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Alisha -- Vorgeschichte 01

Geschichte Info
Alishas Verhältnis zu Schmerzen wird erklärt.
2.9k Wörter
4.35
17.3k
2

Teil 6 der 21 teiligen Serie

Aktualisiert 01/25/2024
Erstellt 10/01/2019
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(c) Astrum Argenteum 2019 (überarb. 2021)

Der erste Teil einer losen Reihe mit Rückblicken auf die Vorgeschichte. Der Anfang knüpft an den Beginn der Episode 5 von „Das Pfingst-Martyrium" [https://german.literotica.com/s/alisha-das-pfingstmartyrium-teil-05] an, die durch diese Vorgeschichte mehr Kontext erhält.

+++

Alisha kuschelte sich wieder in die weiche Decke, überlegte kurz und sagte dann: „Erinnerst du dich noch an das Gespräch über Schmerz, das wir vor ein paar Jahren geführt haben?"

Ich nickte. Wie könnte ich das jemals vergessen! Es muss vor ziemlich genau drei Jahren gewesen sein. Wir waren damals gerade erst seit ein paar Wochen wieder zusammen, auch wenn „zusammen sein" irgendwie der falsche Begriff ist... hatten uns versöhnt? Auch das trifft es nicht wirklich. Es war kompliziert, obwohl, eigentlich ist es ja immer noch ziemlich kompliziert. Auch wenn die Zeit damals wirklich sehr seltsam war (etwas, das ich besser ausführlicher an anderer Stelle erzähle).

Ich habe Alisha und mich nie wirklich als ein Paar gesehen, auf das Begriffe wie Dom und Sub, Top und Bottom, oder auch nur S und M sonderlich gut passten. All diese Begriffe halt, die scheinbar klare Verhältnisse schaffen sollen, wo wirkliches Leben und Begehren oft so viel komplexer sind.

Alisha war recht unverhofft in mein Leben eingetreten und hatte mich schnell mit Dingen konfrontiert, die mir zwar mehr oder weniger ein Begriff waren, die ich aber nicht als Teil von mir oder meiner Identität betrachtete.

So hatte ich zum Beispiel nie wirklich darüber nachgedacht, ob Schmerzen -- als sinnliche Empfindung -- etwas Positives sein können. Klar wusste ich, dass es Menschen gibt, die Schmerzen in der Hinsicht etwas abgewinnen können, aber weder mochte ich persönlich das Erleben von Schmerzen sonderlich gerne, noch gab es Masochisten in meinem Leben. Zumindest keine, von denen ich wusste.

Alisha zwang mich damals quasi dazu, eine Rolle zu finden, um mit ihrem Bedürfnis nach extremen Erfahrungen, Schmerzen, Erniedrigung und Grenzüberschreitungen klar zu kommen. Was genau diese Rolle ist, weiß ich bis heute nicht hundertprozentig; sie ist aber definitiv nicht die Rolle eines „Dom".

Tatsächlich hasse ich Sadismus, verstehe ihn nicht. Ich kann Alisha Schmerzen zufügen, wenn sie mich darum bittet. Es ist eine Form der Zuwendung, der Liebe zu einem anderen Menschen. Für viele Außenstehende ist dies nicht nachvollziehbar. Sie können es nicht unterscheiden. Sie sehen nur die Hand, die verletzt. Die Peitsche, die eine Wunde lässt. Sie sehen nur Opfer.

Das wiederum verstehe ich. Denn sie kennen es nicht anders. Entweder weil ihnen wirklich der Horizont zu eng ist (denn auch das gibt es natürlich, der Mangel an Erfahrung und Erleben), oder aber, weil sie es verdrängen. Weil sie die Fantasien, die sie selber in sich tragen, von Unterwerfung und Überwältigung, Dornenkronen und Beschmutzung, von groben Händen, geilen Faunen und gutbestückten Zentauren, in die Kerker ihrer deprimierten bürgerlichen Seelen verbannen. Manchmal taucht es vielleicht noch auf, als Anflug, als Assoziation, nur um umso härter unterdrückt zu werden.

Ironischerweise handelt es sich bei dieser Selbstkasteiung ja auch um eine Form der Gewalt, die man sich selbst zufügt, die Gewalt der bürgerlichen Sexualmoral: klinische Sprache, klinische Körper, Sauberkeit, jede Falte ist rein und nach Blumen duftend, übertriebene Körperhygiene, kein Schmutz, Ariel Ultra, blütenweiß. Jede verbotene Lust muss unterdrückt werden, denn sie stellt die eigene Identität infrage. Das eigene Begehren ist eine Bedrohung, die bekämpft werden muss.

Für mich selbst war die Auseinandersetzung damit eine Reise der Erkenntnis, oft schmerzvoll, aber immer lehrreich. Das war bereits vor Alisha so, hat aber eine ganz neue Qualität angenommen, seitdem sie in mein Leben getreten ist.

+++

Was würde euch durch den Kopf gehen, wenn ein Mensch, den ihr liebt, den ihr begehrt, für den ihr durchs Feuer gehen würdet, euch darum bittet, ihm weh zu tun? Abscheu? Entsetzen? Der Gedanke, dass es ein Verrat an euren Gefühlen ist? Wenn ihr darauf keine Antwort habt -- niemand kann sie euch geben, außer ihr euch selbst.

Und ich bin ganz ehrlich: für mich war es extrem verstörend, als es passierte, als die Frage, diese Bitte kam. Wobei: sie kam natürlich nicht aus dem Nichts! Es gab geteilte Fantasien, Andeutungen, gemeinsames Kopfkino. „Hast du schon mal davon gehört...", „Kennst du dieses Video...", „Es gibt Leute die stehen auf...". Und so weiter. Doch es blieb abstrakt. Bis zu jenem Tag, als sie die Frage stellte:

„Kannst du mich schlagen?"

In der Situation realisierte ich zuerst noch nicht einmal wirklich, was sie mich gerade gefragt hatte. Wir hatten Sex, wilden leidenschaftlichen und immer auch ein bisschen groben Sex, und dann dachte ich mir: Ok, sie möchte gerne einen Schlag auf den Po, oder sogar auf die Wange, vielleicht auch einen etwas härteren Klapps. Das ist ja ziemlich heiß! Und ich tat das, was ich dachte, dass sie sich von mir wünscht. Doch das war es nicht.

„Ich meine richtig schlagen, fester."

Sie sagte es, ohne mir in die Augen zu schauen, ich glaube sie schämte sich dafür.

Ich war irritiert, was meinte sie nun mit „fester". Wie feste denn? Ich war so verwirrt, dass ich sie das sogar fragte, was im Rückblick betrachtet schon ein bisschen peinlich war.

Ich wusste ja, dass sie Kampfsport macht, hatte sie auch schon kämpfen gesehen, im Ring und auf der Straße, und wusste, dass sie einstecken konnte. Aber das war doch etwas Anderes!

Also fasste ich mir ein Herz und probierte es aus. Und schlug sie. Auf die Wange.

Der Schlag schien nachzuhallen wie Donner und sofort wurde ich von Schuldgefühlen überwältigt, wollte ansetzen zu einer Entschuldigung. Doch sie sagte nur:

„Fester."

Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. Sie sagte es nicht, sie hauchte das Wort.

Ich war so verwirrt: „Bist du sicher? Ich will dir nicht weh tun!"

„Du brauchst keine Angst zu haben, du kannst mir nicht weh tun, nicht mit deinen Händen. Schlag mich, bitte."

Und ich tat es. Ein Schlag nach dem anderen traf ihre Wange, jeder fester als der andere, bis es klatschte und sie schrie und ich vor uns selbst erschrak.

Denn mit jedem Schlag spürte ich wie Alisha vor und unter mir mehr zerging, sie zerfloss vor Lust und Verlangen, bis sie mich anschrie, sie jetzt zu ficken... und wir fickten, so wild wie schon seit langer Zeit nicht mehr.

+++

Es war eine verstörende, prägende Erfahrung, bei der ich nicht nur viel über Alisha lernte, sondern auch über mich selbst. Wo ich zuvor niemals auch nur den Gedanken hätte haben können, eine Frau zu schlagen, ein Gedanke der unfassbare Abscheu in mir hervorrief, sah ich mir nun fassungslos selbst dabei zu, wie ich eine Frau nicht nur schlug, sondern sie mich auch noch darum bat. Ich sah mich selbst, wie ich sie schlug, wie sie sich vor Lust meiner Hand entgegenreckte, wie es sie anfeuerte, wie sie danach von einem Orgasmus förmlich zerrissen wurde. Ich war gleichzeitig erschrocken und fasziniert von meiner Hand, die Schmerzen gab, und Lust erntete. Und dass es mir gefiel.

Es war eine Erfahrung, die viele Gedankengänge ins Rollen brachte.

Und es war der Beginn einer neuen Ära in unserer Beziehung, in der etwas, das bislang unausgesprochen im Raum gestanden hatte, endlich offen war. Von diesem Tag an war es plötzlich möglich über Schmerzen zu sprechen, und sie zu erleben, und zu verstehen. Ich lernte, und es war verdammt schmerzhaft, zu erfahren, dass tief in Alisha Abgründe existierten, zu denen sie mir nur langsam und sehr zögerlich Zugang gewährte. Tief in ihrer Seele gab es Wunden, die juckten, und eiterten, und die sie mit den Schmerzen bekämpfen wollte.

Wenn ich sage, dass sie durch die Schmerzen „spüren wollte", dass sie (noch) lebt, klingt es wie ein Klischee. Und ist doch die Wahrheit. Dafür kann ich sie nicht verurteilen. Plötzlich „sah" ich sie, die Wunden auf ihrer Haut, auf ihren Armen und Beinen, die Narben, die Schnitte, die natürlich auch vorher schon da gewesen waren, aber die ich wie so vieles verdrängt hatte. Es war ihre Lebensgeschichte, aus Leiden in die Haut geritzt. Der Schmerz war da, und er brauchte jetzt und hier Linderung. Wer war ich, sie zu verurteilen?

Aber hätte ich ihr nicht viel eher „helfen" sollen? War es nicht eine Form des Missbrauchs, ihr den Wunsch nach Schmerzen zu erfüllen, der ja doch auch Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Selbstzerstörung war? Wenn sie mich um Schmerzen bat -- wer sprach dann zu mir? Eine psychisch kranke junge Frau? Ein Dämon aus den giftigen Tiefen einer verletzten Seele? Ihr „wirkliches" Ich? Und wo verdammt verlief überhaupt die Grenze dazwischen? Ich wusste es nicht. Wie verhielt man sich in einer solchen Situation?

Nach dem ersten Rausch und der Verwirrung, die sich -- da bin ich ganz ehrlich -- schnell in Glück über unsere gesteigerte Intimität aufgelöst hatte, überfielen mich die Zweifel. Ich kam mir schäbig vor. Ich hatte das Gefühl, sie auszunutzen. War es nicht wie bei einem Junkie? Man weiß, der Mensch den man liebt ist abhängig, und er braucht den nächsten Schuss, und wenn er dich anbettelt, dann hast du nur die Wahl zwischen zwei schrecklichen Alternativen, ihn davon zu jagen, damit er irgendwo alleine und ohne dich in der Gosse endet, oder ihm den Schuss hier zu geben, damit er wenigstens unter deinen Augen leidet, und doch für immer für dich verloren ist.

Die Zweifel brachten mich bald an den Punkt, an dem ich Alisha damit konfrontierte, und ihr offenbarte, wie sehr mich die Situation verstörte. Ich erklärte ihr, dass ich, zu meinem Erstaunen und Entsetzen, tatsächlich Erregung und Lust dabei empfinden konnte, ihr Schmerzen zuzufügen. Aber eben nicht, weil ich ein Sadist war, ganz im Gegenteil, sondern weil ich dabei spürte, wie intensiv ihr die Erfahrung der Schmerzen Lust bereitete. Ich sagte es so, und noch heute klingen diese Worte jedes Mal so unglaublich verrückt: „Ich verstehe, dass es eine Form von Liebe ist, wenn ich dir Schmerzen zufüge."

„Und doch", führte ich weiter aus, „kann ich es nicht aus meinem Kopf bekommen, dass ich dir dabei Gewalt antue, dass dein Verlangen nach Schmerzen doch eigentlich die Sehnsucht danach ist, dass die Schmerzen in dir endlich versiegen. Dass du eigentlich versuchst, deine inneren Schmerzen damit zu betäuben, dass du oder ich dir Schmerz von außen zufügen."

Es war dieser Moment, als ich Alisha zum ersten Mal weinen sah.

Und ich weinte mit ihr.

Und verdammt noch mal, ich liebte sie in diesem Moment so sehr wie nie zuvor. Es war kein peinlicher Beschützerinstinkt, der mich mit Empathie überspülte. Es war etwas viel Tieferes, Größeres. Ich hatte in ihr Inneres geschaut, vermutlich als einer der ersten Menschen überhaupt auf dieser Welt, weil sie es zugelassen hatte. Sie hatte sich mir geöffnet, mir ihre wunderschöne, verletzte Seele gezeigt.

Denn das war der Moment der Wahrheit.

+++

In den folgenden Tagen, Wochen erzählte mir Alisha von ihrer Vergangenheit. Nicht zusammenhängend, eher in Fragmenten, mit vielen Pausen, Auslassungen.

Erzählte die Geschichte zu ihren Narben und Wunden.

Ihren gewalttätigen Eltern, Alkoholismus.

Wie sie mit 14 von zuhause abgehauen ist, auf der Straße abhing, Drogen nahm, sich prügelte, selbst einiges abbekam. Wie sie mit 15 von der Polizei eingesammelt wurde, weil sie für ein Tütchen schlechtes Speed einem Typen hinter dem Bahnhof einen runterholte. Die Schläge zuhause. Das Geschrei, das Elend. Das Jugendamt.

Trotzdem hielt sie sich immer noch auf dem Gymnasium. Auch wenn Schule sie nicht interessierte, fiel ihr das Lernen leicht; das, was sie tun musste, tat sie. Ihr Schulalltag bestand dafür immer mehr aus Mobbing, sie war das komische anämische Mädchen, der Freak mit den schwarzen zerrissenen Klamotten, dem bösen Blick.

„Asi Kind" „Psycho Schlampe" „Bahnhofshure" stand an Toilettenwänden und in den hässlichen Fratzen der Bürgerkinder auf ihrer Schule.

Sie wehrte sich auf ihre Weise. Es setzte Schläge, gebrochene Nasen, Blut und Tränen, bis keiner mehr es wagte, sie auch nur anzuschauen. Sie flog von der Schule. Die Schläge zuhause. Das Geschrei, das Elend. Das Jugendamt.

Und es ging immer noch schlimmer. Sie landete auf einem katholischen Mädcheninternat im Rheinland, einer „Institution" für schwierige Fälle. Die Schikanen wurden hier noch schlimmer, erniedrigender, nun nicht nur durch ihre „Mitschülerinnen", sondern auch durch ihre Lehrerinnen, sogenannte „Schwestern", die in Alisha ihre eigene Antithese sahen, jemand der sich nicht beugen wollte, und irgendwie ein komisches Verhältnis zum Teufel zu haben schien.

Als die anderen Schülerinnen schnell merkten, dass Alisha ihnen körperlich überlegen war, begannen sie sich Formen der Marter und Erniedrigung auszudenken, wie sie sich nur pubertierende Mädchen vorstellen können.

Alisha zögerte lange damit, mir die Einzelheiten zu erzählen. Als sie es dann nach und nach tat, wurde ich von einer unfassbaren Traurigkeit erfasst, von glühendem Hass, von einem Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Hier ist noch nicht der Ort und der Moment, diese Dinge zu erzählen, aber nur so viel: Alisha wurde aufs Äußerste schikaniert und gedemütigt, und es brachte sie an den Rand dessen was sie ertragen konnte. Zu Beginn reagierte sie noch auf ihre Weise, mit Gewalt, rastete aus, drohte wohl auch einmal einer Mitschülerin an, sie umzubringen. Doch es endete nur wieder in Disziplinarstrafen, Arresten, mehr Demütigungen. Es gab keinen Ausweg.

Sie richtete den Hass und die Verzweiflung gegen sich selbst, ritzte sich, fügte sich selbst Gewalt und Erniedrigung zu. Sie versank in ihrem Schmerz, in der Hoffnung, darin zu ertrinken, oder zumindest betäubt zu sein.

Was genau ihre Veränderung herbeiführte, ist schwer zu sagen. Sie erzählte mir einmal von einem Schlüsselmoment, einem Moment der Klarheit den sie erlebte, just als sie wieder mit den übelsten Demütigungen durch ihre Mitschülerinnen konfrontiert wurde. Sie beschrieb den Moment als eine Art Katharsis, eine spirituelle Reinigung. Sie hatte zuvor damit begonnen, die Werke von Aleister Crowley zu lesen, wohl mehr um die Schwestern zu provozieren. Was sie aber las, und anfing in ihrem Geist zu durchdenken, war eine Vision von Selbstermächtigung, sich aus dem Schmutz und dem Leid zu erheben, um durch den Schmerz neu geboren zu werden. Stirb und werde. Sie las Nietzsche und erkannte in ihm einen Seelenverwandten, jemand, der das Außenseitertum und den Spott der Masse als Auszeichnung pries, statt als es als Schwäche darzustellen.

In jenem Moment, als sie sich mit dem Versuch ihrer Mitschülerinnen konfrontierte, sie zu erniedrigen, verstand sie die Lektion. Sie verstand, dass die Dinge, mit denen sie Schmerz und Erniedrigung assoziierte, Waffen werden konnten, die sich gegen jene richten, die ihr schaden wollen. Sie verstand, dass sie unbesiegbar werden kann, wenn sie die Kontrolle darüber erhält, was andere als Schmerz und Erniedrigung betrachten.

Und sie übte, und trainierte, und arbeitete an ihrer Seele, um sie zu retten, sie zu polieren, um aus einem rauen Stein einen Diamanten zu machen. Sie wurde eine wahre Tochter der Flammen.

Wenn sie nun gequält wurde, löste sie sich aus ihrem Körper, während sie gleichzeitig ihre Rache plante. Sie lernte, sich zu fokussieren. Ihren Körper zu stählen, durch Kampfsport und okkulte Philosophie. Sie lernte, ihren Körper wieder zu spüren, sich wieder ans Leben zu klammern. Sie lernte, ihre Ausbrüche unter Kontrolle zu bekommen. Sie fasste es als ihr oberstes Ziel, ihr Abitur zu machen und dann der Institution, ihrer Familie, der Kirche und der Gesellschaft, die all das hervorgebracht hatte, den Rücken zu kehren. Nicht um zu fliehen, sondern um einen Weg zu gehen, der sie unabhängig von all diesem machte.

Es war in dieser Zeit, dass sie mich kontaktierte, und wir uns kennenlernten. Aus Gründen, und auf eine Weise, die ich ebenfalls bei anderer Gelegenheit erzählen werde.

Es war der Beginn einer verrückten, wunderbaren, aber manchmal auch schrecklichen Freundschaft, einer amour fou ohne doppelten Boden. Wir glühten füreinander, brannten gemeinsam, verloren uns wieder, „versöhnten" uns, und lagen eines Tages gemeinsam im Bett, als sie mich bat, sie zu schlagen.

+++

Heute, im Rückblick, habe ich es verstanden. Habe ich ihre Philosophie verstanden.

Ihr ging es bei allem nur um eine Sache: sie war kein Opfer.

Wenn sie mich, oder jemand anderen bat, sie zu schlagen, dann sprach aus ihr kein Opfer. Sondern eine Frau, die selbstbewusst das einforderte, was ihr Lust bereitete. Weil sie wusste, dass die Schmerzen, die ihr diese Lust bereiten, mit einer Welt zusammenhängen, die die meisten anderen Menschen nicht verstehen werden. Ihre Welt, aus Schmerzen geboren. Aus den Schmerzen, zu Licht geworden.

Wenn Leute ihr sagten, dass sie doch krank sei, gar eine Therapie machen solle... Als ob sie nicht schon in Behandlung gewesen war! Ein Problemfall. Ein Fall. Fall.

Nicht, dass eine Therapie nicht manchen Leuten helfen kann. Aber natürlich kann man einen Menschen nicht einfach so „reparieren".

Das hat sie selbst realisiert. Und verstanden, dass die einzige, die ihr Heilung bringen kann, sie selbst ist. Ihre Konfrontation mit dem Schmerz, und der Erniedrigung, ist ihre Art des Exorzismus. Sie weiß selbst, dass sie die Schmerzen, die sie in sich trägt, nicht einfach ablegen kann. Aber zumindest versuchen kann, einen Umgang damit zu finden. Wo die Schmerzen sie nicht mehr kontrollieren, sondern umgekehrt, sie die Schmerzen kontrolliert. Wo sie Schmerzen nicht mehr braucht, um glücklich sein zu können, aber eben auch durch Schmerzen glücklich sein kann. Ohne sich dafür schämen zu müssen. Weil sie es gelernt hat, weil es ihre Art ist, sich selbst zu fühlen, sich zu heilen.

Wer darin nur die Härte sieht, das Abhärten, den pathologischen „Fall", der übersieht, welchen Einfluss der Schmerz und das Leiden an der Welt auf ihre Seele genommen haben. Indem sie sich der Schmerzen selbst ermächtigte, gewann sie die Kontrolle über ihr Leben zurück, um die Dämonen zu bannen, um zu wachsen und stärker zu werden. Immer stärker. Unbesiegbar.

Und es war in diesem Moment, dass ich verstand, was für ein unglaubliches Glück und Privileg ich hatte, sie auf diesem Weg begleiten zu dürfen. Und dass es der größte Liebesbeweis überhaupt war, sie dafür zu respektieren, nicht trotz, sondern gerade wegen all der Narben und Verletzungen, die sie zu jenem Menschen machten, der sie nun ist.

//Fortsetzung folgt.//

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Anonymous
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2 Kommentare
AnonymousAnonymvor mehr als 2 Jahren

Frei nach Nietzsche: kein Mensch strebt nach dem Glück. Nur die Engländer tun dies.

witikowitikovor mehr als 4 Jahren
Großartig

Das ist sensationell gut geschrieben. Chapeau!

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