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Krieg und Liebe-Henschels Rückkehr

Geschichte Info
A. Henschel findet einen Weg zurück zu seiner Familie.
12.5k Wörter
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JoeMo1619
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Krieg und Liebe -- Henschels Rückkehr in Afrika

© JoeMo1619 -- September 2023

Vorwort: Das deutsch-ostafrikanische Kolonialschicksal des Eisenbahningenieurs Andreas Henschel, seiner afrikanischen Geliebten und Partnerin Una und ihrem gemeinsamen Sohn, von dessen Existenz A.H. erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1919 erfuhr, hat viele Leser berührt und mir eine Vielzahl von Feedbacks gegeben, die eine Fortsetzung wünschen (siehe „Krieg und Liebe -Tanganjikabahn"). Dazu gab es von Leserseite zusätzliche Anregungen, die letztendlich zu zwei getrennten Fortsetzungen führen.

Mit dieser Geschichte erzähle ich den mühsamen Kampf zur Familienzusammenführung der Familie Henschel und ihre Erlebnisse in den 1920er und 1930er Jahren.

Mit einer zweiten, separaten Fortsetzungsgeschichte greife ich das Schicksal von Gräfin Gerhild von Cleve und ihrer jüngeren Schwester Lady Rose Lochbird und ihrer Plantage am Ostufer der Tanganjikasees nach der Eroberung erst durch belgisch-kongolesische und nachfolgend britische Truppen auf. Diese kommt zu einem späteren Zeitpunkt.

Die Geschichte:

Durch Vermittlung meines alten Arbeitgebers, der in Berlin ansässigen Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft OAEG, hatte ich - Andreas Henschel, 39 Jahre alt und nach fast einem Jahrzehnt in Deutsch-Ostafrika lebend und zuletzt kämpfend - bereits zwei Monate nach meiner Rückkehr eine Arbeitsstellung als stellvertretender Betriebsleiter am Ostbahnhof in Berlin gefunden. Somit war erst einmal meine materielle Existenz gesichert, zudem bekam ich noch im selben Monat eine kleine Werkswohnung zugewiesen, so dass ich mein Notquartier im Haushalt meines ältesten Bruders wieder räumen konnte. Darüber hinaus traf ich mich regelmäßig mit Offizierskameraden der Deutsch-Ostafrikanischen Schutztruppe und träumte mit ihnen am Stammtisch von einer Rückgabe der einzigen deutschen Kolonie, die bis zum Kriegsende von uns verteidigt worden war. Jedenfalls stand das nach Zeitungsberichten auf der Tagesordnung der laufenden Friedenvertragsverhandlungen im französischen Versailles.

Parallel bemühte ich mich um die administrativen Möglichkeiten, meine nicht angetraute afrikanische Partnerin Una und unseren gemeinsamen Sohn nach Deutschland zu bringen. Die alternative Möglichkeit, selbst in das jetzt unter britischer Verwaltung stehende Tanganjika zurückzukehren, hatte ich bereits nach wenigen Wochen verworfen. Sowohl die Engländer als auch die Belgier, die im Nordwesten Deutsch-Ostafrikas die Bereiche von Ruanda und Burundi besetzt hatten, verweigerten alle Deutschen „aus grundsätzlichen Erwägungen" die Einreise in die ehemaligen Kolonien. Immerhin funktionierte mittlerweile die direkte Postbeförderung zwischen Berlin und Kigoma trotz unveränderter Zensurkontrolle in British-Tanganjika mit erstaunlich kurzen Transportzeiten von teilweise nur einem Monat.

Berlin war im Sommer und Herbst 1919 ein permanenter Unruheherd. Kommunistische Organisationen und Gewerkschaften einerseits und nationalistische Gruppierungen andererseits versuchten auf der Straße für ihre jeweiligen politischen Ziele Druck auf die neue, demokratische Reichsregierung auszuüben. Dazu kamen heftige, häufige gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den politischen Flügeln, denen die Polizei vergleichsweise hilflos gegenüber stand. In dieser Atmosphäre versuchte ich mit zunehmender Verzweiflung eine Lösung für meine Geliebte und unseren gemeinsamen Sohn zu finden. Der deutsche Amtsschimmel bewegte sich langsam und im Kreis, gefangen in einem bürokratisch unübersichtlichen Dschungel.

„Alle Rechtsvorschriften für ehemalige Bürger der deutschen Kolonien sind auf weiße, deutsche Staatsbürger ausgerichtet", beschied mir hilflos die Achsel zuckend ein Beamter im Reichsinnenministerium, der formal für Familienzusammenführungen nach dem Verlust der deutschen Kolonien zuständig war. Der Friedensvertrag von Versailles, der von vielen Deutschen als schmähliches Friedensdiktat empfunden wurde und in der Republik für zusätzlichen politischen Zündstoff sorgte, hatte den endgültigen Verlust aller deutschen Kolonien besiegelt. Deutsch-Ostafrika war im Wesentlichen Großbritannien zur Verwaltung zugeschlagen worden, im Nordwesten hatte Belgisch-Kongo sein Terrain um Ruanda und Burundi erweitert und das im Krieg lange neutrale Portugal hatte seine Kolonie auf südliche Grenzbereiche Tanganjikas ausgedehnt. „Ihr Problem, Herr Henschel", hatte der Ministerialbeamte hinzugefügt, „ist die Tatsache, dass Sie Ihre afrikanische Partnerin nicht geehelicht haben und der gemeinsame Sohn, von dem Sie mir berichtet haben, keine ordentliche Geburtsurkunde besitzt. Ich weiß nicht, auf welcher Rechtsgrundlage wir für diese Afrikanerin mit ihrem Sohn ein Einreisevisum und eine Aufenthaltsgenehmigung ausstellen sollen." Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und breitete seine Hände verlegen auseinander. „Sie haben ja selbst in der Schutztruppe einige Jahre gekämpft. Dann wissen Sie, dass wir selbst Ihre treuen Askaris nicht nach Deutschland reisen lassen, obwohl Ihr ehemaliger Oberkommandierende General von Lettow-Vorbeck in dieser Angelegenheit einen riesigen politischen Wirbel veranstaltet."

Deprimiert von meiner Erfolgslosigkeit schrieb ich Briefe an Una, der ich trotzdem versuchte, Mut zu machen und an Muhammad Ali, damit dieser meiner Geliebten und meinem Sohn weiter Schutz und Versorgung gewährleistete. In dem Brief an meinen arabischen Freund schilderte ich aber nach langer Überlegung die bürokratischen Probleme und meine Hoffnungslosigkeit ohne Zurückhaltung.

Una hatte bereits zwei Briefe nach Berlin geschrieben, in denen sie ihren unerschütterlichen Glauben an eine gemeinsame Zukunft deutlich gemacht hatte und damit mir viel Mut gab, meine Bemühungen fortzusetzen. „Bitte gebe nicht auf, mein geliebter Mann", hatte sie klar und deutlich geschrieben. „Ich will jeden Weg gehen, damit unser Sohn mit seinem Vater gemeinsam heranwächst." Ich stellte beim Studium von Unas Brief auch nach dem zehnten Durchlesen fest, dass Una erstens ein mustergültiges, fast akademisches Deutsch auch in Schriftform beherrschte und zweitens selbst im geschriebenen Wort die ungeheure Kraft und Zuversicht ausdrücken konnte, die ihr zu eigen war.

Muhammad Alis Antwort brauchte deutlich länger als Unas, da der Händler sich längere Zeit bei seinem Sohn auf Sansibar aufgehalten und deshalb meinen Brief erst einen Monat später gelesen hatte. Typisch für ihn war die weitschweifende und umständliche Ausdrucksweise, die ihn als arabischen Händler auszeichnete. Dann aber wurde Alis Brief ungewohnt direkt und konkret. „Unsere neuen britischen Kolonialherren regieren uns genauso wie die deutschen, allerdings mit dem Unterschied, dass sie sehr viel mehr daran interessiert sind, Geld aus so gut wie allem herauszuquetschen und auf der anderen Seite so wenig wie möglich zu investieren. Deine Eisenbahnlinie ist durch eine neue britische Gesellschaft mit diesem Ergebnis übernommen worden und hat die Tarife sowohl für die Personenbeförderung, aber erst recht für die Güterbeförderung deutlich erhöht. Im Gegenzug hat die Investitions- und Bautätigkeit hier am See so stark nachgelassen, dass Faruk die Ziegelei mangels Nachfrage stillgelegt hat. Er plant, mit seinen besten Ziegelmachern zum Ursprung unserer Familie am Schatt-al-Arab zurückzukehren und dort einen neuen Betrieb aufzubauen. Auf meiner Handelsseite habe ich mit meinem Cousin Ahmed Abbas eine neue Handelsstation in Lumbo im Norden von Portugiesisch-Ostafrika eröffnet, um einen von den Briten unabhängigen Hafen nutzen zu können. Wie Du vielleicht aus Deiner Schutztruppenzeit im Süden von Tanganjika und in Mozambique weißt, hat dort eine private Gesellschaft vor einigen Jahren begonnen, vom Lumbo aus Richtung Westen eine neue Eisenbahnlinie zu bauen, die in Nyassaland die Großen Seen erreichen soll. Ahmed Abbas ist einer der wichtigsten Geldgeber für dies Projekt. Wie er mir geschrieben hat, stockt das Projekt derzeit, weil der portugiesische Chef-Ingenieur spurlos verschwunden ist und man keinen Ersatz hat. Ahmed Abbas hat mir aufgetragen, Dich zu fragen, ob Du nicht nach Lumbo kommen und die Direktion für dies Projekt übernehmen kannst. An diesem Ort wäre es mir ein Leichtes, Una und Deinen Sohn persönlich zu Dir zu bringen, so dass Ihr Euer Leben neu beginnen könnt. Die Portugiesen sind gegenüber gemischt-rassigen Familien wesentlich toleranter als Deutsche oder Engländer, weil sie selbst praktisch keine weißen Frauen haben."

Muhammad Ali hatte in seinem Brief als Erster eine Lösungsidee für mich, Una und unseren Sohn präsentiert. Ich war wie elektrisiert und versuchte nun, mehr Informationen über das Eisenbahnprojekt als auch die portugiesische Kolonie zu bekommen, die die deutsche Schutztruppe für Ostafrika für mehrere Monate als Rückzugsort in ihrem Buschkrieg gegen die Engländer genutzt hatte. Aus dieser Zeit kannte ich tatsächlich die Anfänge des genannten Eisenbahnprojektes, wir hatten für die Versorgung der Schutztruppe in der Tat den Hafen von Lumbo für eingeschmuggelte Versorgungsgüter genutzt. Zwar war die Schutztruppe wieder nach Norden marschiert, als Portugal aufgrund englischen Drucks spät auf alliierter Seite in den ersten Weltkrieg eingetreten war, aber der Friedensvertrag von Versailles war für das von innenpolitischen Konflikten geschwächte Land extrem enttäuschend gewesen. Vom deutschen Kolonialbesitz in Afrika hatte Portugal nur einen kleinen Zipfel Deutsch-Ostafrikas, das so genannte Kionga-Dreieck, zugesprochen bekommen.

Muhammad Ali musste über seinen Vorschlag auch mit Una gesprochen haben, denn zwei Tage später erreichte ihr Brief Berlin. „Ich gehe dahin, wohin Du gehst", war ihr klares Statement. „Ich muss es nur können. Und Muhammad Alis Vorschlag ist eine Gelegenheit für uns, alle Hindernisse zu überwinden."

Spätestens mit diesem Brief war mir klar, dass ich das Risiko einer Auswanderung in ein Land, dessen Sprache ich nicht sprach und eines augenscheinlichen Jobangebotes, welches ausschließlich auf meinem Vertrauen in meinen arabischen Händlerfreund aufbaute, eingehen wollte und musste. Ich machte mich an die Arbeit, die ich am meisten hasste: Spießrutenlaufen durch den Behördendschungel. Zunächst besorgte ich mir einen neuen deutschen Pass, denn mein alter stammte noch aus Kolonialzeiten und war längst abgelaufen. Mit diesem Pass beantragte ich bei der portugiesischen Botschaft in Berlin, die auch für alle Kolonien des Landes zuständig war, ein Arbeitsvisum, für das ich mittlerweile ein Einladungsschreiben der Gesellschafter der in Lumbo ansässigen Eisenbahngesellschaft vorlegen konnte. Nach sechs Wochen und zwei persönlichen Interviews hielt ich endlich das Visum in meinen Händen.

Dann begann das Hauptproblem: wie konnte man auf bezahlbare Weise nach Lumbo im Norden Mozambiques reisen? Die Deutsche-Ost-Afrika-Linie der Hamburger Woermann-Reederei, die bis zum Krieg den kolonialen Schiffverkehr dominierte, hatte ihren Betrieb in dem Teil der Welt noch nicht wieder aufgenommen. Andererseits wollte ich aus Sicherheitsgründen als ehemaliger Schutztruppen-Reserveoffizier eineinviertel Jahre nach Kriegsende auf keinem britischen Dampfer reisen. So blieben nur die portugiesischen Reedereien selbst, für die man aber zunächst mit der Bahn quer durch Europa nach Lissabon reisen musste. Glücklicherweise lief die Reederei aber nicht nur die neue Hauptstadt Lourenço Marques im Süden der Kolonie an, sondern anschließend als Postschiff viele größere und kleinere Hafenorte, darunter Lumbo und die unmittelbar vorgelagerte Insel von Mozambique, die bis 1898 der Sitz der portugiesischen Kolonialverwaltung gewesen war.

Das zweite große Problem, die Finanzierung der zweiten Auswanderungskosten, löste ich durch ein Arrangement mit meinen Brüdern. Ich übertrug meinen Anteil am Erbe meiner zu Kriegsende verstorbenen Eltern, das teilweise in meiner Heimatstadt Bromberg und damit im neu gebildeten Polen lag, auf meine Brüder und erhielt dafür ein zinsloses Darlehen, welches aus den Liquidationserlösen des Erbes getilgt werden sollte.

Am Donnerstag, den 17. Juni 1920, vier Jahre nach meinem Abmarsch aus Kigoma am Tanganjikasee und vierzehn Monate nach meiner Rückkehr nach Deutschland stand ich wieder auf afrikanischem Boden. Mein Gepäck bestand aus zwei Koffern, einer Reisetasche sowie zwei Kapitänskisten; neben einer kleinen Geldbörse kurz vor meinem 40. Geburtstag mein gesamter persönlicher Besitz. Die Grenzabfertigung im Zollgebäude des Hafens war einfach und unkompliziert, aber kaum hatte ich das kleine Gebäude verlassen, erwartete mich die erste Überraschung: ich wurde erwartet. Ahmed Abbas hatte es sich nicht nehmen lassen, zur Begrüßung seines neuen Eisenbahndirektors persönlich im Hafen zu erscheinen, begleitet von zwei afrikanischen Dienern, die sich sofort des übersichtlichen Reisegepäcks annahmen.

„Herzlich willkommen", begrüßte mich der arabische Händler mit derselben Freundlichkeit und Offenheit, die auch sein Cousin Muhammad Ali mir gegenüber gezeigt hatte. „Ich freue mich, Euch als meinen Gast und meinen Freund begrüßen zu können, der unserer Familie so viel Gutes angetan hat."

Ich war überwältigt, ich hatte mit einem solchen Empfang wahrhaftig nicht gerechnet. Noch beeindruckter war ich von der Tatsache, dass Ahmed Abbas mich mit einem Automobil am Hafen abholte. Der arabische Händler reagierte lachend auf mein sichtbares Erstaunen. „Werter Freund, der Fortschritt hat mittlerweile Mozambique erreicht. Es gibt derzeit genau sechs Automobile in dieser Region und ich bin stolz, dass mein Buick das einzige amerikanische Automobil in dieser Gegend der Welt ist."

Das Auto legte die knapp drei Kilometer bis zum Haus des arabischen Händlers in vorsichtiger Fahrt auf einer schaurigen Sandpiste zurück, auf der das Auto jetzt, während der winterlichen Trockenzeit, eine beachtliche Staubwolke aufwirbelte. Ich bekam einen ersten Eindruck von Lumbo; es war kleiner und sichtlich ärmer als Kigoma und es machte einen absolut unorganisierten Eindruck. Anders als in ehemals deutschen und in allen britischen Kolonien Afrikas gab es keine ethnisch getrennten Stadtbezirke, die wenigen portugiesischen Kolonialbauten waren mit Ausnahme der katholischen Kirche wenig eindrucksvoll. Um so angenehmer überraschte mich, dass sich das Haus meines Gastgebers, der zugleich mein Arbeitgeber werden sollte, solide aus Ziegeln und von stattlicher Größe war; das ganze Anwesen war von einer sicherlich drei Meter hohen Mauer umgeben, die die Sicherheit und die Privatsphäre der Familie gewährleistete. Ahmed Abbas schien tatsächlich ein erfolgreiches Handelsgeschäft zu betreiben.

„Wir sind sehr glücklich, dass Sie zu uns gekommen sind", begann Ahmed Abbas das Gespräch, nachdem er sich mit mir zum arabischen Tee zusammengesetzt hatte. Der arabische Händler sprach ein leidlich verständliches Englisch, so dass eine direkte Unterhaltung ohne Übersetzer möglich war. „Seit Joao Pinto spurlos verschwunden ist, fehlt es unserem Eisenbahnprojekt an der notwendigen Führung. Meine Partner und ich sind alle Kaufleute, wir kennen den wirtschaftlichen Nutzen einer Eisenbahn und investieren deshalb. Aber wie man eine solche fachmännisch baut, wissen wir natürlich nicht."

„Unter welchen Umständen ist ihr Chef-Ingenieur verschwunden?"

Ahmed Abbas zuckte mit den Schultern. „Vermutlich Geld und eine Frau. Jedenfalls ist er mit der Kasse, die einen Wochenlohn für die Arbeiter enthielt, plötzlich nicht mehr auffindbar gewesen. Und eine Afrikanerin, die wohl seine Geliebte war, verschwand zum gleichen Zeitpunkt. Wohin, weiß kein Mensch."

„Wann war das?"

„Vor acht Monaten. Und seither dümpelt der Baufortschritt sehr unbefriedigend vor sich hin. Kostet nur Geld, aber kommt nur sehr langsam vorwärts."

„Das wird also meine allererste Aufgabe sein. Ich inspiziere die bisher gebaute Bahnlinie und die Betriebsgebäude von hier aus bis zur Gleisspitze. Wieviel Kilometer sind denn überhaupt betriebsbereit?"

„Der erste Bauabschnitt soll von hier, Lumbo, bis Monapo gehen, mehr oder weniger direkt in westlicher Richtung. Das sind rund 90 Kilometer. Knapp die Hälfte dieser Distanz ist fertiggestellt, dazu insgesamt drei Bahnhöfe. Bisher fahren nur Bauzüge zwischen Lumbo und der Gleisspitze, aber wir erwarten, dass wir nach Fertigstellung der Trasse bis Monapo mit dem kommerziellen Verkehr beginnen können, vielleicht auch schon früher." Ahmed Abbas holte tief Luft. „Das hängt jetzt ganz entscheidend von Ihnen, Ihrer Beurteilung und Ihren Vorschlägen ab, Herr Henschel."

„Gut. Dann mache ich mich ab morgen früh sofort an die Arbeit und inspiziere erst einmal alle Betriebseinrichtungen und den vorhandenen Gleisbau. Dazu gleich meine erste Frage: haben Sie einen Übersetzer zur Hand, damit ich mich irgendwie verständigen kann?"

„Selbstverständlich. Ich stelle Ihnen morgen früh einen Mann zur Seite, der sowohl Suaheli als auch Makhuwa spricht und dies in Portugiesisch und Englisch übersetzen kann. Arbeitet schon lange für mein Handelsgeschäft und man kann seiner Übersetzung vertrauen."

„Suaheli verstehe ich seit meinen fünf Jahren in Kigoma ganz ordentlich. Aber meine Portugiesisch-Kenntnisse sind naturgemäß sehr dürftig."

Ahmed Abbas lächelte. „Kann man lernen. Ist mir auch gelungen."

„Dann habe ich nur noch eine direkte Frage: wo kann ich hier in Lumbo wohnen?"

„Oh, das ist ganz einfach, Herr Henschel. Für die nächsten Tage sind Sie mein Gast. Morgen früh besichtigen Sie erst einmal das ehemalige Wohnhaus von Joao Pinto, es gehört unserer Eisenbahngesellschaft. Sie teilen mir anschließend Ihre Wünsche mit und wir organisieren dann Ihr Haus und Ihren Haushalt."

„Haushalt?! Ja, wäre schön." Ich holte tief Luft. „Wäre noch schöner, wenn meine Familie hier wäre."

Auch hier musste Ahmed Abbas lächeln. „Da müssen Sie leider noch zwei Wochen warten. Muhammad Ali bringt Ihre Frau und Ihren Sohn persönlich nach Lumbo. Ich habe ihm verabredungsgemäß heute Mittag ein Telegramm geschickt, dass Sie eingetroffen sind. Alles andere arrangiert mein Cousin persönlich."

Ich schaute den arabischen Händler mit unverhohlener Begeisterung an.

„Muhammad Ali bringt Una und meinen Sohn persönlich hierher?"

„Ja. So habe ich das mit ihm vereinbart. Er hat alles vorbereitet, reist mit Ihrer Familie per Bahn nach Daressalam und kommt dann mit einem britischen Küstenroutendampfer hierher. Gemäß seinem Plan braucht er etwas mehr als zwei Wochen für die Reise. Ich bin sehr glücklich über seinen Besuch, weil wir sehr viel zu besprechen haben."

Ich klatschte in meine Hände. „Das ist wirklich viel mehr als ich erwartet habe. Meinen aufrichtigen Dank. Ich werde ab morgen früh meine Arbeit aufnehmen. Vielleicht nutzen wir den heutigen Abend, um mich in die Vorgeschichte Ihrer Eisenbahngesellschaft einzuführen."

„Genau das hatte ich vor. Ich habe meine beiden wichtigsten Mitgesellschafter zum Abendessen eingeladen. So haben wir Zeit, alle Fragen zu beantworten und Ihnen alle notwendigen Informationen zu geben."

Das reichhaltige arabische Abendessen unter einem Baldachin im Garten des Hauses war nach der vergleichsweise schmalen Kost der Seereise großartig. Ich musste aufpassen, mich nicht zu überfressen, insbesondere weil es im Haushalt des Moslem-Kaufmanns natürlich keinen Verdauungsschnaps gab. Aber im Verlauf des vierstündigen Abends erzählten alle drei Gesellschafter von ihren Erwartungen und Enttäuschungen, die mit dem bisherigen Projekt verbunden waren. Und mir dämmerte, dass diese Aufgabe erheblich mehr Organisations- und Improvisationsanforderungen enthielt als der Bau der in dieser Hinsicht wohl organisierten deutsch-ostafrikanischen Mittellandbahn. Aber die Perspektive, nach vier Jahren Trennung meine geliebte Una und meinen mir unbekannten Sohn Anders bei mir zu haben, machte alle absehbaren Probleme wett.

Das Ergebnis meiner zweiwöchigen, detaillierten Inspektion aller Betriebsteile als auch der ausgeführten und für den Weiterbau vorbereiteten Bahntrasse war mehr als ernüchternd. Ich erstatte meinen Bericht an die Gesellschafter bei einem erneuten Abendessen im Haus von Ahmed Abbas.

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