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Dunkler Abgrund Ch. 15

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Eine Weile war er durch die Gegend gewandelt, auf der Suche nach anderen Menschen oder etwas, das ihm bekannt vorkam. Bis ihm drei Nächte später eine junge Frau über den Weg lief. Sie war eine Vampirin, doch das hatte Jean Antoine bereits in der ersten Nacht erkannt. Sie fand ihn faszinierend. Vielleicht wegen seines Daseins als Albino, vielleicht weil er orientierungslos und verwirrt die ganze Zeit nur von seinem Werwolf, Sam, sprach. Sie nahm ihn mit; führte ihn den Rat vor und verwandelte ihn schließlich. Doch schon nach einigen Jahrzehnten langweilte sie das neue Spielzeug und ließ ihn ziehen. Vielleicht, weil er als blasser Vampir nun nichts mehr Besonderes mehr war, sondern einfach ein blonder Junge. Vielleicht, weil er vollkommen unempfänglich für ihre weiblichen Reize war. Heute würde er sie kaum mehr fragen können, denn sie erlitt ein paar Monate darauf den Tod durch einen Menschen.

Sie war durch Jean Antoines einfache Akzeptanz ihres Lebens so sicher geworden, dass sie gar nicht auf die Idee kam, ihr Dasein as Dämon der Dunkelheit geheim zu halten. Der Mord an ihr im Schlaf war deshalb für niemanden überraschend gewesen. Jean Antoine lebte sein Leben weiter. Immer mit der Erinnerung an seinen Werwolf. Bis ihm schließlich Lukan über den Weg lief. Lukan mit den karamellbraunen Augen seines Geliebten. Lukan mit dem aufgeweckten, aber einsamen Geist.

All seine Sehnsüchte hatte er in diesen Mann fließen lassen und hatte ihn ausgenutzt und benutzt. Und ihm in seinem Wahn sogar das Einzige genommen, das Jean Antoine nicht ersetzen konnte. Er hoffte bei Gott, dass Holly die Verwandlung überlebte.

Seine Hand auf der Tür verkrallte sich einen Moment, dann stieß er sich ab und folgte den Hexen nach unten. Sie hatten sich auf das Sofa und den Boden gesetzt, hielten die Weinenden im Arm, oder starrten blind vor sich. Sie hatten viele verloren. Freunde, Schwestern, Familie. Doch sie hatten gesiegt. In einigen Augen erkannte Jean Antoine wilde Befriedigung, dass sie gesiegt hatten, doch in den meisten sah er Schmerz.

Sam sah auf, als er den Raum schließlich ganz betrat und schenkte ihm ein intimes Lächeln. Obwohl sie sich beide in der ganzen Zeit verändert hatten, waren sie doch eine Seele, die zusammengehörte. Sie verstanden sich blind. Jean Antoine lächelte leicht zurück und schritt auf ihn zu. Er sollte sich pervers vorkommen, weil alle um ihn herum so sehr litten, während er vor Glück fast platzte. Doch irgendwie wollte ein Gefühl von Scham und Schuld nicht einsetzen. Alles wirkte strahlend und schön. Vielleicht war sein Verstand wirklich so abartig, wie Lukan ihm in all den Jahren immer wieder vorgeworfen hatte. Doch Sam schien das nichts auszumachen. Auch er trug sein Päckchen an Missetaten mit sich herum. Und das glich sich auf eine paradoxe Art irgendwie aus.

Sam saß an die Wand gelehnt und öffnete die Arme, als Jean Antoine näher trat. Einen Moment zögerte Jean Antoine aus Rücksicht auf die Trauernden, doch dann zuckte er innerlich mit den Achseln. Er selbst hatte jahrhunderte trauernd verbracht, deshalb würde er sich sein Teil des Glückes nicht mehr nehmen lassen.

Elegant glitt er neben seinen Geliebten und griff unwillkürlich nach seiner Hand. Eine Weile saßen sie schweigend da, obwohl es eigentlich so viel zu erzählen gab. Doch dies war nicht der Moment für den Austausch von heiteren Erinnerungen. Das würden sie bald tun. Und lange. Eine Ewigkeit würde kaum reichen.

„Das Mädchen", begann Sam plötzlich mit gesenkter Stimme und drehte den Kopf, sodass er seine Nase in Jean Antoines helles Haar tauchen konnte. Leise an seinem Ohr fuhr er fort: „Grace. Ich habe sie verletzt, als ich sie hier unten fand. Tödlich verletzt." Seine Stimme war vor Scham gefärbt, doch wie er hatte Jean Antoine ebenfalls schon Unaussprechliches getan. „Alec muss die Wahrheit erfahren."

Sofort schüttelte Jean Antoine energisch den Kopf. „Es gibt Dinge, die sollten im Dunkeln gelassen werden. Wenn sie tot ist, wird es sie nicht wieder lebendig machen, aber Alec wird dich verfolgen und dich umbringen." Daran gab es keinen Zweifel. Er zögerte kurz und schluckte. Vorsichtig verstärkte er den Griff seiner Hand. „Ich will nicht mehr ohne dich leben, Sam." Wieder drückte er seine Hand. „Und wenn Grace überlebt hat, können wir immer noch fliehen."

„Hyrie hat sie." Sam sah ihm in die Augen. „Ich wollte gerade zu Alec, um... um es ihm zu sagen. Sie war so verletzt, dass sie den Raum nicht hätte verlassen können, deshalb musste ich wissen, wo sie ist. Sie ist bei Hyrie."

Alles in Jean Antoine zog sich zusammen. „Wenn Grace stirbt, wird Alec das nicht überleben." Anders als Jean Antoine hatte der älteste Vampir sein Herz zusammen mit seiner Seele verschenkt. Jean Antoine war damals noch zu jung gewesen, als ihm Sam genommen wurde. Doch Alec wusste, was es bedeutete, die Eine zu finden. Er hatte jahrtausende unbewusst nach ihr Ausschau gehalten. Wenn Sam ihren Tod verschuldet hätte, wäre das sein Todesurteil. Sie könnten vielleicht noch ein paar Wochen, vielleicht Monate auf der Flucht herausschlagen, doch sein Ende wäre sicher. Doch danach... ohne ein Ziel für seine Rachegelüste... würde Alec den Verstand verlieren. Vollkommen. Sein Magen zog sich vor Angst zusammen. Nicht um sein Leben, sondern weil er wusste, was es bedeutete, einen Menschen zu verlieren, den man mehr als alles andere auf der Welt liebte. Es brach einem uralten Vampir nicht nur das Herz... Es brach ihn. Und es würde nicht abzusehen sein, wie Alec reagieren würde. Bei seiner Macht könnte er die ganze Welt zerstören. Stück für Stück. Nicht nur für sich, sondern für alles Leben auf der Erde betete Jean Antoine stumm zu Gott, dass Grace noch lebte.

*

Sie tat ihr nichts. Hyrie saß einfach in einer Ecke der Schmugglerhöhle und wartete darauf, dass es dunkel wurde. Halb hatte Grace damit gerechnet, dass Hyrie sie foltern würde. Oder ein hübsches, plastisches Bild aus ihren Leichenteilen bauen würde, die Alec beim Einbruch der Nacht fand. Sie hatte sogar zeitweilig angenommen, dass Hyrie sie bei lebendigem Leib langsam auseinandernahm, um unaussprechliche Qualen zu bereiten. Damit Alec litt.

Doch sie saß nur da und tat nichts dergleichen.

Das Klebeband an Grace Handgelenken hatte ihre Haut schon wund gescheuert, doch jedes Mal, wenn die ersten Blutstropfen drohten daraus hervorzusickern, schlossen sich die Wunden. Vielleicht wegen des vielen Blutes, das Damon ihr gegeben hatte. Vielleicht hatte Hyrie deshalb das Paketband mit einem Draht umwickelt. Sie wollte sicher gehen, dass Grace nicht fliehen konnte.

„Glaubst du, er kommt?"

Überrascht sah Grace von der Verschnürung an ihren Fußknöcheln auf. Sie hatte gerade darüber nachgedacht, wie sie den Stahldraht vielleicht aufbiegen könnte. Doch selbst mit Damons Blut in den Adern war sie nicht stark genug, das Band zu biegen. Dafür musste man wohl um einiges älter sein. So alt wie Hyrie zum Beispiel.

„Ich weiß nicht", begann Grace und verstummte dann gequält. Sie wusste es wirklich nicht. Die Unsicherheit zerfraß sie innerlich, seit sie aufgewacht war und nicht von Alec gerettet wurde, sondern Damons schmutziges Blut ihre Adern füllte. Alec war nicht gekommen, um sie zu retten. Er war auch nicht da, als Damon... als Damon...

Ein zärtliches Lächeln. Seine Gedanken. Diese ekelerregende Lust.

Grace schüttelte sich und versuchte sich wieder auf die Fesseln zu konzentrieren. Das waren sichere Gedanken. Sicher, weil sie nicht darüber nachdenken musste, was für ein Gefühl es war, als...

Damons Schwanz dringt in sie ein. Und es fühlt sich köstlich an. Und grausam. Ekelhaft. Wundervoll, warm und feucht. Dreckig. Schmutzig. Heiß.

Fesseln. Sie müsste nur den hinteren Draht nach vorn schieben und vorsichtig das Ende benutzen. Mit der scharfen Spitze könnte sie das Paketband aufreißen und würde sich dann überlegen, was sie mit dem Drahtgeflecht an ihren Handgelenken tun sollte. Doch zuerst waren ihre verdrahteten Füße wichtiger. Sie könnte auch mit verbundenen Händen wegrennen. Verdammt weit wegrennen.

Ein Blick zur Öffnung der Höhle sagte Grace, dass die Sonne unerbittlich wanderte. Es waren nur noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang und bis zu dem Moment, wenn sich entscheiden würde, was nun passierte. Bis dahin hatte Grace noch Zeit zu fliehen, doch jedes Mal, wenn sie sich in den Stand hochstemmte, waren Hyries Füße da und brachten sie zu Fall. Dabei könnte sie auch aus dem Schlupfloch hüpfen. Hyrie könnte sie nicht bis zum Strand verfolgen, denn die Sonne würde sie umbringen. Doch jedes Mal, wenn Grace glaubte, Hyrie sei unaufmerksam oder gar eingeschlafen, fiel die Vampirin sie von hinten an.

„Weißt du, du bist nicht die erste."

Ja, das wusste Grace. Sie war nicht die erste. Aber wenn - falls Alec kam, würde sie mit Sicherheit die letzte sein. Wenn nicht sogar der letzte gescheiterte Versuch. Das würde Grace gefallen. Hatte Alec überhaupt schon bemerkt, dass sie nicht da war? Oder war der Krieg noch gar nicht vorbei? Hyrie hatte sie so schnell aus dem Haus geschleppt, dass sie bis auf ein riesiges Chaos an Leibern nicht viel gesehen hatte. Wahrscheinlich kämpften alle noch!

Sie erstarrte. War Alec vielleicht sogar im Kampf gefallen? Nein! Nein! Wenn jemand diesen verdammten Krieg lebend überstehen würde, dann der Mann mit dem vernarbten Gesicht. Diesem wunderschönen, eiskalten Gesicht, das so hart war, dass man beim Zusehen das Gefühl hatte, ihm brechen Teile aus der Wange, wenn er sich zu einem halben Lächeln durchrang. Alec würde überleben. Daran bestand kein Zweifel. Was sie allerdings anging, standen die Chancen schlecht.

„Wir müssten hier nicht sitzen, wenn Alec sich vorher nicht einen verdammten Dreck um seine Geliebten gekümmert hätte." Hyrie umschlang ihre Knie mit den Armen und bettete ihr Kinn auf ihren Händen. In dieser Position sah sie angreifbar aus, doch das täuschte. Und Grace würde nicht auf diese Täuschung hereinfallen. Interessiert betrachtete sie Grace. „Er hatte eigentlich keine Vorliebe für blonde Frauen." Sie neigte den Kopf leicht und seufzte. „Ich hoffe wirklich, dass er dich liebt."

Das hoffte Grace trotz allem auch. Auch wenn es leichter wäre, wenn es nicht der Fall war. Wenn er sie nicht liebte, würde er nicht kommen. Und wenn er nicht kam, würde Hyrie... Nein, sie würde Grace trotzdem umbringen und nicht freilassen. Am besten gab sie sich erst gar nicht der Illusion hin. Wenn Alec sie allerdings liebte, wenn er kam, würde das den Ausgang der Lage in jedem Fall beschleunigen. Wie, war noch unklar, doch Grace hielt die Hoffnung wie eine schimmernde Fackel vor Augen. Er liebte sie. Bestimmt. Vielleicht. Sie hatten nie darüber gesprochen. Doch Grace hatte irgendwie immer das Gefühl gehabt, dass ihre Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber er hatte es nicht gesagt. Nicht einmal. Nicht einmal zum Abschied, als sie sich von ihm ohne ein Wort trennte, weil sie seine Konzentration nicht stören wollte. Sie war einfach nach unten gegangen, während er sich seine Ausrüstung und seine Waffen anlegte.

Sie hatte sich einfach darauf verlassen, dass alles gut werden würde. Es wurde schließlich immer alles am Ende irgendwie gut. Sie hatten es ja auch aus dem Bunker geschafft und bis nach New Orleans. Sie hatte sein Blut vertragen. Auch dies hier musste einfach gut ausgehen. Alles andere wäre... falsch. Er liebte sie, sagte sie sich wieder. Er würde kommen. Doch dann kamen die grauenvollen Erinnerungen wieder. Bruchstückhaft. Kleine, schmerzende Stiche tief in die Brust.

Wir gehören zusammen. Er soll aufhören. Gott, ist das gut. Aufhören! Nicht! Nein... NEIN!

Alec war nicht da gewesen. Er war nicht gekommen. Hyrie war es gewesen, die gekommen war und sie gerettet hatte. Nur um ihr Leben zu bedrohen. Vielleicht würde Alec nicht kommen. Das musste sie in Betracht ziehen, denn wenn er in dieser Nacht nicht käme, würde Grace jede Unachtsamkeit von Hyríe ausnutzen müssen, um flüchten zu können. Sie konnte sich nicht immer auf Alec verlassen. Das war nicht fair ihm gegenüber. Es wäre nicht fair, dass sie davon ausging, dass er kam. Er hatte eigene Probleme. Ein eigenes Leben. Sie war nur irgendwie darin gelandet und bald würde sie wahrscheinlich nicht mehr drin sein. Wäre sein Leben ein Buch, würde sie kaum ein Kapitel bei ihm füllen. Wahrscheinlich nicht einmal eine Seite.

Er hatte ihr keine Verwandlung angeboten, wurde ihr plötzlich wieder bewusst. Hatte sie sich wirklich belogen, was seine Gefühle anging? Mit jedem Atemzug wuchs die Ungewissheit. Vor ihren Augen liefen die Erinnerungen an Alec in einem Kreisel ab, von denen ab und zu ein paar Bilder aufflackerten, doch jedes Mal, wenn Hyrie sich bewegte und sie aus ihren Gedanken riss, war diese Ungewissheit mit mehr Gewalt da. Mit mehr Kraft.

Die Sonne wanderte unaufhaltsam, während sich Grace noch zwei Mal in den Stand kämpfte und wieder umgestoßen wurde. Immer war Hyrie zur Stelle, auch wenn sie die Augen schloss. Abgekämpft und müde schleppte sich Hyrie durch den Tag, doch ihre Kleidung saß immer noch perfekt. Immer, wenn Grace glaubte, sie sei weggenickt, wachte sie doch wieder auf und stieß sie zu Boden. Es hatte keinen Zweck. Blaue und grüne Flecken bildeten sich auf Grace' Körper und verschwanden wie von Zauberhand.

Doch schließlich ging die Sonne unter. Unaufhaltsam. Bis selbst die letzten Stahlen nur noch schwach über den Strand bis zum Eingang der Höhle krochen. Dunkelheit füllte die Höhle und Grace hob vorsichtig den Kopf.

Hyrie stand langsam auf und trat auf Grace zu. „Showtime."

*

Lukan spürte den Moment, als Holly sich plötzlich versteifte und leise schluckte. Sein Herz zog sich zusammen, als ihm klar wurde, dass sie es geschafft hatte. Sie hatte die Verwandlung überlebt. Und von nun an würde sie ewig leben. Sie schluckte wieder und öffnete langsam die Augen. Dann begann ihre Unterlippe zu zittern und sie wimmerte leise. Hätte sie es gekonnt, wäre sie von ihm abgerückt, hätte ihn geschlagen. Er las es in ihren hasserfüllten, kalten, verzweifelten Augen, als sie den Blick langsam auf ihn richtete.

Sein Herz brach in brennend kleine Stücke, obwohl er gewusst hatte, dass es so ausgehen würde. Natürlich war sie nicht dankbar, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Nur wegen ihm hatte sie es beinahe verloren. Nur wegen ihm hatte Jean Antoine sie angegriffen und sie fast umgebracht. Und nun hatte er sie gegen ihren Willen verwandelt. Langsam beugte er sich zu ihr, doch dann zögerte er, bevor er ihre Wange küssen konnte. Er hatte sich geschworen, sie in Ruhe zu lassen, bis ihn von sich aus wollte. Er würde ihr die Freiheit geben; nicht mal einen Bluteid würde er einfordern. Sie wäre einfach frei und könnte tun und lassen, was sie wollte. Solange sie nur lebte. Irgendwo. In seiner Nähe, von der er sie aus beschützen würde. Solange sie lebten.

Er zog sich zögernd zurück und richtete sich auf. Seine steifen Knochen knackten leise, denn auch ihn hatten die vielen Wunden vom Schlachtfeld bluten lassen. Er brauchte etwas zu trinken, doch sie kam vor ihm an die Reihe. „Ich hole dir etwas. Danach geht es dir gleich besser."

Sie reagierte nicht, nur wendete sie den Blick ab.

Sein Herz brach ein weiteres Stück auseinander, doch er würde es ertragen. Solange sie nur lebte. Er wendete sich ab und öffnete die Badezimmertür, die er den ganzen Tag verteidigt hatte, als sei es eine Schutzmauer vor der Wahrheit. Einer Wahrheit, der er sich nun stellen musste. Seufzend glitt er durch den Türrahmen und schloss die Tür hinter sich. Im Raum sahen sofort die Hexen geschlossen zu ihm auf.

„Was ist mit Holly?", fragte die Rothaarige sofort. „Was zur Hölle hast du da drin mit ihr gemacht?"

„Sie verwandelt", antwortete er ehrlich und sah sich gleichzeitig nach der Hexe mit dem alterslosen Gesicht um. Sie würde die nächste sein, die ihn angriff. Doch es senkte sich Schweigen über den Raum. Selbst nach einem weiteren Kontrollblick fand er die Hexe nicht.

Die Rothaarige brach zusammen und blieb schluchzend auf dem Boden hocken, bis eine andere Hexe sich neben sie setzte und sie vorsichtig in den Arm nahm.

„Ich kann doch nicht beide verlieren", meinte Lukan sie schluchzen zu hören. Bedauern zog seinen Magen schmerzhaft zusammen. Also war die alterslose, dunkelhaarige Hexe tot. Eine Freundin von Holly. Und er hatte sie dazu verdammt bei den Beerdigungen noch vieler weiterer Freundinnen dabei zu sein. Gleichzeitig wurde ihm heiß vor Wut. Holly lebte. Es war nicht so, dass er sie umgebracht hatte. Er hatte sie nur verwandelt. Weshalb redete diese Frau, diese Freundin von Holly dann von ihr, als sei sie gestorben? Weil sie es war, wurde ihm plötzlich klar. In den Augen der Hexen war ihre lebendige, warme, natürliche Freundin gestorben. Nur ihr Körper hatte sich erhalten und mit einem toten Dämon gefüllt. Ein Dämon, der sich von menschlichem Leid, Blut und Leben ernährte.

Mit plötzlich bleischweren Beinen ging er langsam durch den Raum, um eine Blutkonserve zu suchen. Unter dem Fernsehtisch war seiner Erinnerung nach ein Kühlschrank. Er durchquerte den Raum und nahm einen Beutel heraus, als Jean Antoine plötzlich an ihn herantrat.

„Es tut mir leid", sagte sein Erschaffer leise. „Ich möchte, dass du weißt, dass es mir leid tut."

Lukan betrachtete einen Moment den Beutel in seinen Fingern, doch die Wut auf seinen Erschaffer kam nicht. Er fühlte sich einfach nur müde. „Lass mich einfach in Ruhe."

Jean Antoine blieb noch einen Moment. Dann trat er langsam zurück.

Das schlimmste war eigentlich, dass Jean Antoine ihm schlussendlich einen Gefallen getan hatte. Denn auf diese Weise war Holly wenigstens nicht durch seine Hände gestorben. Die Wahrheit war nämlich, dass er Holly verwandelt hätte. Gegen ihren Willen, wenn es nicht anders gegangen wäre. Doch er hätte sie verwandelt. Drei Monate lang hatte er Gründe gesucht, doch heute Nacht hatte er den einzig wahren Grund erkannt. Er liebte sie. Und er hätte es nicht zugelassen, dass sie in seinen Armen alterte. Und starb.

So grauenvoll es auch war: Jean Antoine hatte ihm zumindest den schwersten Schritt erspart. Doch nun würden auf Lukan hunderttausende Schritte auf brennenden, schmerzenden, spitzen Steinen auf ihn warten, denn während er Holly weiterhin liebte, hatte er diese Liebe in ihrer Brust getötet, als er das Leben in ihren Körper zurück zwang.

Für einen schwindelerregenden Moment wuchs sogar eine Art Dankbarkeit in ihm für seinen Erschaffer. Nicht nur, weil er ihm erspart hatte, Holly zu töten, sondern weil er Lukan verwandelt hatte. Nur so hatte Lukan dieses bezaubernde Wesen kennenlernen können. Ohne Jean Antoines Rücksichtslosigkeit wäre er schon vor Jahrzehnten gestorben und hätte Holly niemals kennengelernt. Niemals in ihre Augen gesehen. Niemals ihren duftigen Vanilleduft eingesaugt. Niemals ihren nackten Körper bewundert und sich in ihr vergossen. Doch dann erinnerte er sich an all die Grausamkeiten von Jean Antoine und die Dankbarkeit schwand augenblicklich. Doch es setzte auch keine Wut mehr ein. Nur Müdigkeit.

Lukan beugte sich ein weiteres Mal über den Kühlschrank und nahm drei weitere Beutel raus. Einer würde ihm reichen, doch Holly brauchte in dieser ersten Phase einiges mehr an Nahrung. Nachdrücklich schloss er dir Tür und wandte sich um.

Das Schluchzen der Rothaarigen endete abrupt, sodass Lukan aufsah. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, als Alec das Schlafzimmer verließ und den Raum betrat. Seine Kleidung war zerfetzt und braunrot verkrustet vom vielen Blut. Auf seinem Rücken kreuzten sich die gewetzten, scharfen Schwerter und an seinem Gürtel hingen glänzende Magazine. Blut war in seinem Gesicht, an seinen Unterarmen und an seinem Hals getrocknet und bildete grauenhafte Muster auf seiner Haut. Das Haar stand ihm an einigen Stellen zu Berge, als habe er groteske Hörner. So hatte Lukan ihn bereits auf dem Schlachtfeld gesehen, doch da hatten seine Augen wild, lebendig und tierisch gefunkelt.