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Die Erbschaft

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„Was ist dir passiert, Sandra? Du hast nie darüber gesprochen. Ist das der Grund, weshalb du von zu Hause ausgerissen bist?"

„Dass ich nie darüber gesprochen habe und das eigentlich auch nicht will, hat seine Gründe. Außer zwei Freundinnen von mir weiß niemand, was damals passiert ist."

Wilhelm merkte trotz ihrer Zurückhaltung, dass Sandra vielleicht endlich doch einmal darüber reden wollte. Vielleicht wollte sie an diesem Abend wirklich tabula rasa machen. Wann, wenn nicht jetzt?

„Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du darüber reden willst. Ich kenne dich jetzt schon so gut. Vielleicht hilft es dir, wenn du endlich alles aus dir raus lässt."

„Ich weiß nicht. Das ist so schrecklich gewesen und es ist doch jetzt schon so lange her."

„Aber darüber hinweg bist du noch lange nicht. Hast du mal irgendwelche Hilfe in Anspruch genommen?"

Sandra schüttelte nur den Kopf.

„Dazu war ich nie in der Lage. Irgendwie habe ich trotzdem mein Leben in den Griff bekommen. Bei dieser ganzen Scheiße kommt jetzt nur wieder alles hoch. Vielleicht ist das wirklich alles etwas zu viel für mich gewesen. Du warst die ganze Zeit so lieb und nett zu mir, hast dich um mich gekümmert und alles gemacht, um diesen Mist und diese Verbrechen aufzuklären. Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir dafür bin."

„Ist schon gut. Ich habe es gerne für dich gemacht. Du bist mir dabei sehr ans Herz gewachsen. Deshalb glaube ich auch, dass du mir deine Geschichte erzählen kannst. Du weißt, dass das alles unter uns bleibt."

„Das weiß ich. Aber wenn ich dir das alles erzähle, kommt noch einmal alles hoch. Ob ich das heute noch überstehe, weiß ich nicht."

„Versuch es einfach. Wenn es nicht geht, kannst du immer noch aufhören."

Sandra wusste nicht, was sie machen soll. Wilhelm hatte ihr so geholfen und sie hatte ihn wirklich gerne. Außerdem wusste sie, dass er ein ausgesprochen guter Zuhörer ist. Vielleicht sollte sie das doch endlich mal alles aus sich rauslassen, damit sie ihren Frieden findet.

„Versprichst du mir wirklich, dass du nie mit jemandem darüber redest?"

„Ja, natürlich. Das ist doch selbstverständlich."

„Also gut. Dann muss es wohl sein. Vielleicht komme ich dann wirklich zur Ruhe. Kannst du vorher noch eine neue Flasche aus dem Kühlschrank holen? Ich brauche vorher noch was zu trinken. Vielleicht sogar etwas Stärkeres. In der Küche steht noch eine fast volle Flasche Whisky."

Während Wilhelm aus der Küche die Getränke holte, hat es sich Sandra auf der Couch bequem gemacht. Sie hat die Füße hochgenommen, sich in ein Kissen gekuschelt und eine leichte Decke über die Beine gelegt. Nachdem sie einen kräftigen Schluck von dem Whisky genommen hat, schloss sie kurz die Augen, ehe sie leise zu sprechen anfing. Mit angehaltenem Atem lauschte ihr Wilhelm. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie.

„Ich war damals in der achten Klasse des Gymnasiums, als es passiert ist" fing Sandra stockend an zu erzählen. „Ich habe mir nichts, aber auch gar nichts dabei gedacht, als mein Vater in mein Zimmer gekommen ist. Ich habe schon im Bett gelegen, etwas Musik gehört und gelesen. Plötzlich hat er sich seine Schlafanzughose ausgezogen und sich zu mir ins Bett gelegt. Ich war erschrocken und angewidert. Sein Penis stand steif von seinem Körper ab. Noch nie hatte ich so etwas gesehen. Es war widerlich. Er hat sich zu mir gelegt, hat mir an meine noch so kleinen, eben erst gesprossenen Brüstchen gefasst und seine Hand zwischen meine Beine geschoben, sie auseinander gedrückt, hat sich auf mich gelegt und ist in mich eingedrungen. Vor Schmerz, Ekel und Abscheu habe ich wie am Spieß geschrien, habe gestrampelt und mich zu wehren versucht. Es ist mir nicht gelungen, meinen Vater von mir zu schieben. Ich habe ihn angefleht, das zu lassen, wieder zu gehen, habe ihm sogar gesagt, dass ich das niemandem sagen werde und habe wie wahnsinnig nach meiner Mutter geschrien, damit sie mir hilft. Und die ist wirklich gekommen. Doch anstatt mir, ihrer kleinen Tochter zu helfen, hat sie mich angeherrscht und angeschrien. Ich soll mich nicht so haben und ich wüsste ja überhaupt noch nicht, was für ein Mädchen in meinem Alter gut ist. Sie ist nicht einmal gegangen, als sie gesehen hat, was mein Vater mit mir macht. Im Gegenteil. Sie hat ihn aufgefordert, mich, diese kleine Schlampe, ordentlich zu ficken. Sie hat mich festgehalten, damit er mich richtig ficken kann."

Einen Moment konnte Sandra nicht weitersprechen. Erst nach einem weiteren tiefen Schluck aus dem Whiskyglas fuhr sie fort.

„Erst, als er fertig war und sich in mir ergossen hatte, hat sie mich wieder losgelassen. Wortlos sind sie aus meinem Zimmer verschwunden. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich regungslos in meinem Bett gelegen habe. Ich habe mich eklig, dreckig, beschmutzt gefühlt. Ich bin missbraucht worden. Mein eigener Vater hat mich entjungfert und mich gefickt. Mein Bett war blutig. Was sollte ich machen? Ich konnte nur verschwinden. Mit den Leuten, die mich so erniedrigt und behandelt hatten, wollte ich nie wieder etwas zu tun haben. Irgendwann bin ich aufgestanden. Wie in Trance habe ich meinen Rucksack gepackt, habe wahllos einige Sachen reingeschmissen. Aus reiner Intuition bin ich noch einmal zurückgegangen. Ich habe gewusst, wo das Geld meiner Eltern liegt. Ohne auch nur die Spur von einem schlechten Gewissen zu haben, habe ich sie bei dem fluchtartigen Verlassen um mehrere hundert Mark erleichtert. Seitdem habe ich dieses Haus nicht mehr betreten und auch von meinen Eltern habe ich nie wieder etwas gehört. Auf die Idee, meinen Vater anzuzeigen, bin ich nie gekommen.

Von dem Geld, das ich meinen Eltern geklaut habe, habe ich mir auf dem Bahnhof eine Fahrkarte für den nächsten Zug gekauft. Mir war es egal, wo er hinfährt. Hauptsache weit weg. Ich blieb verschwunden. Niemand suchte mich. Ich war überrascht, dass mein Bild nie in irgendeiner Zeitung gewesen ist und dass ich überhaupt nicht gesucht wurde. Ich war einfach weg und untergetaucht. So, als würde es mich überhaupt nicht geben. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin soll und wo ich schließlich gelandet war. Die ersten Nächte schlief ich auf irgendwelchen Parkbänken, kaufte mir von dem Geld, das ich noch hatte, etwas zu essen. Niemandem fiel dieses Mädchen auf, das tagsüber alleine durch die Straßen ging und nachts irgendwo schlief.

Bald waren es andere, die ebenso wie ich durch die Straßen streunten, in Parks, unter Brücken oder in verfallenen Häusern schliefen, denen ich auffiel. In dieser Gruppe war ich bald das Baby, um das man sich kümmern musste. Und seltsamerweise fing ich an, mich unter diesen Menschen wohl zu fühlen. Ich fand eine Kameradschaft und Hilfsbereitschaft vor, die ich nicht für möglich gehalten habe. Natürlich war mir alles fremd, manchmal auch unheimlich. Und nie gab ich darüber Auskunft, wo ich herkomme und warum ich alleine auf der Straße lebe. Bald wurde ich auch nicht mehr danach gefragt. Unangenehm und direkt widerlich und eklig waren die Versuche von Männern aus der so genannten normalen Welt, die der Meinung waren, ich würde zu den Mädchen gehören, die auf dem Strich gehen und die es besonders auf Mädchen in meinem Alter abgesehen haben. Auch mit Drogen und Alkohol wollte man mich ködern. Doch auch bei diesen Annäherungsversuchen wurde ich von den Mitgliedern der Gruppe, in der ich jetzt lebte, beschützt. Ich habe nie einen Mann an mich rangelassen. Ich habe auch nie etwas genommen oder mir was gespritzt.

Trotzdem merkte ich, dass ich anders war als die anderen. Oft bin ich, wenn ich durch die Straßen und durch die Einkaufszentren gegangen bin, bei den Straßenmusikanten stehen geblieben und habe ihnen zugehört. Auch ich hatte einst ein Instrument gelernt und ich liebte die Musik. Vor allem die klassische Musik. Stundenlang konnte ich dastehen und zuhören. Oder ich setzte mich zu jungen Kunststudenten, die mitten im Gewühl ihre Staffelei aufgebaut hatten und malten. Wie gerne habe ich früher selber gemalt und hätte es auch jetzt wieder getan.

Es blieb nicht aus, dass ich, diese zierliche Mädchen, die Aufmerksamkeit der malenden und zeichnenden Studenten erregte. Inzwischen habe ich ziemlich heruntergekommen ausgesehen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal unter einer Dusche gestanden habe oder wann ich mich von oben bis unten neu eingekleidet habe. An einen Frisör war schon gar nicht zu denken. Als ich einmal von einer jungen Studentin, deren fast fertiges Bild sie sich versonnen angesehen hatte, angesprochen wurde, bin ich regelrecht erschrocken und wollte mich davon machen. Doch die Studentin hielt mich zurück.

‚Hej, Kleine, bleib doch hier. Reiß doch nicht aus. Ich tu dir nichts" hat sie mir hinterher gerufen. Ich weiß das noch, als wäre es gestern passiert.

Mit gesenktem Kopf bin ich schließlich stehen geblieben und habe mich gefragt, was sie von mir will.

‚Was ist denn? Gefällt dir mein Bild?' wollte sie von mir wissen.

‚Ja. Es ist sehr schön, nur...'

‚Was nur...?'

‚Ich hätte es hier und da noch etwas anders gemacht. Hier vielleicht etwas dunkler, kräftiger, dafür hier noch etwas heller. Auch bei dem Mund und den Augen stimmt irgendetwas nicht. Ich weiß nicht, was, aber es passt irgendwie nicht.'

‚Sag mal, Kleine, verstehst du etwa was davon?'

‚Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl.'

‚Kannst du malen?'

‚Ein bisschen.'

‚Dann mach mal. Nimm dir, was du brauchst. Farbe, Pinsel, alles. Und dann zeig mir mal, was du verändern willst.'

‚Aber ich kann doch nicht...'

‚Doch. Mach ruhig. Ich will das Bild nicht verkaufen. Es ist nur zum Spaß für mich. Ich bin übrigens Charlotte. Kannst aber Lotte zu mir sagen. Und du? Wie heißt du?'

‚Sandra.'

‚Dann mach mal, Sandra.'

Ich habe tief Luft geholt. Konnte ich wirklich das Bild verändern? Was wird sein, wenn ich das Bild versaue? Mit meinen abgerissenen Klamotten und bestimmt nicht wohlriechend stand ich neben der jungen Studentin. Nach einem weiteren aufmunternden Blick von Lotte habe ich mir die Pinsel genommen. Mit wenigen Pinselstrichen waren die Korrekturen an dem Bild vorgenommen.

‚Wow' war das Einzige, was Lotte entfuhr. ‚Mein Gott, du hattest Recht. Das hat wirklich nicht gestimmt. Es gefällt mir, was du gemacht hast. Du hast wirklich Talent.'

Inzwischen waren noch andere dazu gekommen, die sich um das Bild scharten. Und alle lobten mich. Ich konnte es kaum aushalten. Verschämt stand ich da und versuchte, alles irgendwie runterzuspielen. Trotzdem kamen mir die Tränen. Wie oft habe ich mich im letzten Jahr, in dem ich jetzt schon auf der Straße lebte, nach ein bisschen Anerkennung gesehnt. Mich danach gesehnt, wieder einmal an einer Staffelei zu stehen.

‚Du brauchst doch nicht gleich zu heulen, Kleine. Komm, setz dich zu uns. Einen Schluck zu trinken?'

Ich konnte nur nicken. Jetzt sprachen alle durcheinander und wollten wissen, wo ich das gelernt habe. Ich zuckte nur mit den Achseln. Nur, als ich von Lotte gefragt wurde, wie alt ich bin, antwortete ich verschämt, dass ich gerade fünfzehn geworden bin. Immer wieder wurde ich mit Fragen bestürmt. Doch auf keine der Fragen antwortete ich. Endlich machte Lotte der neugierigen Fragerei ein Ende.

‚Lasst dieses arme Mädchen endlich in Ruhe. Ihr seht doch, was mit ihr los ist und dass sie euch nicht antworten will.'

Als Lotte mit mir alleine war, legte sie ihren Arm um mich, diesem zarten und heruntergekommenen Mädchen. Bestimmt hat sie nur Haut und Knochen an mir gefühlt. Es war ja auch einige Zeit her, dass ich das letzte Mal etwas Ordentliches zu essen bekommen hatte. Sicher hat sie an meinem etwas strengen Geruch auch ahnen können, dass es lange her gewesen sein muss, dass ich eine Dusche oder ein Bad von innen gesehen habe. An meine abgerissenen Klamotten wollte ich gar nicht denken.

Auf Lottes leise Frage, wo ich lebe, konnte ich wieder nur mit den Achseln zucken. Wen interessierte das schon. Ich wusste es ja selber nicht. Ich merkte, dass sich Lotte Gedanken machte. Ich wusste aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welche Gedanken durch ihren Kopf gingen. Ich wusste nicht, dass sie mich schon längst durchschaut hatte und nicht wollte, dass ich noch länger auf der Straße lebe. Sie wollte mich nicht mehr gehen lassen.

‚Hast du Hunger, Sandra?' wollte sie von mir wissen. Natürlich hatte ich Hunger. Ich wusste schon lange nicht mehr, wie es ist, keinen Hunger zu haben. Aber ich nickte nur.

‚Komm, dann gehen wir eine Kleinigkeit essen.'

In einem Schnellrestaurant in der Einkaufsmeile fiel ich mit meinem abgerissenen Äußeren nicht allzu sehr auf. Sicher hat Lotte gemerkt, mit welchem großen Appetit ich aß. Ich hatte ja wirklich lange nichts bekommen. Ich wusste, wie ich zu der Zeit ausgesehen habe. Für mein Alter war ich recht groß. Oft hat man mir gesagt, was für schöne dunkle Augen und was für ein interessantes Gesicht ich habe. Ich wusste aber auch, dass ich dreckig war, dass meine langen Haare wieder einmal gewaschen werden mussten. Jetzt hingen sie in langen Zotteln von meinem Kopf. Ich fühlte mich selber beschissen.

Lotte telefonierte pausenlos. Ich habe mit Heißhunger meinen zweiten Big Mac gegessen. Plötzlich sagte sie:

‚Ich bringe dich zu einer Freundin, Sandra. Dort kannst du dich waschen und etwas frisch machen.'

‚Das geht nicht, Lotte. Ich kann nicht einfach mit dir mitgehen.'

‚Quatsch. Natürlich kannst du. Auf dich wartet doch sicher niemand. Ich hab dich doch nicht erst heute gesehen, wie ziellos du durch die Straßen läufst. Na los, komm.'

Ich merkte, wie ich im Bus ziemlich kritisch gemustert wurde und Lotte schien auch zu merken, dass manche von uns abrückten. Doch Lotte störte das nicht. Von Caroline, Lottes Freundin, wurde ich ausgesprochen herzlich begrüßt. Lotte hatte ihr am Telefon schon kurz den Sachverhalt geschildert. Schamhaft betrat ich die fremde Wohnung. Wann war ich das letzte Mal überhaupt in einer Wohnung gewesen?

Kommentarlos führte mich Lotte in das geräumige Bad ihrer Freundin und ließ warmes Wasser in die Wanne. Sie blieb bei mir, bis ich mich ausgezogen und mich in die Wanne gelegt habe. Ich merkte, wie entsetzt sie mich, dieses spindeldürre Mädchen angesehen hat. Ich war ja wirklich nur noch Haut und Knochen. Erst später habe ich erfahren, wie leid ich in diesem Moment Lotte getan habe.

Ich genoss dieses herrliche warme Wasser, das meinen ausgelaugten und ausgehungerten Körper umspielte. Wie lange habe ich so etwas Schönes nicht mehr erlebt. Immer wieder ließ ich warmes Wasser nachlaufen. Ich konnte mich nicht entschließen, aus der Wanne zu steigen. Schließlich habe ich Lotte lächelnd in der Tür stehen gesehen. Sie hat einige Sachen im Arm, die sie für mich auf die Schnelle aufgetrieben hat. Es waren nicht mehr als ein Höschen, ein T-Shirt und eine Jeans. Lotte und ihre Freundin hatten etwas rumtelefonieren müssen, um ein Mädchen zu finden, dass annähernd so eine schmale Figur hat wie ich.

Ich sah ihre erstaunten Blicke, als ich frisch gewaschen, die Haare gewaschen, geföhnt und gekämmt mit ihren neuen Sachen wieder bei Lotte und ihrer Freundin erschienen bin. Ich war plötzlich ein ganz anderer Mensch und fühlte mich auch so. Vielleicht sah ich jetzt wirklich wieder wie ein hübsches, 15-jähriges Mädchen aus.

‚Setz dich zu uns, Sandra und erzähl ein bisschen von dir. Wie lange lebst du schon auf der Straße?'

‚Ein Jahr.'

‚Ein Jahr schon? Und warum? Bist du von zuhause ausgerissen?'

Ich nickte nur.

‚Warum du ausgerissen bist, willst uns sicher nicht sagen, oder?'

Ich schüttelte nur den Kopf.

‚Na gut. Und wie stellst du dir das weiter vor? Willst du weiter auf der Straße bleiben?'

Schulterzucken.

‚Mensch, Sandra. Fang nicht gleich wieder an zu heulen. Wir wollen dir helfen. Du kannst nicht wieder dorthin zurück. Du gehst dort vor die Hunde. Willst du nicht doch zu deinen Eltern zurück?'

‚Nein nie. Niemals gehe ich zurück' brauste ich auf.

Lotte fragte nicht weiter. Zum Glück wollte sie auch nicht wissen, was vorgefallen war, dass ich, ein damals 14-jähriges Mädchen, von zu Hause ausgerissen bin, um fortan auf der Straße zu leben.

‚Aber du weißt, dass du das auf die Dauer nicht machen kannst. Irgendwann wirst du aufgegriffen und in ein Heim gesteckt. Du bist noch minderjährig, musst eigentlich in die Schule gehen. Ist dir das eigentlich alles klar?'

Ich schwieg. Natürlich wusste ich das alles und ich wusste auch, dass ich bisher großes Glück gehabt habe, dass ich noch nicht von der Polizei aufgegriffen worden bin.

‚Pass mal auf, Sandra. Du kannst natürlich ein paar Tage, vielleicht auch länger, bei mir wohnen bleiben. Ich hab genug Platz' schaltete sich Caroline ein. ‚Du kriegst natürlich auch was zu essen von mir und auch ein bisschen Geld. Morgen gehen wir zusammen einkaufen und holen dir ein paar neue Klamotten. Das, was du vorhin angehabt hast, kommt in den Müll.'

‚Das will ich nicht. Ich kann nicht bei dir wohnen. Ich gehe zurück. Ihr meldet mich bloß irgendwo und dann muss ich vielleicht doch noch in ein Heim oder werde zu meinen Eltern geschickt.'

‚Das passiert nicht. Versprochen. Lotte und ich kümmern uns erst einmal um dich und sagen zu niemandem etwas. Einverstanden?'

Nach einigem Hin und Her erklärte ich mich schließlich einverstanden, auf das Angebot der beiden jungen Frauen einzugehen. Hier war ich erst einmal sicher. Wie es allerdings weitergehen konnte, wusste ich nicht. Natürlich würde ich gerne mal wieder zur Schule gehen. Doch das konnte ich alles nicht. Ich war heimatlos und völlig rechtlos.

Lotte und Caroline kleideten mich, wie sie es mir versprochen hatten, von oben bis unten neu ein. Nach einigen Tagen wusste ich nicht mehr, wie ich den beiden danken soll. Bald fing ich an, auch wieder alleine das Haus zu verlassen, nachdem ich ihnen versprochen hatte, nicht wieder auszureißen und immer wiederzukommen. Ich schlenderte durch die Stadt und sah plötzlich alle die Gegenden, in denen ich noch vor wenigen Tagen abgerissen und in zerlumpten Klamotten durch die Straßen gelaufen war, plötzlich mit ganz anderen Augen. Ich war in den wenigen Tagen ein ganz anderer Mensch geworden.

Als ich abends mit Caroline bei einem Glas Wein zusammen saß, fing ich von mir aus plötzlich an zu reden.

‚Ich bin euch so dankbar, dass ihr mich aufgenommen habt. Ich war wirklich total am Ende und habe nicht mehr gewusst, wie es mit mir weitergeht. Ich weiß nicht, wie oft ich schon auf der Brücke gestanden habe und Schluss machen wollte. Es hat doch alles keinen Sinn mehr gehabt. Jetzt habe ich schon das Gefühl, dass ihr mich gerettet habt.'

Schweigend hörte mir Caroline zu. Sie unterbrach mich nicht. Sie hörte nur zu.

‚Ich weiß, dass ich nicht ewig bei dir wohnen kann, Caroline. Ich möchte es auch nicht, obwohl ich mich bei dir unheimlich wohl fühle. Ich muss wieder auf meine eigenen Beine kommen. Ich weiß nur nicht, wie ich das machen soll. Ich habe doch nichts. Ich habe keine Wohnung, kein Geld, keine Schule, in die ich so gerne mal wieder gehen möchte und habe auch keine Papiere.'

‚In was für einer Schule warst du denn?'

‚Gymnasium. Achte Klasse, als ich ausgerissen bin.'

‚Und du würdest wirklich gerne wieder in die Schule gehen?'

‚Unbedingt. Das ist mein größter Wunsch. Wenn mir dabei nur jemand helfen könnte.'

‚Du weißt, dass du das alles nur machen kannst, wenn du aus der Anonymität der Straße verschwindest. Auch hier bist du ja ganz anonym. Niemand weiß, dass du hier bist. Du hast keinen Ausweis, nichts. Du existierst eigentlich gar nicht.'

‚Ich weiß. Das ist ja die Scheiße. Ich weiß, dass ich das ändern muss. Ich kann nicht ewig hier wohnen und kann dir auch nicht dauernd auf der Tasche liegen.'

‚Mir macht das nichts aus. Ich mache das gerne. Aber uns wird nichts anderes übrig bleiben, als zum Sozialamt zu gehen und denen irgendwas zu erzählen. Denen muss etwas einfallen. Die können ein 15-jähriges Mädchen nicht zurück auf die Straße schicken.'

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