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Argonauta Kapitel 03-07

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„Ich bin bi", erklärte sie, „aber momentan bin ich nicht auf der Suche."

„Warum nicht?"

„Es ist kompliziert."

„Ist es das nicht immer?"

„Mhm ... wahrscheinlich nicht. Vielleicht machen wir es uns nur kompliziert."

„Gab es denn noch keinen oder keine, die dich interessiert hätten?"

„Doch, den gab es. Aber das ist schon länger her."

„Was ist passiert?"

„Das ist eine lange Geschichte. Aber ich möchte nicht darüber reden."

Peinliche Stille erfüllte plötzlich den Raum. Verlegen verlagerte Fisher sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Es war mehr als offensichtlich, dass Julia nicht über ihre Vergangenheit sprechen wollte und Fisher wollte keinesfalls respektlos erscheinen und nachbohren. „Ah, hier ist es ja", sagte er laut und überspielte damit den abrupten Gesprächsabbruch. „Hier, bitte sehr, einmal das australische Nationalgericht für die junge Dame."

Fisher stellte einen Teller, ein Messer und eine halbvolle Packung Sandwichscheiben auf den Tisch. Dazu gesellte er ein Glas mit einer undefinierbaren dunkelbraunen Masse.

„Ist das dein Ernst?", fragte Julia ungläubig. „Das soll Australiens nationale Köstlichkeit sein?

Argwöhnisch begutachtete sie das nicht gerade feudale Mahl.

„Julia, das ist mein voller Ernst. Glaub mir, wir Australier verstehen wenig Spaß, wenn es um unser Nationalheiligtum geht."

„Schon klar", entgegnete Julia skeptisch und verdrehte die Augen. Kritisch öffnete sie den Schraubverschluss des Glases und roch vorsichtig an dessen undefinierbarem Inhalt.

„Igitt", sagte sie naserümpfend, „was, zum Teufel, ist das?"

„Vegemite", antwortete Fisher mit stolzgeschwellter Brust.

„Bitte, was?"

„Das ist Vegemite, ein Brotaufstrich aus Hefeextrakt. Reich an Aminosäuren und B-Vitaminen. Wir Australier lieben dieses Zeug. Wenn ich für längere Zeit im Ausland unterwegs bin, achte ich darauf, immer zwei, drei Gläser davon einzupacken, weil man es außerhalb Australiens leider nur schwer kriegt."

„Und das findet ihr Aussies wirklich richtig lecker?"

„Klar. Du musst es einfach probieren."

Julia nahm eines der Brote und ein Messer und ließ etwas von der undefinierbaren Masse auf den Toast tropfen. Es erinnerte sie von der Farbe her an den eingedickten Zuckerrübensirup, den ihre Großmutter früher immer gern zum Frühstück gegessen hatte, aber es roch ganz und gar nicht nach süßem Sirup.

„Nur zu", sagte Fisher aufmunternd.

„Also schön, du hast es so gewollt", kommentierte Julia. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete den Mund und biss ein winzig kleines Stück von der bestrichenen Brotscheibe ab. Dann begann sie zu kauen und musste feststellen, dass der Geschmack zwar ganz anders als erwartet, aber gar nicht einmal so übel war. Die Masse schmeckte überraschend würzig, salzig und hatte eine leicht bittere Note, im Grunde genommen schmeckte es so ähnlich wie diese Brühwürfel, mit denen man Suppen verfeinern konnte. Als Belag für das Frühstücksbrot war Vegemite Julias Einschätzung nach aber ungeeignet.

„Und?", fragte Fisher neugierig, „wie schmeckt es dir?"

Julia schluckte den Bissen höflich herunter und antwortete dann: „Gewöhnungsbedürftig, aber man kann's essen. Auf mein Marmeladenbrötchen will ich aber trotzdem nicht verzichten."

„Typisch Europäer", sagte Fisher und streckte die Zunge heraus, „keine Ahnung vom Essen."

„He", protestierte Julia, „warte erst mal ab, bis du meine legendäre Kirschkonfitüre mit Schokolade und Kirschwasser probiert hast -- danach wirst du euer komisches Vegemite nicht mal mehr zum Toilettenreinigen verwenden wollen."

„Vorsicht, ganz dünnes Eis, Fräulein Adler", entgegnete Fisher gespielt beleidigt „wer unser Vegemite beleidigt, mit dem veranstalten wir ein ordentliches Kielholen."

„He, ihr zwei", flötete es unvermittelt fröhlich. Melina war zurückgekehrt, in den Armen trug sie einen dicken Stapel verschiedenster Bücher über Meeresvögel. Das meiste davon schienen Feldführer zu sein, eines davon, so schien es Julia, beschäftigte sich wohl damit, wie man Vogelarten anhand der Schale ihrer Eier bestimmen konnte.

„Verdammt, sind die schwer", keuchte Melina angestrengt.

„Soll ich dir helfen?", fragte Julia und sprang flink auf, um Melina einen Teil der Bücher abzunehmen.

„Danke, sehr lieb von dir", antwortete Melina. Ihr Blick fiel auf den eingedeckten Tisch.

„Ach", sagte sie mit einem verschmitzten Grinsen, „hat er dich etwa auch dazu gezwungen, sein ach so tolles Nationalgericht zu kosten?"

„Erraten", sagte Julia und stöhnte dabei auf.

„Ich dachte eigentlich, wir essen was Richtiges", sagte Melina enttäuscht.

„Vegemite ist etwas Richtiges", beharrte Fisher.

„Na, wenn du es sagst", antwortete Melina und nahm neben Julia Platz. „Ich krieg das Zeug jedenfalls nicht runter. Davon dreht sich mir der Magen um."

„Etwas anderes war grad nicht da", sagte Fisher trotzig, fast wie ein kleines Kind.

„Na, zum Glück", antwortete Melina grinsend, „hatte ich so eine Ahnung und habe uns deshalb was vom Chinesen mitgebracht."

„Danke, du bist meine Rettung", antwortete Julia.

Melina sprang noch einmal auf und kam kurz darauf mit einer Tüte zurück, aus der es herrlich duftete.

„Also, wer hat Hunger?"

„Ich!", rief Julia laut und erntete dabei von Fisher einen beleidigten Blick.

„Hier", sagte Melina, reichte Julia eine Tüte. „Gebratener Reis mit Entenfleisch ist hoffentlich in Ordnung?"

„Klar", antwortete Julia überglücklich. Sie beugte sich leise zu Melina herüber und flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr: „Jedenfalls besser als Vegemite."

Melina griff sich eine zweite Box, in der sich ebenfalls gebratener Reis mit Entenfleisch befand. Damit war nur noch eine Box mit Essen in dem durchsichtigen Plastikbeutel, doch Fisher machte keine Anstalten danach zu greifen. Sein Stolz war scheinbar größer als sein Hunger.

„Was ist mit dir?", fragte Melina, „keinen Hunger?"

„Nein, danke", entgegnete Fisher, „da niemand mein Vegemite will ... umso besser, bleibt mehr für mich."

„Prima", sagte Melina frech, „dann können Julia und ich uns die dritte Portion ja teilen, wenn du sie verschmähst."

„Nur zu!"

Während die drei es sich schmecken ließen, polterte es plötzlich laut. Eine tiefe Stimme brummte laut und stieß heftige Flüche aus.

„Verdammte Scheiße", sagte ein Mann und trat in den Aufenthaltsraum. Er war groß, ja geradezu riesengroß, von schlanker Statur und hatte eine markante Adlernase. Julia schätzte ihn spontan auf Mitte oder Ende dreißig.

„Darf ich vorstellen?", sagte Fisher, „das ist Stewart Meyer, unser Chief an Bord."

„Hi", sagte Julia höflich. Stewart entgegnete den Gruß eher beiläufig und rieb sich die fliehende Stirn. „Ich bin einfach viel zu riesig für diesen Pott!", schimpfte er, „hab' mich schon wieder an dem beschissenen Schott gestoßen. Irgendwann krieg' ich eine Gehirnerschütterung, ich schwör's euch!"

Unglücklich dreinblickend setzte Meyer sich an den Tisch. Er musterte die unangerührte Packung mit dem asiatischen Essen und fragte in die Runde: „Darf ich?"

Melina zuckte mit den Schultern. „War eigentlich für den großen Meister zu meiner Rechten gedacht, aber David schmollt mal wieder. Bedien' dich ruhig."

„Danke", antwortete Meyer grinsend. „Ich verhungere fast. War ziemlich anstrengend, aber wir sind jetzt fertig mit dem ROV."

Julia erkannte nun, dass Meyer einer der Männer gewesen war, die im Hangar beschäftigt gewesen waren.

„Dann funktioniert er jetzt?", fragte Fisher.

„Einwandfrei."

„Wenn das so ist, dann iss, du hast es dir verdient."

Fisher wandte sich an Julia: „Der liebe Stew kümmert sich darum, dass alle Maschinen tadellos laufen. Er ist sozusagen der Herr des Maschinenraums und kennt das Boot bis ins kleinste Detail."

„Das kannst du laut sagen", sagte Stewart breit grinsend. Dann wandte er sich neugierig an Julia: „Du bist also die Neue, was?"

Kopfnickend antwortete Julia: „Sieht so aus, ja."

„Dann sei mal unbesorgt. Solange ich an Bord bin, kann dem Kahn nichts passieren."

„Das beruhigt mich ungemein", sagte Julia.

„Stew hat recht", antwortete Fisher, „er kriegt so ziemlich alles repariert. Ohne ihn wären wir echt schon manchmal ziemlich aufgeschmissen gewesen."

„Und was treibt dich an Bord unseres schönen Schiffes?", fragte Stewart neugierig.

„Ja, erzähl uns mal von deinem Forschungsprojekt", forderte Melina neugierig die junge rothaarige Doktorandin auf.

Julia stopfte sich gerade ein Stück Entenfleisch in den Mund, kaute es genüsslich und antwortete dann: „Ich will beweisen, dass Buckelwale eine Kultur haben."

„Wie bitte?", fragte Stewart und glaubte, sich verhört zu haben. „Wale sollen kultiviert sein? Das glaube ich nicht!", sagte der Chefingenieur und stopfte sich den Mund voll mit chinesischem Essen.

„Warum nicht? Was ist so schwer daran zu glauben?", konterte das sommersprossige Mädchen.

„Na, komm schon. Tiere und Kultur? Echt jetzt? Soweit ich weiß, ist der Mensch das einzige Lebewesen auf Erden, das kultiviert ist." Stew schluckte und dann entwich ihm ein leiser Rülpser.

„Die meisten von uns jedenfalls", sagte Melina kichernd.

„Tischmanieren gehören jedenfalls nicht zu den Qualitäten unseres Chiefs", sagte Fisher grinsend.

„'Tschuldigung", nuschelte Stewart und fuhr dann fort: „Aber jetzt mal ehrlich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Tiere eine Kultur entwickeln können."

„Was ist denn für dich Kultur?", fragte Julia.

„Na, Riten und Gebräuche einer Gesellschaft sind Teil ihrer Kultur. Eine gemeinsame Sprache. Oder Kunst und Musik. Und natürlich Erfindungen -- der technische Fortschritt. Das Rad zum Beispiel. Das sind doch alles Dinge, die nur wir Menschen hervorgebracht haben."

„Und wenn ich dir verrate, dass es für all diese Dinge mindestens eine Entsprechung bei nichtmenschlichen Tieren gibt?"

„Das glaube ich nicht."

„Es ist aber so. Nimm Musik als Beispiel. Singvögel produzieren die wunderbarsten Melodien. Natürlich, um damit die Weibchen zu beeindrucken und nicht, um Konzertsäle damit zu füllen." Julia grinste.

„Das ist bei uns Menschen nicht anders", antwortete Melina grinsend, „ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mein erster Freund mich damit rumgekriegt hat, dass er ein Lied auf seiner Gitarre für mich komponiert hat."

„Jedenfalls", fuhr Julia fort, haben die Gesänge von Vögeln selbst große Komponisten nachhaltig beeinflusst. Wolfgang Amadeus Mozart hielt sich einige Jahre lang einen Star namens ‚Stahrl'. Der konnte nicht nur bald schon Mozarts Kompositionen nachpfeifen, sondern soll sogar selbst Inspiration für Mozarts Stück „Musikalischer Spaß" gewesen sein. Nach Stahrls Tod war Mozart so traurig, dass er seinem gefiederten Freund eine richtige Beerdigung spendiert hat und ihm sogar ein eigenes kleines Verslein gedichtet hat."

„Aber das ist etwas Anderes", beharrte Stewart, „Vögel folgen nur ihrem natürlichen Instinkt. Soweit ich weiß, ist ihnen der Gesang genetisch eingeprägt."

„Guter Einwand. Der Vogelgesang ist in der Tat genetisch geprägt", räumte Julia ein. „Siehst du, wo sollte dann die kulturelle Leistung sein?"

„Aber", fuhr Julia fort, „jedes Verhalten ist zum Teil genetisch geprägt. Wir Menschen stellen da übrigens gar keine Ausnahme dar. Auch unsere manchmal höchst absonderlichen Verhaltensweisen haben alle eine genetische Basis. Ein Fundament, wenn man so will. Ein Fundament allein ergibt aber noch lange kein Haus."

„Wie meinst du das?"

„Dass es mehr als nur eines genetischen Programms bedarf, um Verhalten erklären zu können."

„Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst", sagte Stewart.

Julia überlegte kurz. Dann sagte sie: „Okay, versuchen wir es mal mit einem Beispiel. Wie du sicher weißt, gibt es heute Schachcomputer, die jeden menschlichen Großmeister schlagen können, richtig?"

„Ich schätze schon, ja."

„Gut. Was meinst du, wie sieht wohl der Algorithmus für so ein Schachprogramm aus? Also welchen genetischen Code hat wohl so ein Schach-PC?"

„Na ja", sagte Stewart nachdenklich. Er blickte in drei gespannte Gesichter. Etwas hilflos blickte er Fisher an, doch der hielt sich zurück und schmunzelte leicht. Er warf Julia einen belustigten Blick zu. Dann antwortete Stewart: „Na, ich schätze mal, dass der Algorithmus einfach jeden einzelnen Zug genauestens im Voraus berechnet und somit vorhersehen kann, welchen Zug der Gegner als nächstes machen wird."

„Nette Idee", sagte Julia, „leider aber technisch nicht möglich. Schon nach vierzig Zügen kann eine Schachpartie zwischen 10115 und 10120 verschiedene Spielverläufe nehmen. 10120 -- das ist eine eins mit einhundertzwanzig Nullen hinten dran. Damit gibt es mehr verschiedene Spielverläufe beim Schach als es Atome im Weltraum gibt, deren Zahl wird nämlich nur auf irgendwas zwischen1084 und 1089 geschätzt. Das bedeutet, dass ein Computer gar nicht jeden einzelnen Zug detailliert berechnen kann. Wenn man einen Schachalgorithmus basteln will, geht man deshalb ganz anders vor. Man programmiert dem Computer erst einmal natürlich die Grundregeln ein. Welche Figur am Anfang wo steht, welche Züge sie machen kann. Und dann pflanzt man dem Programm einige grundlegende Befehle ein, zum Beispiel Lass nie und nimmer deinen König ungeschützt."

„Und das soll reichen?"

„Das reicht. Denn alles andere bewerkstelligt der Computer ganz von allein durch Versuch und Irrtum. Der Computer macht seine eigenen Erfahrungen. Wenn er verliert, „weiß" er, dass die Strategie nicht funktioniert hat und wird in einer neuen Runde etwas Anderes probieren. So wird der Computer mit jeder weiteren Partie immer besser. Mit anderen Worten, er lernt dazu. Wie sich ein Schach-Computer verhält, hängt also nicht nur davon ab, welche Instinkte man ihm vorher einprogrammiert hat, sondern auch maßgeblich davon, welche Erfahrungen der Computer gemacht hat."

„Und was für Computerprogramme gilt, das gilt auch für Lebewesen, stimmt's?", fragte Melina.

„Genau. Wie wir uns verhalten, wird uns von den Genen nicht bloß aufgezwungen, sondern es wird von der Umwelt beeinflusst. Mit wem wir aufwachsen, welche Erfahrungen wir im Lauf unseres Lebens machen, welche Schulbildung wir genossen haben und so weiter. All das beeinflusst unser Tun und Handeln. Die Umwelt prägt unser Verhalten damit genauso wie die Gene. Wenn wir Verhalten erklären wollen, müssen wir begreifen, dass nicht gilt nature or nurture, sondern nature and nurture. Um auf die Vögel zurück zu kommen. Der Vogelgesang mag in Teilen angeboren worden sein. Wie ein Vogel aber wirklich singt, hängt von seiner Umwelt ab. Es hängt zum Beispiel davon ab, auf welche Weise seine Eltern singen und mit welchem Dialekt sie das tun. Viele Vögel modifizieren ihren Gesang, indem sie Geräusche aus ihrer Umwelt einbauen. Kennst du den Leierschwanz?"

„Schon mal gehört", sagte Stewart, „das ist doch ein australischer Singvogel, oder?"

„Ja. Er ist dafür bekannt, dass er alle möglichen Geräusche in seinen Balzgesang einbaut, die er in seiner Umwelt aufgeschnappt hat. Manche Leierschwanzmännchen imitieren zum Beispiel das knatternde Geräusch von Motorsägen oder den Auslöser einer Fotokamera. Das sind allesamt Geräusche, die es erst seit so kurzer Zeit gibt, dass sie dem Leierschwanz nie und nimmer genetisch in seinen Gesang eingeprägt sein können."

„Okay, okay", gab der Chief zu, „Tiere handeln nicht nur instinktgesteuert, ich hab's verstanden."

„Gut. Dann kehren wir noch mal zu meiner Frage vorhin zurück -- was ist Kultur? Du hast mir vorhin viele Dinge aufgezählt, die ganz ohne Zweifel Bestandteil unserer Kultur sind. Aber du bist mir noch eine einfache und allgemeingültige Definition schuldig", sagte Julia herausfordernd.

„Wie meinst du das?", fragte Stewart verwirrt.

„Ganz einfach. Wir neigen dazu, Kultur nur als das zu definieren, was unserer eigenen Kultur entspricht. In unserem anthropozentrischen Weltbild übersehen wir aber, dass Kultur auch ganz andere Erscheinungsformen annehmen kann."

„Als sich vor rund elftausend Jahren im Bereich des fruchtbaren Halbmonds im heutigen Nahen Osten Ackerbau und Viehzucht entwickelten und sich diese Traditionen nach und nach in Europa ausbreiteten", sagte Fisher, „führte das zu einer der wahrscheinlich größten und bedeutendsten kulturellen Revolutionen. Erst das Sesshaftwerden ermöglichte das Errichten der ersten Städte. Die ersten Hochkulturen entstanden, etwa in Babylonien und in Ägypten, später in Griechenland. Aber nur weil Ackerbau und Viehzucht zu einem besonders wichtigen Bestandteil unserer Kultur geworden sind, gilt das nicht zwangsläufig für alle Bevölkerungsgruppen. Es gibt genug Beispiele dafür, dass es sehr viele menschliche Kulturen gibt, die hervorragend ohne Ackerbau und Viehzucht auskommen. Die San in Südafrika, viele Indianerstämme in Nordamerika wie die Apachen, die Aborigine-Stämme in Australien -- sie alle lebten traditionell als Jäger und Sammler. Das Anbauen von Feldfrüchten und die Viehzucht waren nie Bestandteil ihrer traditionellen Kultur. Dennoch haben sie alle ihre ganz eigene Form von Kultur hervorgebracht. Unterschiedliche Sprachen, Religionen und Schöpfungsmythen."

Julia sagte: „Die kulturellen Unterschiede nahmen die europäischen Siedler zum Anlass, nur ihre eigene Lebensweise als zivilisiert zu betrachten. Ethnien, die anders lebten, waren in ihren Augen nichts als minderwertige Wilde und das rechtfertigte einige der schlimmsten Verbrechen, die man je in der Menschheitsgeschichte begangen hat. Überall, wo die Europäer ankamen, wurde die indigene Bevölkerung systematisch unterdrückt, versklavt und ermordet und das nur, weil die weißen Siedler davon überzeugt waren, nur sie wären die einzig kultivierten Menschen. Manche sind sogar heute noch überzeugt davon, sie würden einer besseren Menschenrasse angehören als andere und rechtfertigen mit ihrer blinden und fehlgeleiteten Ideologie grauenhafte antisemitische Angriffe, ausländerfeindliche Hetze oder Attacken auf Menschen anderer Religionszugehörigkeit."

„Wenn wir Kultur im Tierreich erforschen wollen", sagte der Professor, „müssen wir uns von unserer eigenen anthropozentrischen Sichtweise verabschieden und in Betracht ziehen, dass tierische Kulturen nicht zwangsläufig menschenähnlich sein müssen und wir müssen uns um eine viel allgemeinere Definition bemühen."

„Okay. Das leuchtet mir ein", antwortete der Chefmaschinist. „Aber was ist Kultur dann?"

„In der einfachsten Definition ist Kultur all das, was Lebewesen von Generation zu Generation auf nichtgenetischem Weg weitergebe und was dabei nicht als bloße Anpassung an die jeweils herrschende Umwelt interpretiert werden kann. Traditionen, die über viele Generationen hinweg überliefert werden, aber nicht in den Genen geschrieben stehen", antwortete Julia.

„Und Wale haben solche Traditionen?", fragte Stewart interessiert.

„Die haben sie in der Tat", antwortete Julia mit einem Kopfnicken. „Wale sind hochsoziale Tiere, die in Gruppen leben, den so genannten Schulen. Ihr Überleben hängt maßgeblich von ihrer Gesellschaft ab und die einzelnen Schulen haben unterschiedliche und gruppenspezifische Laute, so genannte Codas, entwickelt, die nur sie verwenden und keine andere Walschule."

„Wir glauben", sagte der Professor, „dass die Codas eine Art Erkennungszeichen sind."

„Das ist ja schön und gut, aber woher wisst ihr, dass die Laute eine Tradition sind und nicht genetisch vererbt werden?"

„Weil die Wale die Laute erst lernen müssen", sagte Julia. „Sie beherrschen sie nicht von Geburt an, sondern erlernen sie, indem sie die anderen Gruppenmitglieder nachahmen. Aber nicht nur das, beinahe alles, was ein Wal zum Überleben drauf haben muss, muss er erst lernen. Jagen, Kommunizieren, sogar das Tauchen. Bis beispielsweise ein Pottwal sich bei den anderen abgeschaut hat, wie man richtig taucht und es selbst kann, vergehen gut und gerne drei lange Jahre."