Sitzfläche befand sich dahingegen zu weit unten und war zu lang. Würde sich ein Mensch so daraufsetzen, dass die Sitzkante ihm in die Kniekehlen stach, wäre sein Rücken immer noch weit von der Lehne entfernt. Ein wenig weckte der Sessel bei Mina die Assoziation zu einem Gynäkologenstuhl.

Direkt voraus, zwischen dem Sessel auf der einen und Pult und Truhe auf der anderen Seite, prangte eine massive Tür zwischen den Kacheln. Von allen Kuriositäten in diesem Raum stach Mina besonders dieser Eingang ins Auge, denn er wirkte als einziges, als gehöre er hierher.

Hoch und breit, bestand die Tür aus silbrig glänzendem Metall mit einem kleinen Fenster auf Kopfhöhe, durch dessen Scheibe Mina die Dicke der Tür schätzen konnte. Der Anblick ließ sie schlucken. Auf Brusthöhe stak zudem ein Fortsatz heraus, ein schräg nach vorne abfallender Block, auf dem Mina ein quadratisches Feld mit gut drei Dutzend identischen Tasten erkennen konnte. Statt jedoch Zahlen, Buchstaben oder irgendwelche anderweitigen Unterscheidungsmerkmale aufzuweisen, waren sämtliche Tasten leer.

Mina verkrallte sich im Laken, drückte ihren Rücken so fest gegen das Kopfteil, dass ihre Beine vor Anstrengung zu zittern begannen. Dabei starrte sie auf die Tür, unfähig, an etwas anderes zu denken als ihren Weg aus dem zusammengewürfelten Zimmer hinaus. Minuten vergingen, in denen sie wartete, dass etwas geschah, dass sich die Tür öffnete oder sie in ihrem Zuhause erwachte, wo Jakob ihrem Ehebett wie so oft entflohen wäre. Nichts dergleichen traf ein, bevor sie das Gefühl in ihren verkrampften Fingern verlor und die Schmerzen in ihren Beinen sie zwangen, locker zu lassen. Sie beschloss, aufzustehen.

Nachdem sie von der großen Pritsche hinuntergekrabbelt war, blickte Mina den Raum hinunter, diesmal in die Richtung, die bisher in ihrem Rücken gelegen hatte. Die war noch leergefegter als der Bereich um die Zellentür herum. Bis auf eine glasverkleidete Eckdusche und eine Toilette samt Waschbecken konnte Mina nichts entdecken.

Mina lief um das Bett herum, blickte dahinter und darunter, doch fand nichts, weder fremdes noch bekanntes. Erst jetzt registrierte Mina richtig, dass sie noch immer ihren weißen Schlafanzug trug. Sie scannte den Raum nach den Klamotten, die sie vor dem Schlafengehen getragen hatte. Vergeblich.

Vielleicht in der Truhe, dachte Mina und schlich zum Ende des Raumes, so als könne ein lautes Geräusch oder ein unbedachter Schritt in den weißen Kacheln ihres Gefängnisses eine Falle auslösen.

Von nahem wirkte die Truhe älter und robuster als von weitem. Sie erweckte bei Mina den Eindruck, als wäre das Holzgefäß einer fremden Kultur oder einem anderen Zeitalter entsprungen: Feine Linien waren hinein geschnitzt, die an den Ecken Zirkel mit seltsam gezackten Verbindungslinien bildeten, während das Muster sich auf den Flächen zu einem Gitter formte, dessen Stäbe teilweise keinen Fingerbreit auseinanderlagen, während sich an anderen Stellen Quadrate bildeten, in die Mina ihre Handfläche hätte legen können. Einen Verriegelungsmechanismus konnte sie nicht entdecken.

Mina bückte sich, fuhr mit den Fingerspitzen unter die Kanten des Deckels und zog testweise. Das Holz rührte sich nicht. Mina ging in die Knie, setzte neu an, und zog diesmal aus voller Kraft, während sie die Fersen in den Boden stemmte. Nach wenigen Sekunden gab sie ächzend auf. Genauso gut hätte sie versuchen können, einen Berg anzuheben.

Mina wankte mit einem Keuchen zurück und ließ sich auf den Boden fallen, während schwarze Punkte vor ihren Augen zu tanzen begannen. Sie sog tief die Luft ein. Im Sitzen versuchte sie den Schwindel loszuwerden, indem sie blinzelte und immer wieder den Kopf schüttelte.

Wo war sie hier? Wie war sie hergekommen? Der Raum sah aus, als sollte hier jemand längere Zeit ausharren können, darauf ließ zumindest die Einrichtung schließen. Die weißen Wände und das sanfte, regelmäßige Licht der Decke erinnerten sie an ein Irrenhaus - doch welcher Geisteskranke musste hinter 20 Zentimeter Stahl gesperrt werden? Stahl, der innen über eine Tastatur verfügte.

Außerdem war Mina nicht krank. Jedenfalls nicht so, dass es das gewöhnliche Maß des Alltagswahnsinns überschreiten würde, das - und da war sie sich sicher - jeder Mensch in sich trug. Oder zumindest jede Frau. Einsperren musste man sie auf jeden Fall nicht, sie war nicht einmal für sich selbst gefährlich!

Sie hatte sich Zeit ihres Lebens Mühe gegeben, eine gute Frau zu sein: Mann, Haus, Kinder, einen Teilzeitjob und glücklich damit. Und das war ihr verflucht nochmal auch gelungen. Gut, die letzten Jahre waren vielleicht weniger harmonisch gewesen, als sie sich gewünscht hätte. Ihre Kinder waren beide erwachsen und kurz davor, das Haus zu verlassen, und Mina begann, die Leere hinter diesen Tagen zu spüren. Sie hatte Angst davor. Was blieb ihr und Jakob noch, wenn sich zumindest der biologische Zweck ihrer Leben bereits erfüllt hatte? Sie waren zusammengekommen, hatten sich geliebt und Kinder großgezogen. Lukas und Luisa besaßen nun ihre eigenen Leben und drohten, sich aus den schützenden Armen ihrer Eltern zu befreien.

Mina und Jakob hatten alles gegeben für ihre Kinder, ihre volle Fürsorge in sie gesteckt. Und Mina fühlte sich ausgelaugt. Sie hatte Angst vor dem Auszug ihrer Kinder. Denn sie war sich nicht sicher, wie viel Liebe Lukas und Luisa zurücklassen würden zwischen den gealterten Eheleuten.

Die ersten Risse waren ihr nicht entgangen. Nach fast 20 Jahren, in der jeder Augenblick zwischen Arbeit und Schlaf den Kindern gewidmet wurde, war irgendetwas auf der Strecke geblieben, und jetzt fühlte es sich fremd an, wieder Zeit zu zweit zu verbringen. Keiner von beiden war noch der Selbe: Aus dem sportlichen Jungen mit dem schiefen Grinsen war ein durchschnittlicher Büroangestellter geworden, der nur auf einer Diät aus Kaffee und Backwaren funktionieren konnte und dessen Zärtlichkeit ihr unbeholfen vorkam. Sie hatte von Nebenjob zu Nebenjob gearbeitet, nebenher Haushalt und Kindererziehung geschmissen und ihren Körper instandgehalten. Doch trotz aller Mühe zeigten ihre vollen Kurven die ersten Anzeichen der Verbrauchs: Ihre vollen Brüste begannen tiefer zu hängen als gewohnt, ihr Po tauschte seine knackige Fülle gegen erste Striemen ein. Sie wehrte sich entschieden dagegen, ihre blauen Augen, die immer ihre beste Waffe im Kampf um männliche Aufmerksamkeit gewesen waren, hinter Glasscheiben zu sperren, und lauerte auf die ersten Anzeichen, dass sie ihre Haare färben müssen würde, um das Blond zu erhalten.

Jakobs Verhalten in letzter Zeit zermürbte sie genauso. Seine Annäherungsversuche kamen immer im falschen Moment, und erschienen ihr gierig und lüstern, obwohl er sich betont liebevoll gab. Doch einfach mit ihr kuscheln konnte er nicht mehr. Wann immer sie unter den Laken seine Nähe suchte, sah er das als Einladung zum Sex, die es nicht war; die sie nicht wollte. Und seit kurzem floh er nachts aus dem Bett, als wolle er ihrer Liebe entkommen, solange sie nicht in Lust mündete.

Mina war sich selbst nicht sicher, wieso seine Flucht vor ihrer Nähe sie so sehr störte, wo sie seine Annäherungsversuche genauso abblockte. Doch irgendwie bestand für sie eine klare Linie zwischen Liebe und Leidenschaft, die Jakob nicht sehen konnte - oder wollte.

Nichts davon war es wert, darüber zu reden. Es waren Missverständnisse, sagte Mina sich, ärgerliche kleine Missverständnisse. Der Sorge nicht wert, solange sie noch nicht genug Zeit hatten, um sich ausgiebig um sie zu kümmern. Plötzlich wünschte sie sich, diese Zeit zu haben, oder sich notfalls zu nehmen. Wieso nur hatten ihre unruhigen Träume sie in einen weißen Kerker geführt, der zur Hälfte eine Rumpelkammer zu sein schien, wenn sie in der wachen Welt wichtigeres zu tun hatte?

Gerade, als Mina erwägte, ob um Hilfe zu rufen dem Versuch aufzuwachen vorzuziehen wäre, hörte sie eine schnelle Folge von Piepgeräuschen. Sie riss den Kopf herum und blickte zur Tür hinüber, über deren Knauf ein grünes Licht zuerst blinkte, und dann durchgehend leuchtete. Zeitgleich erklang ein langgezogenes Surren, und dann schwang die metallene Wand in den Raum hinein.

Mina sprang auf, flüchtete nach vorn und drückte sich zwischen Tür und Truhe in die Ecke. Sie sandte gehetzte Blicke durch das Zimmer, auf der Suche nach etwas, womit sie sich verteidigen konnte. Während sie sich dafür verfluchte, dass ihr das erst jetzt einfiel, versuchte sie außerdem den Eingang im Blick zu behalten, dessen geöffnete Stahltür ihr den Blick auf den Eindringling versperrte.

„Frau Wellner?", fragte eine freundliche Bass-Stimme. Mina würde sich davon nicht täuschen lassen. Ihr Blick scannte weiter den Raum. Verflucht, irgendetwas muss es hier doch geben!

Die Tür schwang zu und gab erneut ein Surren von sich. Hinter ihr kam ein junger, dunkelhäutiger Mann zum Vorschein, der ein silbernes Tablett mit Speiseglocke in Händen hielt und ihr aus breitem Mund ein freundliches Grinsen schenkte.

Der Mann trug trotz der kellnerhaften Speiseglocke unauffällige Klamotten, ein graues T-Shirt mit schwarzer Stoffhose. Er schien für einen Mann durchschnittlich groß zu sein, was bedeutete, dass er Mina um einen halben Kopf überragte. Seine schwarzen Haare trug er kurz, und sie kräuselten sich oben und vorne am Kopf; an den Seiten waren sie auf wenige Millimeter herunterrasiert.