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Fluchtverhalten

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Sascha lüftet die Geheimnisse der mysteriösen Nachbarin.
10.3k Wörter
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Sascha lüftet die Geheimnisse der mysteriösen Nachbarin

********************

Wer ist die blonde Schönheit, die der zurückgezogen lebende Sascha manchmal auf der Terrasse des gegenüber liegenden Penthouses sieht? Eines Tages lässt sie ihm eine Nachricht zukommen. Sascha besucht sie heimlich in der Nacht und wird in einen Mahlstrom aus Lügen, Verrat und Gefahr hineingezogen.

Dingo666

********************

Da war sie wieder!

Sascha Wagner spähte hinter der Küchengardine hervor, hinüber zu dem großen, langgestreckten Balkon. Dieser verlief über die gesamte Länge des gegenüber liegenden Wohnblocks.

Damit stellte er eine Art schmale Terrasse für das Penthouse drüben dar, denn die riesigen Fenster hinter der Brüstung saßen etwa einen Meter zurückgesetzt. Aber da der Vorsprung auch ein wenig über die Mauer des Stockwerks darunter hinausragte, und da das Geländer mit typischen 90er-Jahre-Aluminiumplatten bestückt war, hatte Sascha ihn schon immer als Balkon empfunden.

Seine eigene Wohnung lag im vierten Stock eines Gebäudes, das mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hatte. Damals wurden Häuser noch mit ordentlichen Deckenhöhen gebaut, selbst hier in Bergenkling, einem ansonsten kaum bemerkenswerten Stadtteil von Hannover. Daher erreichte sein Küchenfenster fast auf dieselbe Höhe wie der Balkon gegenüber, im fünften Geschoss des Neubaus aus den Nuller-Jahren.

Die Entfernung betrug exakt 18,25 Meter. Das hatte ihm der Laser-Entfernungsmesser verraten, den er letzte Woche zufällig im Baumarkt gesehen hatte. Er wusste sofort, dass er ihn haben musste, für 25,90 Euro. Obwohl er sonst keinen Anlass hatte, Räume oder Distanzen auszumessen.

Die Kaffeemaschine von Saeco fauchte und warf mit Dampf um sich. Während er auf seinen Cappuccino wartete, zupfte Sascha einige welke Blätter von der Brunnenkresse, die in dem kleinen Topf auf dem sonnigen Fenstersims wucherte.

Dahinter sah er das lange, blonde Haar des Mädchens schimmern. Wie üblich stand sie aufrecht, fast starr, die Hände um die umlaufende Stange des Balkongeländers geklammert, den Blick auf den Horizont gerichtet. Ihr Gesicht, herzförmig über einem schlanken Hals, spiegelte kein Gefühl, keinerlei Regung. Wie üblich fühlte Sascha sich eigentümlich berührt.

Anfang April war sie eingezogen. Davor hatte ein Yuppie-Pärchen in dem Penthouse gewohnt. Er war Börsenmakler oder Banker oder so etwas, den Beruf seiner Freundin hatte er nie herausgefunden. Eine letzte, rauschende Party Mitte März, eine Ladung krakeelender Gäste auf dem Balkon.

In der Folgewoche hatte eine Flotte Umzugslaster ihre Besitztümer aus der Wohnung gesaugt und nur leere Fenster zurückgelassen. Wenige Tage später standen neue Fahrzeuge vor dem Eingang, von einer anderen Firma diesmal, und der Prozess spulte sich rückwärts ab. Die Glasflächen hinter dem Balkon wurden von anderen Gardinen verhüllt. Weißer Stoff, blickdicht.

So konnte er das Mädchen nur dann sehen, wenn sie auf den Balkon heraustrat. Alles, was sich sonst in der Etage tat, blieb ihm verborgen. Ein oder zwei Mal meinte er, ein breites, männliches Gesicht hinter einem Fenster erkannt zu haben. Doch außer ihr kam niemals jemand auf den Balkon. Sie dagegen verbrachte jeden Tag mindestens eine Stunde dort, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Auch bei Nebel oder Nieselregen. Nur bei heftigem Niederschlag blieb der Vorbau verwaist.

Sein eigener Balkon lag vor seiner Küche, ihr zugewandt. Nur ein einziges Mal war er zufällig draußen gewesen, als sie erschien. Das war, als er vor Pfingsten das alte Holzgeländer mit einer frischen Lasur überzog. Erst als er aus den Augenwinkeln sah, wie die Reflexion auf dem Glas der Balkontür drüben beim Öffnen erzitterte, wurde ihm klar, dass er auf sie gewartet hatte. Und dass er extra für sie ordentliche Kleider angezogen hatte. Nicht das hässliche Holzfällerhemd, das er sonst immer bei schmutzigen Außenarbeiten trug.

Wie zufällig drehte er sich herum, sah sie und winkte grüßend hinüber. Ganz normal. Ein freundlicher Nachbar eben. Sie reagierte nicht. Schien ihn nicht einmal wahrzunehmen. Sah nur nach Westen, über die Bäume der Grünanlagen hinweg, in Richtung der sich langsam senkenden Sonne.

Seitdem mied er seinen Balkon. Er sah lieber aus dem Küchenfenster.

Nachdem das Plätschern des Kaffees verklungen war, nahm er die Tasse und schlenderte in sein Wohnzimmer. Der neue, riesengroße Fernseher mit den schicken Surround-Boxen ringsum sah ihn erwartungsvoll. Ja, er schien auffordernd zum wandhohen Regal mit den Hunderten von DVDs zu schielen.

Die Sammlung stellte das Ergebnis lebenslangen Suchens und Hortens dar, auch wenn der Wert der Sammlung seit Netflix empfindlich gefallen war. Aber heute verspürte er wenig Lust, den Samstag mit einem Actionspektakel einzuläuten.

Das Büro, direkt angrenzend. Sein großer Schreibtisch. Sein teures Notebook, das Zentrum seiner professionellen Aktivitäten als freiberuflicher Mitarbeiter einer Buchhaltungskanzlei. Auch die Bilanzen der von ihm betreuten Mittelständler übte momentan keinerlei Anziehungskraft auf ihn aus.

Wie üblich stand mehr Arbeit als genug an. Sein Kunde Mölking & Weiß bastelte gerade hektisch an einer Präsentation für die Bank und würden spätestens am Montagnachmittag nach den Zahlen schreien. Dabei hatten sie ihm die Rohdaten vom Mai erst am Freitag durchgegeben.

Egal. Das konnte er am Montagvormittag erledigen. Jetzt war Wochenende!

Kurz irrten seine Gedanken ab, zerrten alte Eindrücke und Bilder aus seinen Erinnerungen hervor. Mit Amanda war er samstags oft über den Markt geschlendert. Der Geruch von reifem Käse vor dem Thekenwagen aus Frankreich. Buntes Gemüse in unordentlichen Ständen, die den Passanten den Weg verlegten. Amandas verschmitztes Lächeln über dem Rand ihrer Tasse. Sie hatte sie immer halb vor das Gesicht gehalten, so dass er nur ihre Augen erkennen konnte. Die Augen, die sich beim Lächeln wie Mandeln formten.

Mit einem großen Schluck spülte er diese Spinnweben hinunter. Amanda war weg. Der Markt war auch weg, ebenso die alte Wohnung. Dafür hauste er jetzt in einem ruhigeren Viertel und besaß die Top-Multimedia-Anlage, gegen deren Anschaffung seine Exfreundin immer so fürchterlich vernünftige Gründe gefunden hatte. Und seine Ruhe. Die ganze Woche und speziell samstags und sonntags. Genug Raum, um einem hübschen, unbekannten Mädchen aus der Nachbarschaft hinterher zu gaffen, so lange er nur wollte.

Sascha trank aus und stellte die Tasse auf den Schreibtisch. Extra achtlos, ohne zu prüfen, ob etwaige Feuchtigkeit Ränder auf dem edlen Furnier hinterlassen würden. Amanda hatte einen ständigen Abwehrkampf gegen die Abdrücke geführt und seine Gläser immer mit vorwurfsvoll zusammen gekniffenen Lippen aufgeräumt.

Dann musste er grinsen. Amanda waren die Ringe auf seinem Tisch inzwischen mehr als egal, und über die Flecken würde er sich höchstens selbst ärgern. Er nahm die Tasse, wischte die Nässe vom Holz, und ging in die Küche.

Ein routinemäßiger Blick aus dem Fenster. Die Sonne strahlte vom Himmel, doch der Balkon, oder die Penthouse-Terrasse, lag verwaist.

***

Einige Stunden später kam Sascha von einer ausgedehnten Radtour nach Hause. Wie immer hatten ihm die Kilometer auf dem surrenden Rennrad gutgetan. Die körperliche Anstrengung hatten ihn zurückgebracht, ins Hier und Jetzt, in sein heutiges Leben.

Wie immer nach so einer Tour hatte er einen gewissen Frieden mit seinem Dasein schließen können. Er lebte weder gut noch schlecht. Ganz normal eben. Ein gutverdienender Enddreißiger nach einer längeren Beziehung, ohne außergewöhnliche Interessen oder exzentrische Hobbys, ohne zu viele lästige Freunde, ohne besonderes Ziel. Ein Boot in einem spiegelglatten Teich ohne jeglichen Seegang. Genau, wie er es haben wollte.

Als er das Rad im Keller abgestellt hatte und in den Hof heraustrat, sah er aus reiner Gewohnheit zum Balkon gegenüber hoch.

Er zuckte zusammen.

Das Mädchen sah zu ihm herunter. Blickte ihn aus riesigen Augen direkt an. Lebendig. Eindringlich. Vielsagend. Er lächelte unwillkürlich und winkte, aber die Geste erstarb mitten in der Bewegung, als jegliche Reaktion ausblieb. Nur ihr magnetischer Blick hielt ihn gefangen wie mit einem Magnetstrahl.

Irritiert blinzelte er, spürte leichten Ärger. Was wollte sie nur? Warum...

Eine unmerkliche Handbewegung von ihr. Ein kleiner Gegenstand fiel herab. Landete mit einem dumpfen Schlag im Grasstreifen neben der Eingangstür und kullerte zwei Schritte nach rechts. Als er fragend hochblickte, war der Balkon leer.

Sascha ging langsam über den Hof und kam sich lächerlich vor. Was mochten etwaige Nachbarn denken, die hinter ihren Gardinen hervor verfolgten, wie er mit seinem neonbunten Bikerdress im Hof herumlief und Sachen vom Boden aufsammelte?

Das Ding war eine olivgrüne, kaum abgebrannte Kerze in modischer Kugelform. Der Docht war direkt über dem weißlichen Wachs abgebrochen, stummer Zeuge eines versagenden Industriefertigungsprozesses. An der Kugel, gehalten von drei mehrfach gelegten Gummis, haftete ein weißes Quadrat. Ein Papier, klein zusammengefaltet.

Ohne einen bewussten Gedanken nestelte Sascha den Zettel ab und strich ihn auseinander. Als er die gedrängte Schrift darauf sah, wurde ihm klar, wie seltsam er jetzt erst auf mögliche Beobachter wirken musste. Er ballte eine Hand um seinen Fund und ging schnell zurück ins Haus. Er sah erst wieder auf das Papierchen, als sich die Tür seines Domizils hinter ihm geschlossen hatte.

„Bitte helfen Sie mir! Ich werde in dieser Wohnung gegen meinen Willen gefangen gehalten. Kommen Sie ab 23.00 Uhr auf meinen Balkon, dann kann ich ihnen alles erklären. Der Aufstieg geht über die Regenrinne ganz leicht. Ich flehe Sie an: lassen Sie mich bitte nicht im Stich! S."

Stirnrunzelnd ließ Sascha den Zettel sinken. Was für ein Film lief hier ab? In welches Spiel sollte er hineingezogen werden? Alle seine Instinkte warnten ihn. Er konnte geradezu spüren, wie sie an seiner Haut zupften und seine Muskeln versteiften. Der glatte Teich seines ausgeglichenen Lebens drohte ohne Vorwarnung von einem Starkwind aufgewühlt zu werden, und der größere Teil von ihm ging sofort in Abwehrstellung.

Er schluckte und zwang diese Attacke nieder. Alles war gut, alles war ok! Er war in seiner Wohnung, die Tür war geschlossen, niemand war da. Wenn er wollte, dann konnte er tage- und wochenlang alleine hier drin sein, nur über dünne Kupferkabel in Kontakt mit dem Rest der Welt.

Alles war gut!

Ein klarer Kopf, das war jetzt wichtig! Ganz ruhig, in aller Ruhe mal überlegen! Am besten über die Geschichte lachen, den Zettel wegwerfen, und den eigenen Balkon erst wieder benutzen, wenn das Mädchen ausgezogen war. Bis dahin nur hinter den zugezogenen Gardinen hervor hinüberschauen. Das war doch vernünftig, oder?

Natürlich. Sascha ging in die Küche und nahm seine bevorzugte Beobachtungsposition ein. Keine schlanke Gestalt. Kein aschblondes, seidenlanges Haar, keine bittenden Augen.

Na also! Alles nicht so schlimm!

Sascha entspannte sich. So lange, bis er bemerkte, dass er den Verlauf der Regenrinne am Nachbarhaus akribisch von unten nach oben verfolgt hatte. Die vielen bequemen Querverstrebungen und Klettermöglichkeiten sprangen ihm förmlich in den Blick. In seiner Jugend war er öfters in den Bergen unterwegs gewesen. Neben den damals bezwungenen Felswänden wirkte die Fassade gegenüber wie eine Rolltreppe.

O nein!

Er würde sich nicht einmischen, keinesfalls! Der Himmel mochte wissen, in welchen Schwierigkeiten die Kleine war. Das war jedenfalls nichts für ihn!

Hm -- vielleicht ein anonymer Hinweis bei der Polizei? Aber nein, die konnten inzwischen sicher jeden Anruf automatisch zurückverfolgen.

Er würde sich jetzt in aller Ruhe duschen, dann ein paar Filme aussuchen, „Matrix Teil 1 bis 3" oder so, und sich einen schönen Abend machen.

Ja, das klang gut!

***

Kurz vor elf stand Sascha mit jagendem Herzen vor dem Nachbarhaus und starrte an der Regenrinne empor. Die alte Jeans und das dunkelblaue Shirt sahen unauffällig genug aus und sollten bei der Dunkelheit Schutz vor einer schnellen Entdeckung bieten. Als er eine Hand an das kühle Metall legte, da durchfuhr ihn ein Schauer. Warum machte er diesen Blödsinn hier?

Mit einem letzten tiefen Atemzug umfasste er das Rohr und setzte den Fuß auf die Oberkante des Gebäudesockels.

Greifen. Greifen. Hochziehen.

Stand sichern. Anderer Fuß nachziehen.

Wenn ihn jemand sah und die Polizei alarmierte, dann würde er ihnen den Brief zeigen, der in seiner Hosentasche steckte. Er würde behaupten, er wollte einfach erst einmal selbst nachschauen, bevor er Alarm schlug. Was ja irgendwie auch stimmte. Als Buchhalter und bisher unbescholtener Bürger würden sie ihn kaum verknacken können.

Greifen. Greifen. Hochziehen.

Im Erdgeschoss war alles dunkel. Im ersten Stock kletterte er zwischen einem hellen Küchenfenster und einem kleinen Balkon durch, dessen Geländer er für eine ganz kurze Verschnaufpause nutzte. Klassische Musik wehte um seine Ohren. Familie Mueller vermutlich, mit denen hatte er sich schon ein, zwei Mal im Hof unterhalten.

Greifen. Greifen. Hochziehen.

In der zweiten Etage lebte diese alte Frau Kastfinger. Stocktaub und meist im Rollstuhl. Keine Gefahr von dort.

Greifen. Greifen. Hochziehen.

Dritter Stock. Beim Passieren ratschte etwas glühend über seine Schulter, zerriss den Stoff seines Shirts und stach ihm heimtückisch in die Seite. Er fluchte stumm und wich aus. Ein buntes Windrädchen war da mit dickem Draht an das Balkongeländer angebunden. Ein Ende stand drohend heraus, in der Dunkelheit praktisch nicht zu erkennen. Daneben ein Holzhase, wohl noch von Ostern.

Greifen. Greifen. Hochziehen.

Irgendwo im Vierten stritt sich ein Paar. Eine keifende Frauenstimme, missmutig brütend der Mann dagegen.

Greifen. Greifen.

Keuchend hing Sascha vor dem obersten Balkon. Er musste sich eingestehen, dass er nicht mehr der schlaksige Jugendliche war, der sich mühelos die steilsten Felswände emporzog. Trotz seiner Radtouren und den Abenden im Fitness-Center lagen die Tage seiner sportlichen Höchstleistungen wohl hinter ihm.

Vorsichtig schwang er sich über die Brüstung und kauerte an den Aluminiumplatten in Deckung. Er wartete einige Minuten, bis Herzschlag und Atem ruhiger gingen und der Abendwind den Schweiß auf seiner Stirn angetrocknet hatte.

Die drei riesigen Fensterflächen, die praktisch die gesamte Wand bildeten, spiegelten das matte Licht der Straßenbeleuchtung. Nur ganz rechts war hinter den Vorhängen so etwas wie ein Licht innen zu erahnen, klein und entfernt. Kein Laut unterbrach die Stille.

Ok, das reicht!, entschied er. Die Rinne ist kein Problem, da komme ich auch wieder gut runter. Genug Abenteuer für einen Abend.

Er klopfte vorsichtig an die Scheibe.

Nichts.

Dann Schritte.

Das Fenster hob sich um ein, zwei Zentimeter, und schnarrte komplett nach links.

„Kommen sie rein! Schnell!"

Eine schmale Hand kam durch die entstehende Öffnung, ergriff seinen Arm, und zog mit unvermuteter Kraft. Halb überrumpelt ließ Sascha sich in die fremde Wohnung ziehen.

Die schlanke Gestalt neben ihm schloss das Glas rasch wieder und strich die Vorhänge sorgfältig glatt. Sie verharrte für einen Moment steif aufgerichtet. Dann drehte sie sich um.

Im Halbdunkel einer kleinen Leselampe in der gegenüberliegenden Ecke des großen Wohnzimmers erkannte Sascha das Mädchen. Sie sah ihn mit offenem Mund an, wie eingespannt zwischen Neugier und Beklommenheit. Ihm wurde klar, dass er ein sehr ähnliches Bild bieten musste.

„Sie haben ihre Kerze verloren!", sagte er den Eröffnungssatz auf, an dem er den ganzen Nachmittag sorgfältig gefeilt hatte. Das sollte mindestens so cool klingen wie ein Einzeiler von Daniel Craig. Er fischte den fraglichen Gegenstand aus seiner Tasche und hielt ihm dem Mädchen hin. An einer Seite war der grüne Wachsüberzug vom Aufprall auf den Steinen unten völlig zerschrammt.

Sie starrte ihn an, dann auf das grüne Ding. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen, wurde zum Grinsen. Der Raum hellte sich um mehrere Grad auf.

„Danke vielmals!"

Sie nahm die Kerze wie ein Staatsgeschenk entgegen und kicherte.

„Sascha Wagner", stellte Sascha sich vor und streckte die Hand aus.

Das Mädchen ergriff sie und feixte erneut. Anscheinend hielt sie die Begrüßung für eine pompöse Erweiterung der kleinen Stegreif-Komödie, die er da aufführte.

„Sophie Margareta Rohmann", meinte sie und machte sogar einen Knicks. Sascha nickte. Sophie war unter den Möglichkeiten gewesen, die er sich zu ihrem Initial „S.". schon vorgestellt hatte.

Das geheimnisvolle Wesen war Mitte zwanzig, schätzte er. Aus der Nähe wirkte sie erwachsener als quer über den Hof. Sie hatte die langen, glatt gekämmten Haare mit silbernen Spangen zurückgesteckt und betrachtete ihn aus dunklen Augen. Die genaue Farbe war nicht zu erkennen. Eine schlichte Bluse in Weiß und eine schwarze, enganliegende Hose verrieten Geschmack und Geld. Von beidem besaß er selbst gerade genug, um ein gehäuftes Vorkommen bei anderen Leuten zu bemerken und zu bewundern. Oder zu beneiden, je nachdem.

Sophie machte den Mund auf, da meldete sich ein Telefon mit melodischer Tonfolge. Sie wurde aschfahl und packte ihn an den Oberarmen.

„Um Gottes Willen, kein Wort! Er darf nicht wissen, dass sie hier sind!"

Sascha nickte mechanisch und empfand sich wie ein Schauspieler auf einer fremden Bühne. Warum nur saß er jetzt nicht bequem vor seinem Fernseher? Sein Herz wummerte in der Brust.

Das Mädchen stakste zum Apparat, atmete tief durch, und nahm den Hörer auf. Den Rücken hielt sie wie einen Schutzschild in seine Richtung.

„Hallo? Ach, Paps! Ja. Ja, alles klar. Nein, ich brauche nichts. Nein. Ich lese ein bisschen. Ja... ja... aha? Ok. Ja, gut. Bis morgen. Tschüss Paps!"

Ein Klicken. Langsam ließ sie das Sprechteil sinken und dachte nach.

„Bernard kommt erst tief in der Nacht zurück", meinte sie. „Wir sind also noch ein paar Stunden ungestört."

„Was ist hier los, Frau Rohmann?", fragte Sascha nun im Ton eines Bankangestellten. Die halbdunkle Wohnung fühlte sich an wie ein schwüler Dschungel, und er brauchte dringend eine Brise frischer, gesunder, rationaler Normalität.

Sie fuhr zu ihm herum und starrte ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann lächelte sie entschuldigend und kam zu ihm. Nahm seine Hände.

„Bitte verzeihen sie mir. Ich bin schon so lange hier, dass ich vergesse, wie seltsam das rüberkommen muss. Und bitte: Nenn mich Sophie, ja?"

„Hrm -- also gut. Sophie." Er schluckte bei der unvertrauten Lautfolge und betrachtete abwesend den weißen Doppelhügel ihrer Brust. Sophie war nur wenig kleiner als er selbst. Große Frauen fand er schon immer attraktiv...

„Zuerst möchte ich dir ganz, ganz herzlich danken, dass du das alles auf sich genommen haben, um mir zu helfen." Sie sah ernst zu ihm auf. Blau, entschied er. Ihre Pupillen mussten blau sein. Dunkelblau, wie das Meer an einer sehr tiefen Stelle.

„Ist schon ok. Was ist eigentlich los? Von wem wirst du denn... festgehalten?"

„Von meinem Vater!" Sie hielt seinen Blick gefangen, so wie bereits heute Nachmittag, vom Balkon herab. Aus kurzer Distanz strahlte sie eine Aura unterdrückter Energie aus. „Er ist ein Gangster. Ein richtiger Verbrecher, so wie aus dem Fernsehen. Was für Geschäfte er genau macht, das weiß ich nicht mal. Ich glaube, es hat mit Drogen oder mit Waffenhandel zu tun."

Sascha nickte. Natürlich. Eine ganz normale, vernünftige Erklärung. Passierte doch jeden Tag, oder?

„Bitte halte mich nicht für übermäßig skeptisch, Sophie", sagte er langsam. „Aber ich verstehe nicht, warum..."

Sie lachte auf. Ein Laut wie eine Messerklinge.

„Du verstehst nicht? Dann pass mal auf: Ich wusste es nicht. Er hat immer seine Fassade gewahrt, als ich jünger war. Bis ich mich vor vier Jahren mal so richtig verliebt hatte. Das war auf Ibiza. Philipp war bei der Bundeswehr, bei eine dieser Spezialeinheiten. Er war von seiner Truppe verpflichtet, jede neue Freundin von den Sicherheitsbehörden durchleuchten zu lassen. Und nun rate mal, was bei mir herauskam?"