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Dunkler Abgrund Ch. 15

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Tränen stiegen Lukan in die Augen, als er den Sinn hinter ihren Worten erfasste. Ein Schluchzen brach aus seiner Brust hervor, während er sie ansah. Doch es kam einfach nicht infrage. „Ich kann nicht anders." Leicht beugte er sich zu ihr und küsste ihre kalten, tauben Lippen. „Es tut mir leid. Ich kann nicht anders." Seine Stimme wurde mit jedem Wort rauer, bis auch er nur noch heiser flüsterte. „Verzeih mir. Es tut mir so leid."

Ihre Hände hoben sich schwach, um ihn aufzuhalten. Ihre Fingernägel kratzten machtlos über seine Wangen. Doch sie konnte ihn nicht aufhalten. Langsam, mit schmerzender Brust, hob er sie höher, bis sie in seinem Schoß lag. Ihr Körper war seltsam leicht, als er ihren Kopf fasste und ihn festhielt. Vorsichtig bohrte er seine Daumen in ihren Kiefer, bis sie den Mund öffnete und er seinen Finger zwischen ihre Zähne klemmen konnte. Sie versuchte zu beißen, doch der Schmerz war nicht vergleichbar mit der Qual, die in seiner Brust tobte. Er beugte sich tief über sie und griff mit seiner freien Hand nach seiner Kehle. Sein Daumennagel schlitzte zögernd die Haut an seiner Halsschlagader auf und mithilfe seines Zeigefingers öffnete er sein Fleisch. Die ersten Tropfen seines vampirischen Blutes fielen auf Hollys Wange, dann auf ihre Nase. Sie blinzelte und versuchte das Gesicht abzuwenden, doch er hielt sie so, bis ein stetiger Fluss zwischen ihren geöffneten Zähnen landete. Sie spuckte, versuchte mit ihrer Zunge das Blut zu entfernen, doch es lief an ihrer Zunge vorbei in ihre Kehle. Sie hustete und schlug ihn wieder. Mit noch weniger Kraft, als zuvor.

Er ließ sein Blut weiter in ihren Mund tröpfeln, bis sie den ersten zögerlichen Schluck tat. Sie würgte, hustete, schlug ihn. Und schluckte wieder. Flatternd schlossen sich ihre Lider, während sein Blut in ihren Mund floss und seine Macht entfaltete. Es dauerte nicht lange, bis ihre Atemzüge ruhiger wurden und schließlich stockten. Ihr Herz tat den letzten, kämpferischen Schlag, dann verstummte es. Doch ihr Schluckreflex setzte nicht aus. Lange blieb Lukan so sitzen und flößte ihr sein Blut ein. Bis er spürte, dass es genug war und von ihr abließ.

Vorsichtig ließ Lukan sie auf den Rücken gleiten und streckte sich neben ihr in dem klebrigen Blut aus. Seine Finger schlossen sich um ihre Hand und Lukan zog ihre Finger an seine Lippen, um sie zu küssen. „Es tut mir leid", sagte er ein letztes Mal heiser, dann zog er ihren leblosen Körper an seine Brust. Und wartete ab, dass sie erwachte.

Tot, aber lebendig.

Als Vampir.

Fast hätte er bei dem Gedanken an die Ironie gelächelt. Fast hundert Jahre hatte er seinen Erschaffer dafür gehasst, dass er ihm das Leben genommen und ihn in einen Vampir verwandelt hatte, obwohl er sich wehrte. Doch heute verstand er Jean Antoine. Zumindest zu einem gewissen Teil verstand er seinen Erschaffer. Heute hatte Lukan genau das getan, weshalb er Jean Antoine fast einhundert Jahre verflucht und gehasst hatte. Er konnte nur hoffen, dass Holly früher ihren Hass verlor, denn sie würde ihn hassen. Ihm den Tod wünschen, verfluchen und sich abwenden. Aber sie würde leben. Leben, atmen, denken. Und das war für ihn wichtiger, als die Liebe, die er in diesem Moment in ihrer Brust getötet hatte. Doch er hatte Zeit, darauf zu warten, dass sie ihn wieder lieben würde. Er würde nicht die gleichen Fehler wie Jean Antoine machen, sondern ihr die Freiheit lassen. Kein Bluteid, keine Verfolgung. Er würde nur am Rand bleiben, sie aus der Ferne lieben und auf sie aufpassen. Als Schutzengel. Bis sie eines Tages zu ihm zurückkehrte. Vielleicht in hundert Jahren erst. Vielleicht viel später. Und wenn nicht...

...würde er warten.

*

Robert McIntyre öffnete seine Autotür, stand auf, warf ein Blick auf das Chaos aus Körperteilen und ließ sich rückwärts wieder in seinen Sitz sinken. Fahrig strich er sich durch das Haar und starrte vor sich auf den Boden, während Übelkeit seinen Magen hob. Tief atmete er durch, füllte seine Lungen mit der frischen Luft des Morgens. Doch gleichzeitig schlug ihm der Geruch von Kupfer entgegen. Blut.

Um einiges vorsichtiger fasste er nach dem Türrahmen des Wagens und stemmte sich auf seine zitternden Knien. Bisher war er als Polizist immer vom schlimmsten verschont geblieben. Fotos kannte er von den meisten Tatorten, doch es war etwas vollkommen anderes, wenn man im warmen, abgeschlossenen Büro saß und die Bilder ansah, um sich einen Reim darauf zu machen, als mitten in Organen zu stehen.

Agentin Cornwells trat von der Seite an ihn heran. Für einen Moment war Robert dankbar, etwas zu haben, auf das er seinen Blick richten konnte. Ihr schulterlanges, dunkles Haar hatte sie in einen strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden und festgeklemmt. Eine Schutzweste war über ihr Hemd geschnallt und verbarg halb ihren goldenen Ausweis an ihrem Gürtel. Sie drehte sich leicht und steckte ihre gezogene Waffe in das Holster unter ihrer Achsel. „Soweit wir das überblicken können, ist das ganze Grundstück übersät."

Robert schluckte trocken. Sie redete von den Leichen. „Das muss ein Krieg gewesen sein." Robert warf einen kurzen Blick auf den Abschnitt zwischen den Bäumen, die nicht in Nebel getaucht war. Sein Blick fiel auf ein aufgeschlitztes Kind, das wohl im Moment des Todes noch versucht hatte, den fehlenden Arm zu erreichen. Wieder hob sich sein Magen.

Agent Goldman gesellte sich schweigend zu ihnen, nahm seine Sonnenbrille ab und massierte seine Nasenwurzel. Im Gegensatz zu Agentin Cornwells war seine Gesichtsfarbe normal.

„Nach einem Bandenkrieg sieht das nicht aus." Agent Cornwells warf ihrem Partner einen kurzen Blick zu. „Die meisten Opfer sind weiß; viele von ihnen ganz normale Familien. Ein paar Beamte überprüfen gerade die restlichen Kennzeichen der Wagen auf dem Supermarktparkplatz. Doch es scheint, als seien sie einfach unterwegs... aufgegabelt worden, um hier..." Sie stockte kurz. „Die Frage ist nur, wie das alles zusammenhängt. Dies ist die Lieferadresse, die Miss Grace Newland angegeben hat. Wer auch immer ihr Verfolger war, er war offensichtlich vor uns zur Stelle."

Wo bin ich hier nur reingeraten? Robert drückte seine weichen Knie durch. Er war einfach zu alt für diesen Scheiß. Unwillkürlich fragte er sich, ob er jemals jung genug dafür gewesen war. „Vielleicht war es eine Gruppe. Eine Gruppe, die die Fosters angegriffen hat. Vielleicht haben sie bei der Verfolgung..."

Agent Goldman unterbrach ihn. „Ein Täter." Er setzte seine Sonnenbrille wieder auf und richtete den Blick auf das Grundstück. „Keine Gruppe. Es war ein Täter, McIntyre."

„Vielleicht die Mafia." Agentin Cornwells warf einen Blick hinter sich, wo die Beamten gerade das gelbe Band ausrollten, um den Tatort abzusperren. Nachbarn und die ersten Schaulustigen trauten sich langsam heran. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die Presse von diesem Scheiß Wind bekam. Sie seufzte zeitgleich mit ihrem Partner.

Agent Goldman fuhr sich nachdenklich mit einem Finger über die vernarbte Wange. „Wie haben sie diese Menschen dazu gebracht, dabei mitzumischen? Sieh dir das an: Die Schwangere dort vorn trägt eine verdammte Armbrust!"

Robert bezwang den Drang erneut hinzusehen. „Vielleicht Terroristen. Schläfer."

Beide Agenten warfen ihm einen langen Blick zu. Robert schloss den Mund. Er selbst glaubte es auch nicht. Dort lagen Menschen aus verschiedenen Regionen des Landes, unterschiedlichen Geschlechts und aller Altersgruppen.

„Der Nebel lichtet sich." Agent Goldman warf einen kurzen Blick in den Himmel und dann auf das Schlachtfeld. „So wie es aussieht, gibt es Überlebende. Wir sollten mit den Aufräumarbeiten beginnen, bevor die Presse antanzt."

So ein großes Areal konnten sie nicht absperren. Robert nickte langsam und warf den Mitgliedern des Rettungsdienstes einen kurzen Blick zu. Zwei Krankenwagen waren direkt mit ihnen gekommen. Acht weitere standen nun hinten auf der Straße. Es würde trotzdem nicht reichen, denn es gab einfach zu viele zuckende Leiber dort. Und Robert hatte, Gott sei seiner Seele gnädig, immer noch nicht das Bedürfnis den Überlebenden zur Hilfe zu eilen. Er wollte es einfach nicht sehen. Er war aus gutem Grund nie zur Armee gegangen.

„Was zur gottverdammten Hölle...?", stieß Agent Goldman aus und riss seine Sonnenbrille vom Kopf. Auch Robert folgte nach einem kurzen Zögern schließlich seinem Blick. Als sich die letzten Nebenschwaden verzogen, wurde es unruhig auf dem Feld. Zuerst leise, dann deutlich hörbar begannen einige der Opfer zu schreien. Fassungslos sahen die drei Beamten zu, wie sich nur wenige Meter von ihnen entfernt die Leichen in Staub verwandelten. Es waren so viele, dass sie die wenigen übrigen Körper mit einer dicken Schicht bedeckten.

Roberts Knie gaben endgültig unter ihm nach, während die Agenten rückwärts zurückwichen.

Das kann keine chemische Waffe sein", sagte Agentin Cornwells leise und trat noch einen Schritt zurück. „Ich habe noch nie... Das ist Staub! Himmelherrgott! Was ist das?"

„Scheiße", gab ihr Partner leise zurück. „Das kommt direkt aus der Hölle."

Robert kniete auf dem Boden und sagte: „Wir brauchen einen Seuchenschutzraum von hundert Metern. Riegelt alles ab. Evakuiert die umliegenden Häuser. Und ruft verdammt noch mal diese Leute, die sich mit Radioaktivität auskennen!"

*

Seine nackten Füße in den Stoff des Wollteppichs vergraben, war für ihn sonst nur die dicke, weiche Matratze unter seinem harten Hintern zu spüren. Alec saß steif auf dem Bett des Bunkerschlafzimmers und wischte mit einem öligen Tuch über sein Schwert. Das andere ruhte am Bettrand neben seinem Knie und wartete auf seinen Einsatz. Der kommen würde. In zwölf Stunden und drei Minuten.

Das Tuch färbte sich braun vom Blut, doch hinter dem Lappen kam das silbrig glänzende Metall zum Vorschein. Das Tuch landete neben ihm auf der Tagesdecke, während er das Schwert im Licht anhob und langsam und sorgfältig mit seinem Daumennagel nach Unebenheiten tastete. Er fand einige Einkerbungen. Sie waren entstanden, als Alec in seiner Blutlust selbst metallische Waffen und Schmuck zerschnitten hatte, denn vor dem Kampf waren sie noch nicht dagewesen.

Er merkte sich die Stellen und griff dann nach dem Schleifstein. Wie auch das Tuch war er in Öl eingeweicht und würde keine Funken auslösen, wenn er vorsichtig war. Wieder fuhr er mit dem Nagel über die Klinge. Er spaltete sich und blieb von Zeit zu Zeit hängen. Blut trat hervor, doch bevor es die Klinge erneut beschmutzen konnte, griff er nach dem Schleifstein und zog ihn über das Metall. Vom Heft zur Spitze. Vom Heft zur Spitze. Eine viertel Drehung. Vom Heft zur Spitze. Das sirrende Geräusch beruhigte das kriegerische Wesen in ihm, das gerade Wände zerschmettern wollte. Alles einreißen; die Welt zerstören. Es gab ihm einen kleinen Eindruck davon, wie es sein würde, wenn Grace nicht mehr da war.

Doch noch lebte sie.

Sein Blut sang in ihm, angefüllt vom Euphorie, Angst und Adrenalin. Ein summendes Geräusch, das sich in all seinen Muskeln wiederfand. Und auch nördlich von hier ein Echo auslöste. Sie lebte. Und würde es auch weiterhin. Seine kleine Grace würde nicht aufgeben. Sie würde weiterkämpfen, bis er kommen würde, um sie zu retten. Elf Stunden siebenundfünfzig Minuten musste sie durchhalten. Dann ging die Sonne unter und ließ ihn frei. Ihn und das mörderische Tier in ihm. Er würde seine Schwester jagen, finden, zerreißen. In klitzekleine Stücke.

Der Schleifstein sirrte. Seine kleine Grace, sein Engelchen würde bis dahin durchhalten. Sie kämpfte schließlich immer. Suchte nach Fluchtwegen, wo keine waren. Klopfte Wände ab. Kämpfte gegen seinen Schutzinstinkt. Suchte die Freiheit in Seitengassen und der Musik. Ja, seine Kleine, sein Engel würde kämpfen. Er brauchte sich keine Sorgen machen. Alles würde gut werden.

Eine viertel Drehung. Vom Heft bis zur Spitze glitt der Schleifstein und erzeugte ein beruhigendes Summen.

Kein Gott, kein Allmächtiger Gott würde ihm nach tausenden von Lebensjahren nur drei mickrige, angsterfüllte und unfreie Wochen lassen mit der Liebe seines Lebens. Niemand konnte so grausam sein. Niemand wollte so grausam sein. Niemand wollte seinen Hass auf sich ziehen. Nicht einmal ein Gott, wenn ihm seine verdammte Schöpfung etwas wert war.

Langsam huschte der Schleifstein über das Metall und ebnete die Verkantungen, bis alles glatt war. Das Schwert hatte er vor achtzig oder neunzig Jahren von einem großen Samuraimeister anfertigen lassen. Er hatte protestiert, als Alec verlangte, zwischen die Stahl- und Eisenschichten Silber einzufügen. Doch früher oder später taten alle, was er verlangte. Deshalb war das Schwert auch wie ein übliches, gerades Schwert geformt. An beiden Seiten der Klinge war es geschärft und das Heft hatte einen breiten Schutz, der Alecs Hand davon abhielt bei einem Schlag in das Messer zu gleiten. Doch das Metall und die Schmiedekunst waren japanisch. Kein Damaszenerstahl im Üblichen Sinne wegen des Silberanteils. Und deshalb umso tödlicher. Ein Wunderwerk in seinen Händen. Eine Verlängerung seines Armes. Ausbalanciert, schnittfest, perfekt austariert. Ein Geniestreich. Es war das, was er hatte haben wollen und er hatte es bekommen. Wie alles in seinem unsterblichen Leben. Früher oder später bekam er alles. Sogar manchmal mehr, als er sich gewünscht hatte.

Sein Engel war dieses Mehr. Kämpferisch, clever, lustig und warm. Lebendig. Sein. Und niemand rührte das an, was ihm gehörte. Doch sie würde durchhalten müssen. Elf Stunden und neununddreißig Minuten. Nicht ewig natürlich, denn er würde kommen. Nur bis zum Sonnenuntergang.

Sorgfältig wischte er die Metallspäne, feinen Staub, von der Klinge und faltete dann das ölige Tuch ordentlich zusammen. Dann legte er auch das zweite Schwert neben das erste und richtete sich auf. Seine Haut spannte wegen des getrockneten Blutes, doch er hatte es aufgegeben, in das Bad zu kommen. Lukan lag dort wie ein verwundetes Tier neben seiner Holly und wartete darauf, dass sie sich verwandelte. Duschen würde er nicht können. Doch dafür war später auch noch Zeit.

Morgen vielleicht. In einer Woche. Oder wenn Grace sich beschwerte mit ihrer kräftigen, resoluten Stimme, bevor sie von ihm verlangte, dass er Geld für eine wohltätige Organisation spenden sollte. Oder die Kriege der Welt beenden. Oder bevor sie in ihr kleines Notizbuch Geheimnisse schrieb. Dann wäre Zeit zum Duschen.

Es klopfte zaghaft an der Tür, doch Alec reagierte nicht. Stattdessen schnallte er langsam die Scheiden von seinem Rücken und ließ sie auf das Bett fallen. Vorsichtig hob er das erste Schwert an, ließ es durch die Luft sausen und tauchte es dann in die Scheide ein. Dasselbe Ritual führte er auch beim zweiten Schwert durch und zog dann den Saum seines zerrissenen Hemdes aus seiner Hose.

Dann fiel ihm auf, dass er seine Schutzweste vergessen hatte. Er verharrte in seiner Bewegung, vollkommen fassungslos, dass er so etwas vergessen konnte. Einfach vergessen. Genau wie er in dem Chaos Grace einfach... Der Nervenzusammenbruch klopfte an seiner Forte. Zeitgleich mit einem Besucher vor der Schlafzimmertür.

Ein Ruck ging durch seinen Körper und seine Finger legten sich um den Verschluss der Schussweste. Mit zusammengebissenen Zähnen senkte er zuerst die eine Schulter, streifte den Stoff ab, und dann die andere. Die Weste landete neben den Schwertern auf dem Bett. Seine Wunden hatten sich schon lange verschorft, die meisten waren bereits geheilt, deshalb war die Prozedur schmerzhaft, als er den Stoff seines Hemdes aus seiner Haut riss. Sein Körper hatte die Stofffasern nicht abgestoßen, sondern sie eingebaut. Wahrscheinlich lag es am beachtlichen Blutverlust. Er sollte etwas trinken.

Sorgsam öffnete er seinen Waffengürtel, als es das dritte Mal klopfte und schließlich die Tür aufgedrückt wurde. Er kümmerte sich nicht um den Besucher, sondern breitete seine Waffen auf dem Bett aus. Die Magazine legte er neben seine Schwerter. Blut war in sie hineingelaufen und würde sie verkrusten. Er müsste sie reinigen. Elf Stunden dreißig Minuten hatte er Zeit dafür.

Er zog seine Hose aus, stieg aus dem Stoff und schüttelte sie aus, bevor er sie aufs Bett legte. Nackt setzte er sich wieder auf die Matratze und öffnete das erste Magazin. Langsam drückte er mit dem Daumen eine versilberte Kugel nach der anderen aus der metallenen Schutzhülle in seine Hand. Seine Augen glitten prüfend über die einzelnen Kugeln, bevor er das leere Magazin sinken ließ und nach dem Öltuch griff. Die Kugeln rollten in seinen Schoß, als er die erste zwischen die Finger nahm und vom klebrigen Blut befreite.

„Alec?"

Die Kugel zwischen seinen Fingern bekam ihren Glanz zurück. Er legte sie vorsichtig neben sein Knie auf die Matratze und sah zu, wie sie gegen seinen Oberschenkel rollte. Er nahm die nächste Kugel. Achtzehn Kugeln pro Magazin. Elf Magazine. Und den ganzen Tag Zeit. Elf Stunden und neunundzwanzig Minuten.

„Wo ist Grace?"

Alec rollte die zweite Kugel neben sein Knie und griff nach einer weiteren Patrone. „Hyrie hat sie." Seine Stimme kam irgendwo her. Wahrscheinlich aus seinem Mund. Wäre möglich.

Die Tür schloss sich wieder und Alec war wieder allein. Er reinigte die Kugel. Elf Stunden achtundzwanzig Minuten.

*

Der Nebel verzog sich langsam und zeitgleich tauchten die Hexen an der Stahltür auf und verlangten Einlass. Jean Antoine kümmerte sich darum, denn auch er wollte vermeiden, dass die Hexen den Bullen über den Weg liefen. Es wäre nicht allzu clever, die Medien und die Menschen auf dieses ganze Spektakel aufmerksam zu machen, indem die Hexen Zeugenaussagen verfassten. Die Alten Traditionen hatten immer noch ihren Wert. Ihre Existenz musste vor ihnen geheim gehalten werden. Um jeden Preis. Und dafür mussten sie nichts weiter tun, als abzuwarten. Niemand war kreativer, wenn es um „natürliche" Erklärungen des Übernatürlichen ging, als die Menschen selbst.

Hinter der Tür wegen den Sonnenstrahlen versteckt, wartete Jean Antoine darauf, dass auch die letzten Hexen eintraten, und drückte dann die Tür wieder ins Schloss. Bei Sonnenuntergang würden sie gemeinsam das Weite suchen. Dafür müsste Alec nur wieder zu Verstand und aus seinem Versteck kommen und die Menschen mental beeinflussen. Es reichte schon, wenn er sie einfach in eine andere Richtung blicken ließ. Was Jean Antoine viel mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass die Hexen nun für einige Stunden in diesem Zimmer mit ihm eingesperrt waren. Sie hatten eine ganze Weile Zeit, um sich eine Bestrafung für ihn auszudenken. Schließlich hatte er Holly umgebracht. Lukan würde mit Sicherheit der Bestrafung eine persönliche Note hinzufügen, doch dafür war Jean Antoine bereit. Er würde nicht weglaufen. Genau wie Sam es wollte, würde er sich der Situation stellen.

Es hatte einfach zu viele Situationen gegeben, in denen Jean Antoine gelogen hatte. Das würde sich jetzt ändern. Wenn Holly die Verwandlung überlebte, würde er sie und Lukan in Frieden lassen. Er grollte ihr nicht mehr. Er grollte niemand mehr. Lukan war nur ein lächerlicher Ersatz für seine wahre Liebe gewesen, doch das war ihm erst richtig klar geworden, als Sam wieder vor ihm stand.

Er erschauderte leicht bei der Erinnerung an Sam. Und wie er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein Vater, der Alphawolf, war vor seinem fast leblosen, gebrochenen und gefolterten Körper zurückgewichen und hatte Jean Antoine dann bewusstlos gewürgt. Er war davon ausgegangen, dass die Werwölfe Sam danach zerfleischt hatten. Viel war schließlich nicht mehr von ihm übrig gewesen. Doch Sam hatte überlebt. Genau wie auch Jean Antoine die Jahrhunderte überstanden hatte. Wahrscheinlich hatte Sams Vater ihn in den Fluss geworfen, um die Duftspur von Jean Antoine zu verwaschen. Vielleicht war er sogar davon ausgegangen, dass Jean Antoine ertrank. Doch als Jean Antoine aufwachte, lag er an einem Ufer fernab von allem, was er kannte.