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Zufällige Begegnung

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Einer Eingebung folgend mache ich mich in der Mittagspause auf den Weg zum Papierwarenladen, in dem ich sie zuletzt gesehen habe. Ich weiß nicht warum ich hoffe, sie dort anzutreffen. Auch wenn das nach dem Vorfall vor einer Woche sehr unwahrscheinlich ist, will ich nichts unversucht lassen. Könnte ja sein, dass sie in der Nähe wohnt.

Wie erwartet, treffe ich sie in der Nähe des Ladens nicht an. Wäre auch zu schön gewesen! Ich suche die nähere Umgebung ab und laufe eher ziellos durch die Gegend. Meine Hoffnung ist es, ihr zufällig zu begegnen. Doch ich scheine kein Glück dabei zu haben. Ich bin schon dabei, aufzugeben, da höre ich plötzlich ihre Stimme.

„Sie können mir die beiden nicht wegnehmen!", fleht sie. „Das können Sie nicht tun! Nach allem, was ich auf mich genommen habe. Das ist nicht fair."

Ich komme näher und sehe in einem Hauseingang, wie Pia zwei Kinder im Alter von etwa zehn Jahren fest an sich drückt. Ihr gegenüber steht eine etwa fünfzig Jahre alte etwas mollige Frau. Auch Polizei und andere Männer stehen herum, die ausschauen, wie Möbelpacker.

„Ich muss die beiden in die Obhut des Jugendamtes nehmen. Es geht gar nicht anders", antwortet die mollige Frau. „Sie müssen die Wohnung aufgrund einer Zwangsräumung verlassen und wissen selbst nicht wohin. Ich kann unmöglich zulassen, dass die Kinder unter der Brücke landen."

Ich habe inzwischen den Hauseingang erreicht. Sowohl Pia als auch die beiden Kinder weinen laut. Vor allem das kleine Mädchen klammert sich verzweifelt an Pias Bein und vergräbt ihr Gesicht im Stoff der Hose.

„Ich will nicht weg!", heult die Kleine. „Ich will bei dir bleiben!"

Alle reden auf Pia ein. Das Mädchen ist völlig überfordert. Sie ist allein und in der Defensive. Ich fasse mir ein Herz und greife erneut ein.

„Was geht hier vor?", frage ich entschlossen.

Alle halten überrascht inne und drehen sich zu mir um. Pia schaut mich ungläubig an, doch dann sehe ich die Erleichterung in ihren Augen.

„Wer sind denn Sie?", will die Frau wissen. „Wir brauchen hier kein Publikum! Das ist eine Amtshandlung. Bitte gehen Sie weiter."

„Ich bin der Anwalt dieser jungen Frau", antworte ich.

Dabei reiche ich der Frau vom Jugendamt meine Karte. Sie schaut mich misstrauisch an.

„Stimmt das?", will die Frau von Pia wissen.

„Ja, sprechen Sie mit ihm. Ich kann nicht mehr", antwortet diese.

Pia nimmt die Kleine auf den Arm und kommt zu mir her. Sie umarmt mich.

„Danke!", haucht sie mir ins Ohr.

„Kein Geld für die Miete, aber einen Anwalt kann sie sich leisten. Wie funktioniert das denn?", wundert sich die Frau vom Jugendamt.

„Das dürfte zwar nicht Ihr Problem sein. Aber zu ihrer Beruhigung, ich nehme in diesem Fall kein Honorar", versichere ich.

„Gut, Herr Anwalt. Ich muss die Kinder trotzdem in meine Obhut nehmen", meint die Frau.

„Das bezweifle ich. Sie haben keinen Grund dazu."

„Keinen Grund dazu? Sie haben ja eine Ahnung! Die Frau ist obdachlos. Und außerdem, schauen Sie sich doch das Mädchen an, sie ist mit der Situation völlig überfordert. Ich hatte wirklich gehofft, dass sie es schafft, sich trotz des Studiums und der schwierigen Situation, um ihre Geschwister zu kümmern. Uns ist es schließlich auch lieber, wenn sich Angehörige um die Kinder kümmern. Doch wie Sie selbst sehen können, schafft sie es leider nicht. Es tut mir aufrichtig leid", erklärt sie mir.

„Dann wird man ihr helfen müssen", werfe ich ein.

„Wir helfen ihr doch schon, so gut es geht", protestiert die Dame.

„Offenbar helfen sie noch nicht genug", kontere ich. „Doch wenn Sie ihr nicht helfen können, dann tue ich es."

„Der Mietvertrag ist gekündigt. Der Vermieter lässt nicht mehr mit sich reden und will sie raushaben. Die drei stehen auf der Straße. Wie wollen Sie da noch helfen?", fährt sie mich ungeduldig an.

„Die drei sitzen nicht auf der Straße. Sie wohnen ab sofort bei mir", sage ich.

Pia schaut mich mit großen Augen an. Die Frau vom Amt grinst abschätzig.

„Haben Sie denn so viel Platz?", will sie wissen. „Eine Couch im Wohnzimmer reicht nicht, um die drei ordentlich unterzubringen. Ich muss darauf achten, dass die Kinder ein anständiges Zuhause haben. Ich erwarte mir, dass sie mindestens zwei Zimmer zur Verfügung haben, eines für die Schwester und ein weiteres für die beiden Kinder."

„Ich denke, das kriege ich hin. Sie können sich gerne morgen ein Bild von der Situation machen", schlage ich vor.

„Warum erst morgen?"

„Wenn Sie drauf bestehen, können Sie sich auch heute bei mir umsehen. Ich denke aber, es wäre besser, wenn sich die drei zuerst anschauen, welches Zimmer sie gerne hätten und sich dort dann einrichten", entgegne ich.

„Ein Zimmer für alle drei? Das ist doch nicht Ihr Ernst?", fährt sie mich an.

„Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt, entschuldigen Sie. Ich habe ausreichend Gästezimmer, damit alle drei ihr eigenes Zimmer bekommen", antworte ich.

„Kinder brauchen auch Bewegung und Platz zum Spielen. Haben Sie das?", will sie wissen.

Ihrer Stimme kann ich entnehmen, dass es sich dabei um das letzte verzweifelte Aufbäumen handelt. Sie kann sich wohl selbst ausrechnen, dass genügend Bewegungsmöglichkeiten gegeben sind, wenn das Haus über so viele Gästezimmer verfügt.

„Keine Sorge, auch der ist vorhanden", beruhige ich sie.

„Ich schaue mir das morgen an", meint sie. „Darauf können Sie sich verlassen."

„Das können Sie gerne", versichere ich. „Ich bitte sogar darum. Schließlich will ich es amtlich haben, dass alles seine Ordnung hat."

Die Frau weiß nicht mehr was sie sagen soll. Sie lässt sich meine private Adresse geben, die ich ihr auf die Rückseite der Visitenkarte schreibe. Danach verabschiedet sie sich hastig, murmelt Pia eine kaum verständliche Entschuldigung zu und will sich aus dem Staub machen. Da tritt ein Mann auf sie zu.

„Sie können ihr die Kinder doch nicht lassen", protestiert er. „Das ist unverantwortlich!"

„Ich kann nicht anders", ruft sie ihm zu. Dann ist sie verschwunden.

Der Mann kommt nun auf mich zu. Er schaut mir geradewegs in die Augen. Darin sehe ich Hass aufblitzt. Ganz offensichtlich habe ich seine hinterhältigen Pläne durchkreuzt. Ich habe das Gefühl, er hat es darauf angelegt, dass Pia die Geschwister entzogen werden und nun ist er sauer, weil ich ihm seinen Triumpf vereitelt habe.

„Wo kommen Sie denn her?", will er wissen.

„Guten Tag, mit wem habe ich denn das Vergnügen?", antworte ich ruhig.

„Ich bin Max Meinrad, der Vermieter dieser Frau", fährt er mich an. Dabei macht er eine abschätzige Kopfbewegung in Pias Richtung. „Sie schuldet mir noch zwei Monatsmieten."

„Zwei Monatsmieten? Und da machen Sie einen solchen Aufstand? Lassen Sie mich wissen, wieviel das ist und wohin ich den Betrag überweisen kann. Das wird dann umgehend in Ordnung gebracht", versichere ich ihm.

Ich reiche auch ihm meine Visitenkarte. Er nimmt und studiert sie genau. Dann schaut er mich an. Er hat sich gerade noch im Griff. Am liebsten aber würde er mir eine reinhauen.

„Da kommen noch Gerichtskosten, die Kosten für die Möbelpacker und einiges mehr auf die junge Dame zu", erklärt er mir.

„Schicken Sie mir eine Aufstellung und die entsprechenden Belege für die Kosten, dann werden Sie das Geld schon bekommen. Keine Sorge", beruhige ich ihn. „Sie bekommen das, was Ihnen zusteht. Glauben Sie mir."

Ich kenne diesen Mann. Er besitzt einen großen Elektrohandel, der sich im Gebäude befindet, in dem sich auch meine Büros befinden. Das gesamte Gebäude gehört mir und damit ist er mein Mieter. Ich denke aber nicht, dass er das weiß. Das Gebäude wird von einer Gesellschaft verwaltet und er hatte bisher nur mit dem Geschäftsführer zu tun. Ich habe mich immer im Hintergrund gehalten.

„Wer ist der Chef der Möbelpacker?", frage ich laut.

„Ich", meldet sich dieser. Ihm ist die Situation sichtlich peinlich.

Ich spreche mit ihm ab, was mit den Sachen geschieht, die seine Männer gerade aus der Wohnung tragen. Er erklärt sich bereit, diese zu meiner Villa zu liefern und gibt seinen Männern Anweisung, einen Kleintransporter zu holen und die Sachen aufzuladen.

„Hast du hier noch etwas zu erledigen? Sonst würde ich vorschlagen, wir fahren voraus und schauen Euer neues Zuhause an", wende ich mich an Pia.

„Wir können gehen", stottert sie.

Pia ist völlig neben der Spur. Ich hätte erwartet, dass sie sich dagegen wehrt, mir zur Last zu fallen. Sie wollte sich ja bisher auch nicht helfen lassen. Allerdings ging ihr die Auseinandersetzung mit der Frau vom Jugendamt wohl doch näher. Es ging schließlich um die Kinder.

---

Ich nehme den Jungen bei der Hand, Pia das Mädchen. Wir gehen zu meinem Büro und fahren dort mit dem Aufzug direkt in die Garage. Ich verfrachte die drei in mein Auto und fahre zur Villa. Auf der Fahrt rufe ich meine Sekretärin an und lasse alle Nachmittagstermine verschieben.

„Was machen wir jetzt?", will der Junge wissen.

„Ihr kommt mit zu mir. Dann sehen wir weiter", antworte ich.

„Pia, kennst du den Mann?", will das Mädchen wissen.

„Ja, er hat mir schon zweimal geholfen", antwortet diese.

„Nimmt uns die böse Frau vom Jugendamt nicht mehr mit?", bohrt sie nach.

„Nein, keine Sorge", versichere ich ihr.

„Weil du gekommen bist?", will sie wissen.

„Weil Eure Schwester sich so lieb um Euch kümmert", antworte ich ausweichend.

„Du magst sie?", meint die Kleine.

Dabei schaut sie mich und dann Pia an. Ich kann ihre Blicke im Rückspiegel sehen. Pia dreht sich auf dem Beifahrersitz um und lächelt sie an.

„Du magst ihn auch", ergänzt die Kleine. „Das sehe ich."

Pia wird rot und dreht sich wieder nach vorne. Sie vermeidet es, mich anzusehen. Sie richtet den Blick auf den Verkehr vor uns und sagt nichts.

„Wie heißt Ihr beiden überhaupt. Man hat uns noch nicht vorgestellt", lenke ich ab.

„Ich bin Aylin", sagt das Mädchen.

„Und ich bin Kevin", fügt der Junge hinzu.

„Wie alt seid Ihr?", frage ich weiter.

„Ich bin zwölf und er ist zehn", antwortet Aylin für beide.

„Ihr besucht die Schule?", erkundige ich mich.

„Ja", antwortet Kevin. „Pia sagt, Lernen ist ganz wichtig."

„Damit hat Eure Schwester auch völlig Recht. Seid Ihr gute Schüler?"

„Kevin tut sich beim Rechnen etwas schwer. Aber sonst geht es. Ich helfe ihm manchmal", erzählt Aylin.

„Du bist eine liebe Schwester - wie Pia", stelle ich fest.

„Pia ist die Beste!", stellt Kevin klar.

„Ja, wenn wir sie nicht hätten", pflichtet ihm Aylin bei.

In ihrer Stimme schwingt Trauer mit. Im Rückspiegel fange ich ihren Blick ein. Sie schaut zu Pia und in ihren Augen erkenne ich immense Liebe.

„Dabei fallen wir ihr nur zur Last", meint Kevin.

„Ach Blödsinn, Ihr seid keine Last für mich", antwortet Pia sofort. „Das dürft Ihr nicht einmal denken."

„Ich bin schon alt genug, um zu sehen, dass du es nicht leicht mit uns hast", widerspricht Aylin. „Glaubst du, wir bekommen nicht mit, dass du manchmal abends im Bett weinst?"

„Kommt, reden wir nicht mehr drüber. Ich habe Euch lieb!", würgt Pia das Gespräch ab. In ihren Augen funkelt es feucht und sie hat eine belegte Stimme.

Wir haben inzwischen die Einfahrt erreicht. Ich betätige die Fernbedienung und das Metalltor gleitet geräuschlos zur Seite. Alle schauen gebannt auf das Tor. Vor allem die Kleinen sind neugierig, was sich dahinter verbirgt. Auch Pia wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Mir ist klar, für die drei liegt hinter diesem Tor eine ganz neue, unbekannte Welt.

„Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belasten", sagt sie leise.

„Ich habe es dir doch angeboten", antworte ich.

„Danke!", meint sei. „Das war Rettung in allerletzter Sekunde."

---

Pia bringt die Kinder zu Bett. Es war ein aufregender Tag. Nach dem Rauswurf aus ihrer Wohnung folgte am Nachmittag der Einzug bei mir. Es war die helle Aufregung für die Kinder und damit auch für Pia, das passende Zimmer auszusuchen. Schlussendlich hat Pia das Zimmer zwischen jenen von Kevin und Aylin beziehen müssen. Die Kinder haben darauf bestanden, nicht zu weit von ihrer Schwester getrennt zu sein. Mein Zimmer grenzt an jenes von Kevin.

Wir haben die Sachen, welche die Umzugsfirma schon wenig später brachte, zunächst in der Garage verstaut. Wir haben auf die Schnelle die wichtigsten persönlichen Dinge herausgesucht. So konnten die drei ihre Zimmer zumindest mit ein paar persönlichen Habseligkeiten ausstatten. Vor allem die Kinder fühlen sich damit wohler in der neuen Umgebung.

Die Besichtigung des Hauses war für die Kleinen das reinste Erlebnis. Vor allem das Schwimmbad hat es ihnen angetan. Sie wollten unbedingt ins Wasser springen. Pia war zunächst noch etwas skeptisch und hatte Angst. Ich habe ihr versichert, dass wir uns neben dem Pool hinsetzen und die beiden nicht aus den Augen lassen. Erst daraufhin hat sie zugestimmt. Für uns war es nach den vielen Aufregungen des Tages endlich ein klein wenig Entspannung. Pia und ich hatten nur wenig Gelegenheit, miteinander zu redet. Kevin und Aylin waren so ausgelassen und glücklich, dass wir sie nicht aus den Augen lassen konnten.

Meine Haushälterin hat das Menu umgeworfen und eigens wegen der Kinder Wienerschnitzel mit Pommes gemacht. Zum Nachtisch gab es Eis mit heißen Himbeeren. Während sich Pia vornehm zurückhielt, haben Kevin und Aylin ordentlich eingepackt. Es war die helle Freude, den beiden zuzuschauen.

Nach dem Abendessen waren die Kinder müde und Pia ist mit ihnen nach oben gegangen. Ich hingegen bin durch den Garten geschlendert.

Auf dem Rückweg bleibe ich auf der Wiese vor dem Haus stehen. Da die Villa auf einer Anhöhe liegt, hat man von hier oben einen wunderbaren Blick über die Stadt. Ich stehe öfters hier, wenn ich abschalten und nachdenken will.

Ich kann kaum glauben, dass die drei jetzt bei mir sind. Ich habe mich ganz spontan dazu bereit erklärt, sie bei mir aufzunehmen. Eine andere Lösung gab es nicht. Ich bin heilfroh, dass ich rechtzeitig gekommen bin, um noch einzugreifen. So wie ich die drei erlebt habe, wäre es eine Katastrophe für alle gewesen, hätte sie das Jugendamt auseinandergerissen.

Dabei ist mir völlig klar, dass die Frau absolut korrekt gehandelt hat. Sie hätte beim besten Willen keine andere Wahl gehabt. Im Interesse der Kinder musste sie vermeiden, dass sie obdachlos werden und womöglich auf der Straße leben müssen. Ich finde es herzlos vom Vermieter, Pia in dieser Situation aus der Wohnung zu schmeißen.

„Sie schlafen", sagt Pia. Sie muss sich unbemerkt genähert haben und reißt mich aus meinen Gedanken.

„Das ist gut", antworte ich. Es entsteht eine kurze Pause.

„Warum hast du das getan?", will sie wissen.

„Was getan?"

„Uns hier aufzunehmen."

„Gab es eine andere Lösung?"

„Du hättest auch vorbeigehen können."

„Hätte ich nicht", stelle ich klar. „Ganz sicher nicht."

„Du tauchst immer dann auf, wenn ich dich am dringendsten brauche", sagt Pia. „Wie machst du das?"

„Keine Ahnung. Es wird wohl Schicksal sein", antworte ich.

Pia hat Recht. Immer, wenn ich sie getroffen habe, musste ich ihr aus einer misslichen Lage helfen. Wird wohl tatsächlich Schicksal sein, dass ich genau dann aufgetaucht bin, wenn sie mich brauchte.

„Nimmst du mich in den Arm? Das wäre jetzt schön", sagt sie.

Ich zögere etwas. Denkt sie etwa, ich will etwas von ihr? Nun ja, sie ist ein wunderschönes Mädchen und ich mag sie. Doch deswegen habe ich ihr nicht geholfen.

„Einfach so. Du brauchst keine Angst haben", sagt sie. Dabei lächelt sie mich aufmunternd an.

Ich lege meine Arme um sie und Pia drückt sich augenblicklich schutzsuchend an mich. Sie legt den Kopf gegen meine Schulter und vergräbt ihr Gesicht in meiner Halsbeuge.

„Ich habe keine Angst", stelle ich klar.

„Das weiß ich", versichert sie.

„Ich erwarte auch nichts von dir", füge ich hinzu.

„Auch das weiß ich", beruhigt sie mich. „Eben deshalb."

Wir stehen eine ganze Weile nur so da. Ich kann die Wärme ihres Körpers spüren und ihren Atem an meiner Haut. Sie rührt sich nicht.

„Weißt du, wie lange es her ist, dass ich mich anlehnen konnte?"

„Keine Ahnung. Ich nehme jedoch an, dass es eine ganze Weile her ist", antworte ich.

„Viel zu lange", meint Pia. „Vier Jahre, acht Monate und neun Tage."

„Das weißt du so genau?"

„Das war das letzte Mal, dass mich meine Eltern in den Arm genommen haben", sagt sie.

„Das tut mir leid", bringe ich hervor.

Meine Stimme ist belegt. Allmählich wird mir in etwa das Ausmaß dessen bewusst, was dieses Mädchen alles durchmachen musste. Wenn sie sogar die Tage zählt, wie lange es her ist, dann liegt ihr das schwer auf dem Herzen.

„Was ist mit deinen Eltern?", frage ich. Ich traue mich kaum es auszusprechen.

„Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein LKW hat ein Stopp-Schild übersehen und hat mit hoher Geschwindigkeit den Wagen meiner Eltern von der Seite her gerammt. Sie waren auf der Stelle tot. Am Morgen, als sie aus dem Haus gingen, haben sie mich beide noch umarmt. Allerdings wusste ich damals noch nicht, dass es ein Abschied für immer sein würde", erzählt sie.

„Scheiße!", rutscht mir raus.

„Das kannst du laut sagen", meint Pia.

„Entschuldige, ich wollte nicht respektlos sein", wehre ich ab.

„Das bist du nicht. Ich wüsste auch nicht, wie du anders reagieren könntest", beruhigt sie mich.

„Seitdem hast du dich um deine Geschwister gekümmert?", frage ich.

„Es gab sonst niemand. Ich war kurz zuvor achtzehn geworden und konnte somit die Vormundschaft übernehmen. Es wäre schrecklich gewesen, hätten sie in ein Heim müssen. Sie haben so schon unter dem Verlust der Eltern gelitten", erzählt sie.

„Das war sicher nicht leicht für dich."

„Ich habe mich oft gefragt, warum das ausgerechnet uns hat passieren müssen", antwortet sie. „Versteh mich nicht falsch, ich liebe die beiden über alles und ich würde wirklich alles tun, damit es ihnen gut geht. Aber es ist verdammt schwer. Nur von der Hilfe der öffentlichen Hand abhängig zu sein ist schon nicht leicht. Um jeden Euro muss man betteln und ihn dann belegen. Und trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht aus, um den beiden ein halbwegs normales Leben bieten zu können. Aber das Schlimmste ist, dass ich für meine Geschwister stark sein muss, aber nicht immer die Kraft dazu habe."

„Das kann ich mir vorstellen", pflichte ich ihr bei. „Die Frau vom Amt hat gesagt, du studierst?"

„Ich hatte damals gerade mein Psychologie-Studium begonnen und wollte es nicht abbrechen. Doch einfach ist das nicht. Aylin und Kevin brauchen mich und deshalb komme ich mit dem Studium kaum vom Fleck. Ich denke, das Beste wird sein, wenn ich es aufgebe und mir einen Job suche."

„Lass uns morgen in Ruhe darüber reden, ich denke, wir finden eine bessere Lösung", beruhige ich sie.

„Die Entscheidung ist lange schon überfällig. Es kann so nicht weitergehen", beharrt sie.

„Pia, in diesem Punkt stimmen wir überein. Es kann nicht mehr weitergehen wie bisher. Doch bei der Lösung des Problems sind wir anderer Meinung", widerspreche ich ihr.

„Wie meinst du das?"

Pia hebt den Kopf und schaut mich mit großen Augen an. Ihre wunderschönen bernsteinfarbenen Augen halten meinem Blick stand. Sie ist eine entschlossene und selbstbewusste junge Frau. Ich habe große Hochachtung vor ihr.

„Du sollst dein Studium weiterführen. Hast du nicht deinen Geschwistern gesagt, wie wichtig es ist, etwas zu lernen?"

„Wie soll das denn gehen? Ich kann mir keine Wohnung leisten, das Essen, die Kleidung und die Schule. Ich habe schließlich Verantwortung übernommen und muss an die Kinder denken. Ich kann nur bei mir selbst zurückstecken. So einfach ist das!", beharrt sie.

„Ich kann dir helfen. Wir finden zusammen eine Lösung", ermutige ich sie.

„Wie meinst du das?", will sie wissen. „Ich kann dir nicht auf der Tasche liegen. Das will ich auch nicht!"

„Warum nicht?"

„Weil ich das nicht verlangen kann!"

„Du verlangst es doch nicht, ich biete es dir an!"