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Dunkler Abgrund Ch. 17

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„Sie werden sich nicht wegschicken lassen, Sir", murmelte Fathsil leise, während Alec an ihm vorbei ging und die Tür öffnete. Das Bad war in diesem Haus nicht wie in New Orleans gegenüber dem Flur, sondern am anderen Ende des Ganges. Er würde an seinem Büro vorbeigehen müssen, doch er machte sich nicht einmal die Mühe ein Laken um seine Hüfte zu wickeln.

Nackt und innerlich zerschlagen lief er über langsam über den dicken Teppich und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar. Zwei neue Narben an seiner Kopfhaut, ein Souvenir vom Krieg, legten seine Haare in einen seltsamen Wirbel. Er sollte die Frisur ändern, dachte er einen Moment. Doch dann schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: Für wen?

Grace war nicht mehr da. Sie würde sich nicht mehr darum kümmern, um sein „kühles Haar zwischen ihren Brüsten kitzelte". Ihre Worte. Sein Herz zog sich qualvoll zusammen, als presse es eine Faust zusammen. Für einen Augenblick verharrten seine Füße, bevor er es schaffte sich zusammenzureißen. Es war wie ein Tandem in ihm drin. Ein Tandem zwischen markerschütternder Trauer und ungläubiger, eiskalter Leere. Und Alec wechselte übergangslos von dem einen zum anderen. Nicht einmal Wut hatte darin Platz. Nicht einmal Hass. Langsam setzte er den nächsten Schritt. Im selben Moment ging neben ihm die Tür zu seinem Büro auf.

„Mr. Slaughter?"

„Schwarzer Arkaios?"

„Alec", verbesserte er murrend, ohne seinen Gästen einen Blick zu gönnen. „Einfach Alec."

„Nun, Alec", folgte ihm eine andere Stimme über den Flur. „Wir brauchen Ihre Hilfe."

„Fragt mich spä..." Er unterbrach sich. „...nie." Er warf einen Blick auf die drei dunklen Gestalten, die ihm folgten. Sie trugen alle schwarze, lange Mäntel, feste Stiefel und seltsamerweise hatten sie ihre langen Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden. Das waren in jedem Fall keine Vampire, dessen war er sich sicher. Er blieb mit plötzlich wachsendem Interesse stehen. „Warten Sie in meinem Büro."

Die drei Wesen nickten synchron und traten mit gesenktem Kopf einen Schritt zurück.

Er betrachtete für einen Moment das Fließen ihrer Schritte auf dem Boden, bevor er sich seltsam energiegeladen seiner Dusche widmete.

*

Holly ließ sich auf ihrem Bett nieder, deckte sich zu und schob einen Teil des Lakens zwischen ihre Knie. So schlief sie immer. Auf der Seite, die Hände unter dem Kopfkissen, ein Stückchen von der Bettdecke zwischen den Knien. Viel mehr brauchte sie eigentlich auch nicht, um einfach wegzudämmern. Allein diese Haltung ließ sie schläfrig werden, bis sie kurz darauf einnickte.

Doch heute wollte der Schlaf nicht kommen. Genau so wenig wie in all den Nächten, die sie nun schon als Vampir lebte. Lukan hatte ihr sogar die Gabe des ruhigen, einfachen Einschlafens genommen. Stattdessen warf sie sich Tag um Tag im Bett herum, wälzte die Decke von ihrem Körper und zog sie wieder an sich, während vor den verbarrikadierten Fenstern des Hotelzimmers die Sonne aufging und ein unangenehmes Brennen zwischen ihren Augenbrauen auslöste. Es waren keine Kopfschmerzen, nicht wirklich, denn sie hatte keine Kopfschmerzen mehr. Aber so ähnlich.

Mit offenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Tief in ihr fühlte sie eine grauenvolle Bitterkeit, die sich langsam ausbreitete. Eine Bitterkeit, die all das Schöne in ihrem Leben langsam auffraß und es mit einer kalten Wut füllte.

Warum hatte er ihr das angetan? Warum hatte er sie denn nicht einfach sterben lassen, wie es sich für einen Menschen gehörte, sodass sie Eins mit der Natur werden konnte? Warum musste er auch aus ihr so ein kaltes Wesen machen?

Hasste er sie so sehr? Konnte er es so wenig ertragen, dass sie in seiner toten Brust ein paar Emotionen geweckt hatte? War dies seine Rache?

Eine neue Welle der Verbitterung schwappte über ihren Geist. Sie hatte das nicht verdient. Sie hätte sich vielleicht von ihm fern halten sollen, doch diese Strafe war einfach grausam. Selbst für einen Dämon.

Und als würde das noch nicht reichen, dass er ihr alles genommen hatte, machte er sich auch noch über sie lustig. Sie warf sich im Bett herum und starrte an die Decke. Er wusste, dass sie immer noch etwas für ihn empfand. Aus welchem Grund sonst würde er immer noch in ihrer Nähe sein wollen? Er labte sich an ihrem Unglück und an dem schneidenden Schmerz in ihrer Brust. Er fand es lustig, wie er sie manipulieren konnte. Wie er es innerhalb eines Lidschlages schaffte, ihm einfach alles zu verzeihen und sich nach seiner Nähe zu sehnen. Nur damit er nach diesem Augenblick wieder all ihre Gefühle zerschmetterte. In diesen Momenten erinnerte er sie mit kalter Präzision daran, was er ihr alles genommen hatte.

Das Diner. Ihr Leben. Ihre Freunde. Die Sonne.

Es waren höfliche Nachfragen. Immer genau zur richtigen Zeit. Immer dann, wenn sie meinte in seinen Augen einen Hauch von Wärme und Sehnsucht entdeckt zu haben. Von Schmerz. Dann schlug er zu. Er war ein Meister darin, ihre Selbstachtung und ihre Gefühle zu zerschmettern. Mit nichts weiter als einem Fingerschnippen.

Doch heute hatte er einen Fehler gemacht. Er hatte es nicht geschafft, sie zu schockieren und ihr Herz ein weiteres Mal zu brechen, als er ihr seine Liebe gestand. Eine Lüge natürlich. Doch sie war vorbereitet gewesen, deshalb hatte es nicht mehr so sehr wehgetan. Nicht mehr so sehr.

Jeden Tag versuchte sie sich etwas mehr gegen ihn zu verhärten, doch jede Nacht suchte sie wieder in seinen Zügen nach der Lüge, die sie unbedingt glauben wollte. Noch kränkelte ihr Herz, doch irgendwann wäre sie stark genug, diese Gefühle, die sie trotz allem für Lukan empfand, einfach zu unterdrücken.

Bis sie nicht mehr da waren.

Sie spürte es schon jetzt, dass mit jeder Nacht, in der sie sich etwas mehr vor dem Schmerz verschloss, Lukan etwas mehr Abstand nahm. Er langweilte sich mit ihr, weil er sie nicht mehr so leicht manipulieren konnte.

Zumindest diese Hoffnung hatte sie noch: Sobald ihr Herz wieder frei von ihm war, würde auch er verschwinden. Sie musste nur durchhalten.

*

Es war eine ganz feine, subtile Bewegung. Fast nicht wahrnehmbar und trotzdem verstand jeder die Aussage.

Ein Seufzen erfüllte den Raum, als Agent Goldman seine Hand zurückzog. Er hatte versucht Grace' Flügel zu berühren, doch jedes Mal, wenn man diesen seidigen, wunderschönen Dingern zu nahe kam, senkten oder hoben sie sich ein kleines Stück. Trotzdem konnte bisher niemand von ihnen widerstehen. Irgendwann versuchten sie alle, diese zarten Gebilde aus schwarzen Federn anzufassen. Als haben diese Bögen einen eigenen Willen, entzogen sie sich allerdings immer wieder den Berührungen.

Was nicht unbedingt fördernd für das Verhör war, wenn alle Anwesenden nur mit dem Gedanken beschäftigt waren, wie sich dieser glänzende Samt anfühlen musste.

Göttlich, entschied Robert McIntyre leise lächelnd. Einfach göttlich. Er schüttelte den Kopf und starrte einen Moment blind auf das Papier vor sich, bevor er sich räusperte. „Sie erinnern sich an nichts, Miss Newlands?"

Grace legte den Kopf schief und betrachtete ihn, während hinter ihr - und um sie herum - die Männer und Frauen der verschiedenen Abteilungen der Regierung selig grinsend die Flügel betrachteten.

Grace' blaue Augen fixierten ihn und in den Tiefen sah er nur pure Verwirrung und Ruhelosigkeit, während ihre Hände auf dem Tisch ruhelos mit dem Pappbecher des Kaffees spielten. Immer wieder glitten ihre Augen kurz zu den Anwesenden, die nicht, wie abgesprochen, hinter der Spiegelwand waren und von dort aus zusahen. Es war wirklich seltsam, wie sich zuerst der erste mit einem Kaffee für Grace Zutritt verschafft hatte und nun auch der komplette Rest langsam hier aufgetaucht war. Sogar der Präsident hatte sich angemeldet, wenn man den Gerüchten glauben durfte. Denn dies war eine verdammte Sensation: Ein echter Engel mit schwarzen Flügeln hockte im Knast.

Vor dem Polizeirevier wartete eine riesige Kolonne an internationalen Fernsehteams und sogar die Tochter von Roberts Sekretärin wollte für ihre Schülerzeitung einen Bericht verfassen. Wäre es nicht so süß, wäre das verdammt gruselig.

„Nein. Ich erinnere mich nicht." Grace hob ihren Kaffeebecher an ihre Lippen und trank den letzten, kleinen, bröseligen Rest. Ihre Stimme klang ruhig, doch irgendetwas Gehetzes schwang bei den Worten mit.

„Ich hol neuen!", brüllte jemand aus dem Hintergrund und stürzte aus dem Raum.

Robert wurde einfach nicht schlau aus ihr. Erinnerte sie sich wirklich nicht? „Sie haben gesagt, dass er nicht gekommen sei", sagte Robert und betrachtete sie durchdringend. „Dass er allerdings noch kommen könnte. Das waren Ihre Worte in der Höhle." Langsam schlug Robert einen weiteren Bericht auf. „Mr. Chase Mendeland haben Sie etwas Ähnliches gesagt. Dass sie auf ihn warten müssten." Robert schlug die Akte zu und legte seine Hände darauf. „Wer ist er?"

Grace blinzelte entrückt und schob den Becher von sich. „Schwer zu sagen." Sie runzelte kurz die Stirn und betrachtete die Neonröhren, die an der Decke hingen. Dann senkte sie den Blick. „Ich habe auf eine Art Manifestation des Todes gewartet, denke ich. Den Sensenmann oder so."

„Warum?"

„Weil ich tot bin... war. Ich versteh das doch selbst nicht." Wieder warf sie einen Blick auf die Leute hinter ihr. Sie fühlte sich hier nicht wohl. Mehr noch: Sie fühlte sich nirgendwo mehr wohl, als gehöre sie hier nicht hin; weder ins Revier noch auf diese Welt. Das sah er in ihren Augen. Diese vollkommene Verwirrung stand ihr wie in dicken Lettern ins Gesicht geschrieben.

„Versuchen Sie sich an das letzte zu erinnern, was ihnen passiert ist", begann Robert erneut.

„Ich stehe an einem Abgrund und springe. Oder falle." Das Runzeln vertiefte sich. „Ich glaube, ich bin gesprungen. Aber ich hatte auch nicht wirklich die Wahl."

„Und davor?"

Grace zuckte nonchalant mit den Schultern, doch die Gehetztheit in ihren Augen wuchs. „Ich hab immer noch keine Ahnung, wer Sie sind. Und was ich in dieser Höhle gemacht habe. Ich weiß nicht, was sie mit diesen Fotos wollen, aber ich war nicht in diesem Haus und auch sonst... Meine Eltern sind tot?"

Robert schloss einen Moment die Augen, als er ihren zu Tränen rührenden Blick sah. „Es tut mir leid..."

„Kannten Sie sie? Waren sie nett?", fragte sie mit großen, blauen Augen. Dann winkte sie ab und wischte sich über die Augenbrauen, als habe sie Kopfschmerzen. „Es spielt auch keine Rolle. Ich kannte sie nicht. Kenne sie nicht." Sie zögerte. „Ich erinnere mich nicht. Aber Sie scheinen mich zu kennen, ja?", fragte sie ein weiteres Mal, als sei sie sich sicher, dass er bei der neunten Nachfrage eine andere Antwort geben würde.

„Ich kenne Sie aus Ihrer Kindheit", sagte er in einem Tonfall, der genauso gut sagen könnte: Du hattest vor dem Aufwachen in der Höhle ein Leben. Du erinnerst dich zwar nicht, aber das kommt schon noch wieder.

„Vielleicht wurde mein Hirn beschädigt, als ich gestorben bin", sagte sie in einem Tonfall, den Robert normalerweise nur von Gerichtsmedizinern kannte. Oder von Medizinern aus dem Krankenhaus. Vielleicht erinnerte sie sich also doch an ihren früheren Job als Chirurgin.

Robert fixierte sie einen Moment, doch sie machte nicht den Anschein, als würde ihr der eigene Tonfall auffallen. Sie hörte allerdings mit der Massage ihrer Stirn auf. „Warum glauben Sie, dass Sie tot waren?"

Sie kniff die Augen zusammen und lächelte amüsiert. „Wenn Sie eines Tages sterben, wissen Sie, was ich meine. Man weiß einfach, dass man tot ist. Und dass es okay ist. Dass man sein Schicksal erfüllt hat." Sie stockte. „Oder so. Ich bin mir nicht sicher, wie genau es sich angefühlt hat, aber es war... schön." Überrascht sah er das Aufflackern von Sehnsucht zu diesem Ort. Sie wollte offensichtlich nicht hier sein.

„Weshalb glauben Sie, dass sie zurückgekommen sind... mit..."

„Flügeln?", fragte Grace nun eindeutig amüsiert und schüttelte raschelnd die Federn aus. „Vielleicht einer von Gottes Insider-Witzen, die sonst niemand versteht, außer man sagt Sätze wie Gottes Wege sind unergründlich?"

„Das ist blasphemisch", sagte er schockiert. Einfach, weil es aus dem Mund eines Engels kam.

Sie legte den Kopf schief. „Tatsächlich", erwiderte sie trocken. „Das war blasphemisch. Sie scheinen sehr clever zu sein, Polizeichef McIntyre."

Robert zog die Augenbrauen zusammen. „Sarkasmus. Wie nützlich."

„Ja, nicht?" Sie lächelte.

Kurz blieb sein Blick an diesen wundervollen Flügeln haften, doch bevor sich dieser selige Zauber ein weiteres Mal um ihn legen konnte, sah er in ihre traurigen Augen.

„Vielleicht habe ich ja einen Auftrag", erklärte sie und blinzelte. „Die Welt retten zum Beispiel. Obwohl ich Kämpfe echt hasse." Sie unterbrach sich und runzelte die Stirn. „Ich glaube zumindest, dass ich Kämpfe nicht ausstehen kann. Steht davon irgendetwas in ihrem Bericht?"

Roberts linkes Augenlid zuckte. „Nein."

„Wie bedauerlich."

„Aus welchem Grund machen Sie sich über diese ganze Angelegenheit lustig, Miss Newlands?", fragte Robert angespannt und rieb sich über sein zuckendes Lid. „Es sind vierhundertdreizehn Menschen auf dem Anwesen von Aleandro Slaughter gestorben und weitere zweihundert Menschen sind gerade im Krankenhaus und versuchen herauszufinden, aus welchem Grund ihre inneren Organe versagen! Sie sind die einzige, die uns Antworten liefern könnte, was zur Hölle da eigentlich passiert ist!"

„Polizeiarbeit muss ganz schön frustrierend sein."

Roberts Hände ballten sich zu Fäusten, doch er bezwang den Drang, aufzustehen und dieser arroganten, kleinen, sarkastischen Person eine reinzuhauen. Wie konnte sie das nur kalt lassen? Wie konnte sie nur so fürchterlich herzlos sein und Witze reißen, während da draußen Kinder an einer merkwürdigen Krankheit starben? Wie konnte Gott einem solchen Wesen nur so wunderschöne Flügel verleihen?

Robert öffnete eine weitere Mappe und schob ihr mehrere Bilder vom Kriegsschauplatz zu. Auf vielen Bildern waren nur abgetrennte Gliedmaßen zu sehen, auf einem allerdings das verzerrte, panische Gesicht eines kleinen Kindes.

Grace' Lider senkten sich kurz, als sie die Bilder betrachtete und dieses Mal widerstand Robert der Versuchung einen heimlichen Blick auf ihre seligen Flügel zu werfen, sondern starrte sie aufmerksam an. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und ihre Wangen wurden fast durchscheinend. Ihre Unterlippe begann für einen Moment zu zittern, bevor sie langsam einatmete und unbewusst eine Hand hochnahm, als wolle sie vorsichtig über das Gesicht des Kindes streichen. Es behutsam und tröstend berühren. Sie schloss die Augen, schluckte langsam und ballte die Hand um ihren Pappbecher zur Faust, bis er nachgab und zerquetscht wurde. Dann hatte sie sich wieder im Griff und sah ihn abwartend, kühl an.

Hatte sie das beim ersten Anblick der Bilder auch getan? Robert wusste es nicht. Er war zu fixiert auf diese unglaublichen Federn gewesen, die sich mit Sicherheit wie Samt anfühlen mussten, das von einem Kaminfeuer erwärmt wurde. Jede einzelne Feder glänzte nicht nur... Sie glitzerte. Wunderschön und bestimmt weicher als Seide. Geschmeidiger als poliertes Holz. Und auf eine seltsame Art gefährlich, wie ein Blatt Papier: Sanft, zart, nachgiebig, aber mit scharfen Kanten.

Er schüttelte den Kopf. Mit ruhigen Fingern legte er ihr ein weiteres Foto vor und sah sie aufmerksam an. Das Bild zeigte eine deutlich schwangere Frau, die kurz vor ihrem Tod schützend ihre Hände auf ihren gerundeten Bauch gelegt hatte. Ihr Blick war hilfesuchend und ungläubig. Wie fast alle Personen auf dem Schlachtfeld hatte auch sie nicht damit gerechnet zu sterben. Doch ein harter Zug um ihre Lippen zeigte eine Bereitschaft zu sterben, solange ihr Kind nur überlebte. Es hätte ein Mädchen werden sollen, hatte die Gerichtsmedizin gesagt. Ihr Ehemann lag gerade im Krankenhaus und erlag dieser seltsamen Krankheit. Er hatte ausgesagt, dass sie unterwegs waren, um ein Kinderbett von Verwandten abzuholen. Die Blase seiner Frau hatte sie zu einem Zwischenstopp an einer Raststätte gezwungen. Danach erinnerte er sich an nichts mehr.

Die Ärzte waren der Meinung, dass er den Kampf gegen die Krankheit aufgegeben hatte, als er vom Tod seiner Frau erfuhr. Nun lag er seit sieben Stunden im Koma und würde daraus nicht wieder erwachen.

Grace schluckte einige Male. So schnell und kurz schluckten normalerweise Menschen, wenn sie kurz davor waren, sich zu übergeben. Das wusste Robert. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie versuchte sich und ihren Magen zu beruhigen.

Er zeigte ihr auf eine deutlichere Reaktion hoffend ein weiteres Bild. Eine dunkelhaarige Frau mit einem seltsam alterslosen Gesicht. Sie kam aus einer Kleinstadt im Mittleren Osten und besaß dort einen kleinen Laden für Antiquitäten. Allerdings gab sie, von ihren Freunden Pheobe genannt, auch Kurse an der örtlichen Highschool und war sehr beliebt. Ihre Fingerkuppen waren weggeätzt, als habe sie in Säure gegriffen und ab ihren unteren Rippen fehlte der Teil ihres Körpers. Innere Organe waren aus dem Loch geflossen und bildeten wie die Arme von einem Kraken seltsame Muster auf dem blutigen Rasen. Doch ihr Blick war entschlossen, als habe sie für etwas Wichtiges gekämpft. Anders als so viele andere auf dem Schlachtfeld hatte sie einen Grund gehabt, dort zu sein.

Er wollte gerade ein weiteres Bild hervorholen, als er ein seltsames Zucken an Grace wahrnahm. Sie erinnerte sich! Sie wusste, wer diese Frau war! Doch das Mädchen runzelte plötzlich die Stirn und kniff die Augen zusammen, als versuche sie sich auf das Gesicht der Frau zu konzentrieren, bevor sie frustriert seufzte und leicht den Kopf schüttelte.

So kam er nicht weiter.

Er nahm die Fotos erneut vom Tisch und legte sie ordentlich in die Akte. Sie war eben ein herzloses Biest. Vielleicht hatte sie es werden müssen, um ihre Kindheit und den Tod ihrer Eltern zu verkraften. Doch für einige Augenblicke hatte er das Entsetzen und diese ohnmächtige Wut in ihren Augen gesehen, als sie die Bilder betrachtete. Dies nahm sie ebenso mit wie all die anderen Anwesenden. Nur hatte ihre Seele offensichtlich so viel Schmutz und Dreck abbekommen, dass es einen ganzen Bunker um ihre Verletzlichkeit gebaut hatte. Und offensichtlich war sie ein Meister im Verdrängen.

„Abwehrmechanismen des menschlichen Geistes", hatte Agentin Cornwells leise geflüstert, als sie das gefasste, ruhige Mädchen mit Decken einwickelten, um sie vor den Blicken der Medien zu bewahren. Vor der Höhle warteten ganze Legionen an Reportern, doch sie hatten nicht mal den Hauch einer Ahnung, was für eine Sensation in der Höhle hockte.

„Wir haben mal aus einem Kofferraum einen Jungen geholt", erzählte die Agentin wispernd, während die Sanitäter das Mädchen untersuchten. „Vier Wochen war er in einem Erdloch in Mexiko gefangen gewesen, während seine Eltern mit seinen Entführern verhandelten. Er bekam einmal am Tag etwas zu essen und zu trinken, aber nur, wenn er seinen Entführern einen Gefallen getan hat." Sie erschauderte einen Moment. „Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern und hat auf jede Darstellung von Gewalt und Sex vollkommen normal reagiert." Sie warf ihrem Partner einen kurzen Blick zu. „Wir haben ihn einige Jahre später besucht. Er hat zusammen mit seinen Freunden ein Computerspiel gespielt, während seine Mutter uns erzählte, dass er vor einer Weile einen Gruselfilm gesehen hatte. Seine Klassenkameraden klagten danach über Albträume, aber er machte Witze."

Plötzlich erkannte Robert, was sie damit schon in dem Moment damit hatte sagen wollen. Grace konnte sich zwar nicht wirklich erinnern, doch bestimmte Mechanismen arbeiteten selbst unbewusst in ihr. Sie war nicht absichtlich kalt; dies schmerzte sie wie alle anderen auch. Aber sie ging eben anders damit um. Er seufzte. „Es tut mir leid, Miss Newlands. Vielleicht wäre es besser, wenn wir eine Pause machen."