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Das Wiedererwachen einer alten und einer neuen Liebe.
22.5k Wörter
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Wieder Regen. Es war zum Haare ausraufen. Mein Hobby, das ich vor circa einem Jahr begonnen hatte, nämlich die Astrofotografie, entwickelte sich zu einer Quelle ständiger Frustration.

Zunächst dauerte es Ewigkeiten, bis alle notwendigen Komponenten nicht nur angeschafft, sondern aufeinander abgestimmt waren. Ich mit der Technik zurechtkam, den Computerprogrammen, der Nachführung, Guiding, genauen Polausrichtung, Scharfstellen, dem Filterrad. Die Nachbearbeitung auf dem Computer halbwegs beherrschte.

Wirklich interessante und lichtschwache Objekte, die hinterher auf Fotos so spektakulär aussehen, wie Galaxien oder planetarische Nebel, lassen sich nämlich nicht einfach so knipsen. Man macht hunderte von Einzelaufnahmen, die dann später in speziellen Computerprogrammen zusammengefügt werden.

Oft kam ich auf Gesamtbelichtungszeiten von über zwanzig Stunden, also fotografierte dasselbe Objekt mehrere Nächte hintereinander. Wenn das Wetter mitspielte. Das tat es leider meistens nicht.

Die wenigen wirklich klaren Nächte durften nämlich eines nicht haben: Einen Himmel, der vom Mond erhellt wurde. Gemeinerweise tut er das am liebsten bei klarem Himmel.

Das ist dann zu hell für diese Objekte. In den Sommermonaten wird es gar nicht richtig dunkel, man kommt aus der sogenannten astronomischen Dämmerung nicht mehr heraus. Auch da nutzt einem der oft klare Himmel nichts.

Nun war es endlich September, der Himmel wieder dunkel genug und Regen, Regen, Regen. Eine neue, empfindlichere Kamera, vor zwei Monaten angeschafft, nicht einmal ausprobiert. Nächste Woche eventuell klare Nächte. Die Wetterfrösche änderten die Vorhersagen zu oft. Verlassen konnte man sich auf nichts. Außer der Frustration.

Ich erfüllte mir damit einen Kindheitstraum. Als Junge hatte ich ein einfaches Teleskop bekommen, mit dem ich nächtelang mit großer Begeisterung, aber eigentlich gar nicht so großen Ergebnissen den Himmel beobachtet hatte. Später sparte ich bei meinem ersten gutbezahlten Job auf ein richtig gutes Teleskop.

Als ich das Geld fast zusammen hatte, bot mir ein Kollege seine Wohnung als Nachmieter an. Ich war vierundzwanzig und es war eigentlich längst Zeit gewesen, von zuhause auszuziehen. Also ging das Geld für eine Wohnungseinrichtung drauf.

Und es passierte so viel in meinem Leben danach, kamen andere Interessen, Kosten und Verpflichtungen auf mich zu, dass ich diesen Traum nicht nur begrub, sondern vergaß.

Nun, Mitte fünfzig und langsam nach bewegtem Leben zur Ruhe gekommen, stieß ich bei Ebay-Kleinanzeigen durch Zufall auf genau das Modell, auf das ich damals gespart hatte. Es war zudem ein Schnäppchen.

Die Freude groß, die ersten Beobachtungsabende aufregend. Und frustrierend. Von meinem Berliner Balkon aus sah man zwar Planeten und den Mond ganz gut. Aber die wirklich interessanten Objekte nur als kleine, verwaschene Flecken im Okular, wenn überhaupt.

Daher die Astrofotografie. Ein Kamerachip kann bei entsprechenden Belichtungszeiten ein vieltausendfaches mehr als das menschliche Auge an Licht aufnehmen. Und trotz der extremen Lichtverschmutzung der Großstadt sah ich nun die Dinge, von denen ich immer geträumt hatte.

Wenn das Wetter mitspielte. In dieser Woche war nicht mehr daran zu denken. Es klingelte an der Tür. Sowas, ich hatte doch nichts Neues bestellt? Besucher erwartete ich nicht.

Ich lebte ein ruhiges, zurückgezogenes Leben, arbeitete als Übersetzer im Homeoffice, hatte zu den meisten meiner Freunde den Kontakt verloren, ging eigentlich nur noch zum Einkaufen und anderen Notwendigkeiten des Lebens nach draußen.

Helge. Mein Gott, wie lange hatte ich den nicht mehr gesehen? Verblüffte drückte ich die Freigabe und erwartete seine Ankunft. Helge, der Bassist meiner ehemaligen Band. Ein paar Jahre jünger als ich; die langen Haare hatte er immer noch, nun mit etlichem Grau durchzogen und zum Pferdeschwanz zurückgebunden. Blast from the past.

"Hey Alter, das gibt's doch gar nicht. Was machst du denn hier? Wie hast du mich überhaupt gefunden?", begrüßte ich ihn und bot ihm einen Platz an.

"Das war schwer genug, Mann. Du bist echt abgetaucht, oder? Hättest dich ruhig mal melden können, oder was."

Ja, ich war nicht gut darin, Kontakte aufrechtzuerhalten. Und unsere gemeinsame Zeit in der Band lag auch fast fünfundzwanzig Jahre zurück. So, wie er aussah, hatte er sich nicht aus dem Musikgeschäft zurückgezogen.

Ich machte uns einen Kaffee, während er mein Teleskop bewunderte.

"Das ist ja ein Hammerteil. Und was machst du damit? Geile Frauen anspannen oder was? Da siehst du doch bestimmt jedes einzelne Schamhaar deiner geilen Nachbarinnen."

"Du Vogel, immer noch nur Sex and Drugs and Rock'n'Roll im Kopp, was? Du wirst echt nie erwachsen. Aber nein, ich fotografiere Galaxien, Nebel und sowas. Wenn das scheiß Wetter es mal zulässt, heißt das. Nimmst du Milch? Habe ich vergessen. Alles schon büschen her, wa?"

"Nee, Zucker. Hast du Zucker?"

"Stimmt, du warst immer schon pervers. Jetzt fällt's mir wieder ein. Ja, irgendwo hab ich welchen. Moment."

Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er ebenfalls in Berlin lebte. Wir kamen beide ursprünglich aus Hannover, wo unsere Band mal eine lokale Größe gewesen war. Wir lange dem tatsächlichen Durchbruch nachgejagt waren. Und als wir an dessen Schwelle standen...

"Was machst du denn hier? Du lebst jetzt auch in Berlin? Seit wann denn?"

Helge rührte tatsächlich fünf Löffel Zucker in seinen Kaffee. Ich verzog mein Gesicht. Das war damals wie heute abartig.

"Schon zehn Jahre, Alter. Der Musi wegen, was sonst. Verschiedene Projekte, eine ganze Zeit Studiomusiker, aber das war zu ätzend. Keine Lust mehr, Jingles für MacDonalds aufzunehmen. Back to the roots, Mann. Ich bin wieder in einer guten Band. Einer mit echtem Potential."

"Das freut mich. Ich hab seit damals kein Instrument mehr angefasst. Obwohl die Möglichkeiten hier natürlich andere sind."

"Aber deine Klampfe hast du noch?"

Hm. Was wurde das? Die Frage hatte eine besondere Bedeutung, das war klar. Was wollte er hier, von mir?

"Ja, ich habe sie noch. Kann sein, dass sie mittlerweile nicht mal mehr bundrein ist, keine Ahnung. Was führt dich zu mir? Jetzt, nachdem du schon zehn Jahre hier bist? Und woher hast du meine Adresse? Ich stehe nicht im Telefonbuch."

"Ja, das war eine scheiß Detektivarbeit, darauf kannst du einen lassen. Am Ende habe ich Ralle ausfindig gemacht. Und der hatte sie."

Ralf, mein sechs Jahre älterer Bruder. Der immer noch in Hannover lebte. Den hatte ich auch schon fünf Jahre nicht mehr gesehen, aber wir schickten uns jedes Jahr zum Geburtstag gegenseitig eine Karte.

"Okay. Und warum?"

"Ich habe diese Band. Geiler Drummer, guter Gitarrist, der Keyboarder so lala, aber für die Musi, die wir machen, reicht's. Vier Jahre nur Dreck, kleine Gigs, die nirgendwohin führten, das alte Problem."

Das alte Problem. Einen Sänger oder eine Sängerin zu finden, mit einer Stimme, die die Leute nicht aus den Konzertsälen trieb. Du konntest noch so gute Musik machen, ohne guten Sänger hattest du schlechte Karten.

Erst gegen Ende unserer gemeinsamen Karriere hatten wir einen Sänger gehabt, der gut genug war, um eine erste Platte aufzunehmen. Bis dann aus anderen Gründen mein Leben, meine Träume und meine Band zerplatzten, an dunkelster Realität zerschellten.

"Das alte Problem... so, wie du jetzt grinst, würde ich sagen, ihr habt es nicht mehr."

Er wippte bestätigend und aufgeregt vor und zurück. Genau wie beim Bass-Spielen.

"Ja, Mann. Wir haben die Stimme. Die gottverdammte, wahnsinnige, fantastische, geile, absolute Mega-Stimme. Eine Frau, eine Tusse aus den Staaten, Carol."

"Glückwunsch. Na, dann geht jetzt die Post richtig ab?"

Er seufzte und drehte sich eine Zigarette. Das sah nicht nach Durchbruch aus. Ich hatte mir das Rauchen schon vor zehn Jahren abgewöhnt, besorgte ihm schnell einen Aschenbecher und öffnete die Balkontür.

"Hä? Du rauchst nicht mehr?", gab er seiner Verblüffung Ausdruck.

"Nee, aber ist okay, du kannst hier drin rauchen. Also? Das Problem? Ich rieche ein Problem?"

"Ja, Alter. Das Problem ist, dass sie zu gut für uns ist. Dass die Songs, die wir geschrieben haben einfach nicht gut genug sind. Ich war ja nie so der Komponist, das machen bei uns Lippe, das ist der Gitarrist und David, das ist der Keyboarder, auch 'n Ami."

Hm. Das war ein Dilemma. Und was hatte ich damit zu tun?

"Sie sagt nichts, singt den Scheiß, den wir schreiben, aber lässt uns fühlen, dass es nicht gut genug ist. Und sie sich bald absetzt, wenn sich das nicht ändert."

"Das ist natürlich blöd."

"Das ist mehr als nur blöd. Ich bin fünfzig, Alter, was glaubst du, wie viele Gelegenheiten wie diese ich noch hab? Und es ist eine verdammte Gelegenheit, verflucht. Sie hat eine Stimme, die dir eine Gänsehaut macht, eine Bandbreite, die es eigentlich gar nicht geben dürfte."

Aha. Und nun? Was hab ich damit zu tun?

Er wippte weiter vor sich hin, drückte seine stinkende Zigarette aus und sah mich fest an.

"Nach einer der letzten Proben habe ich sie im Auto mitgenommen. Es ist ganz schwer zu sehen, was sie denkt und fühlt, aber an dem Abend schien sie kurz davor, in den Sack zu hauen. Sie spricht sehr gut Deutsch, aber sie spricht nicht viel. Ist vom Typ... könnte ich nicht mal sagen. Sie ist einzigartig. Egal, wir fahren also durch Berlin und mein USB-Stick läuft einfach durch, mit der Mucke, die drauf war."

Ich erinnerte mich nur zu gut an Fahrten mit Helge. Dass die gute Dame nicht viel sagte, lag vermutlich daran, dass er die Tendenz hatte, Musik im Auto so laut zu machen, dass man sie ohnehin nicht verstanden hätte.

"Dann lief 'Fade away'."

Eines unserer alten Stücke. Von unserem ersten und einzigen Album.

"Ich erklärte ihr, dass es von unserer alten Band war, um überhaupt mal ein Gespräch in Gang zu bekommen. Und da blitzte es plötzlich in ihren Augen und sie war total interessiert."

Es war nicht einmal eines der besseren Stücke. Hm. Langsam wurde mir klar, in welche Richtung das ging.

"Das war das einzige von uns, was ich auf dem Stick hatte. Sie bestand darauf, dass ich ihr unser ganzes Album vorspielte. Also nahm ich sie mit zu mir. Das war scheiße peinlich, Mann. Ich war auf Damenbesuch gar nicht eingerichtet. Die Wohnung ein stinkendes Chaos. Überall Scheppel-Hefte und vollgewichste Taschentücher und so 'n Zeug."

Oh Helge. Du hast dich nicht verändert. Und die Ankunft des Internets vermutlich auch noch nicht mitbekommen. Wer las denn heutzutage noch Pornohefte?

"Aber sie war voll cool, sie wollte unbedingt die Platte hören."

Ja, wir hatten tatsächlich noch auf Vinyl gepresst, obwohl es schon CDs gab. Die Platte hatte ich selbstverständlich auch noch, aber nicht einmal mehr einen Plattenspieler.

"Und die hat ihr gefallen", warf ich in den Raum.

"Ja, Mann. Die hat ihr gefallen. Sie sagte, das wäre ungewöhnlich, einzigartig, geil."

Schlecht war sie nicht, das stimmte. Wir hatten aber noch viel bessere Stücke gehabt, die wir aufnehmen wollten, als alles den Bach runterging. Als Tilly starb. Scheiße. Wie lange war es mir gelungen, daran nicht mehr zu denken? Scheiße.

"Sie hat drei, vier Stücke ausgesucht, die ihr besonders gefallen hatten. Und gefragt, ob noch mehr von uns existiert."

"Du hast ihr doch wohl hoffentlich nicht die Probenmitschnitte vorgespielt?"

Er wusste genau, warum er das nie hätte tun dürfen. Wir hatten eine Vereinbarung getroffen.

"Alter, es tut mir leid. Ja, ich habe ihr das Material fürs zweite Album vorgespielt. Das hat ihr besser gefallen, vor allem..."

"'Dawn'."

"Ja, 'Dawn'."

Das Lied, das ich für Tilly geschrieben hatte. Meine Entschuldigung dafür, sie so oft alleine gelassen zu haben. Mit ihren Ängsten. Mit ihren Problemen. Ihren schweren Depressionen.

Das wir aufnahmen, als sie sich das Leben nahm. Während sie vier Tage mit dem Tode rang, bis ihr Körper und die Ärzte aufgaben. Und ich war nicht einmal dort gewesen. Träumte den Traum vom großen Durchbruch in dem Aufnahmestudio in München, während alles, was für mich je wirklich Bedeutung gehabt hatte, mit einer Flatline verklang.

Es war fünfundzwanzig Jahre her, ich hatte fast schon nicht mehr daran gedacht, doch jetzt stiegen Tränen in mir hoch.

"Eh, Alter, es tut mir leid. Ich wollte nicht dran rühren."

"Okay. Vergangenheit. Was willst du nun von mir? Wollt ihr den alten Scheiß covern? Nach fünfundzwanzig Jahren hab ich nicht mal mehr Rechte drauf und ihr habt meinen Segen. Ihr könnt alle Stücke nutzen. Nur von 'Dawn' lasst bitte die Finger. Okay?"

"Ich hätte das niemals ohne dein Einverständnis gekonnt, das ist dir doch klar? Ich hab ihr 'Dawn' nicht vorspielen wollen. Das war ganz seltsam, sie sagte von sich aus, da ist noch ein anderes Stück. Eines, was eine besondere Bedeutung hat. Und dass ich es spielen muss."

Was für ein querer Scheiß.

"Ich hab ihr natürlich auch gleich gesagt, dass wir das niemals covern dürfen. Komischerweise hat sie sofort gesagt, dass sie das versteht."

"Du hast ihr die Geschichte erzählt?"

"Ja, aber erst hinterher. Die Frau ist... anders, ich kann es dir nicht beschreiben. Du musst sie sehen. Und hören."

"Noch 'n Tässchen? Nee, muss ich nicht. Ihr könnt den Dreck haben, wenn ihr von 'Dawn' die Finger lasst. Wenn euer Gitarrist so gut ist, wie du sagst, kriegt er das Meiste sicher hin. Ich hab irgendwo sogar noch die Noten. Die könnt ihr zusätzlich haben. Und wenn ihr euren ersten Gig habt, komme ich gerne rum, um zu hören, wie die Dinger mit einer richtig guten Stimme klingen. Deal?"

"Ja Alter, das ist schonmal geil. Aber..."

"Aber was?"

"Sie will dich unbedingt kennenlernen. Sie sagte: Er muss mich hören."

Wie war die denn drauf? Was sollte das alles?

"Warum, was soll das?"

"Ich weiß es auch nicht genau, ehrlich. Vielleicht will sie, dass du Stücke für uns schreibst. Speziell für sie."

"Ach, komm, hör auf, Helge. Das schmink dir ab. Ich habe meine Klampfe seit Tillys Beerdigung nicht mehr angefasst und ich habe nicht vor, das jemals wieder zu tun. Das weißt du."

"Ich habe ihr das gesagt. Hundertmal. Sie hat nur immer wieder dasselbe wiederholt: Er muss mich hören."

Aha, geile Stimme und 'nen Lattenschuss. Musikindustrie-Standard. Vielleicht der einzige Weg zum Erfolg.

"Und ich hab dir gesagt, was ich darüber denke. Was ich bereit bin, zu eurem Erfolg beizusteuern. Sag ihr das. Ich wünsch euch Glück. Okay?"

Er seufzte.

"Ich versteh dich, Mann. Ich will dich nicht und weiß ich kann dich nicht überreden. Aber lass es dir auch von mir nochmal sagen: Du musst sie hören. Wenn dir Musik jemals etwas bedeutet hat, solltest du das wirklich tun."

"Musik hat mir mal was bedeutet. Viel zu viel bedeutet. Und Tilly ist jetzt tot. Deshalb. Deswegen. Fuck. Nein. Kommt nicht in Frage. Sag der komischen Punze das. Und nun... sorry, ich bin jetzt echt nicht gut drauf. Lass mich bitte allein. Halt."

Er war tatsächlich schon aufgesprungen.

"Die scheiß Noten. Ich hol sie dir."

"Das brauchst du nicht. Ich hab sie auch noch. Danke Mann, echt, danke. Ich versteh ja, dass dich die ganze Sache aufwühlt. Hier."

Er reichte mir einen USB-Stick.

"Was soll ich damit?"

"Das ist unser letztes Demo. Unsere eigenen Stücke. Mit ihrem Gesang. Du brauchst ja nicht gleich zur Probe kommen. Aber höre sie dir ruhig mal an."

"Scheiße. Wenn dich das glücklich macht, leg ihn da ab."

"Gibst du mir deine Nummer? Du hast doch ein Handy, oder?"

"Na, so Old-School bin ich dann auch nicht."

Kopfschüttelnd schrieb ich ihm meine Nummer auf, und drängte ihn aus der Wohnung. Verflucht. Warum musste mich die Vergangenheit jetzt einholen? Ausgerechnet jetzt.

~~~

Musik. Damals war sie mein Leben gewesen. Hatte sie meine Gedanken und meine Träume bestimmt. Hatte sie mich blind gemacht, für die Tiefe der Ohnmacht, in der Tilly ihr Leben mit ihrer schweren Krankheit verbrachte. Meist war sie ja auf irgendwas gewesen, Pillen vom Doktor, Pillen von der Straße, Kokain, Heroin. Nie abhängig. Fast nie nüchtern.

Mal überschäumend vor Freude und Glück. Mal in tiefster Hölle und Angst, den Verstand zu verlieren. Therapien, die nicht halfen. Ärzte, die ihr nicht zuhörten und immer neue Pillen verschrieben.

Und ich, der ihr immer wieder nur von den eigenen Träumen erzählte, deren Erfüllung uns beide befreien sollte. Sie um Zeit bat, um Geduld. Um Stärke. Die sie niemals hatte. Niemals haben konnte.

Ich starrte auf den Bildschirm, wo der rote Kanal meines letzten Bildes zusammengerechnet wurde.

Musik. Auch nach Tillys Tod hatte sie mich nicht in Ruhe gelassen. Ich hörte ständig Musik. Nicht von der Konserve, ich hörte Musik in meinem Kopf. Vieles davon hatte ich als Stücke aufgeschrieben, als ich noch in der Band war. Sie hörte aber auch nicht auf, als alles schon vorbei war.

Ich verließ Deutschland nach Tillys Tod, lebte kurz in Amsterdam und dann lange in London. Lebte mit Musikern in WGs, aber ließ mich nie wieder zu einer Jam oder anderem überreden.

Lernte eine andere Art von Musik kennen, elektronische Tanzmusik, House, Trance, Techno. Und erst als ich einen Weg fand, mich mit Musik zu beschäftigen, ohne selbst welche zu machen, hörten die kreischenden Gitarren in meinem Kopf endlich auf.

Ich wurde ein DJ, nicht mal ein schlechter, erst auf Partys, später in Clubs. Verdiente ganz ordentlich zu dem Gehalt von meinem Bürojob dazu. Hatte Fans. Keinen Ruhm. Keinen Durchbruch. Kein Ziel. Nur Musik.

Und dann Verantwortung. Nicht mehr für Tilly, für meine Mutter. Die an Alzheimer erkrankte. Die Rückkehr nach Deutschland, um für sie da zu sein. Einmal für jemand Wichtigem in meinem Leben da zu sein.

Ich pflegte sie neun Jahre. Bis es nicht mehr ging, und wir sie in ein Altersheim brachten, wo sie ein halbes Jahr später starb. Ich saß bis zu ihrem letzten Atemzug an ihrem Bett.

Ging nach Berlin, weil die Firma, für die ich zu der Zeit noch arbeitete, ihren Hauptsitz dorthin verlegte. Und ein Jahr später pleiteging. Arbeitete als Sprachlehrer. Weil das nicht viel abwarf, fing ich dann mit Übersetzen an. Und etablierte mich ausreichend, um dies zu einer steten und völlig ausreichenden Einnahmequelle zu machen.

Mied Frauen. Nach Tilly hatte ich ohnehin nie wieder eine ernsthafte Beziehung gehabt. Viel Sex in England. Fast keinen in Deutschland. Vor drei Jahren eine kurze Affäre mit einer verheirateten Frau. Mied Clubs, fühlte mich auch bereits zu alt dafür. Wartete eigentlich nur noch auf das Verlöschen meines Lebens. Und das Verklingen der Musik.

Hörte immer noch Musik, wenn ich es nicht erwartete.

Das hörte erst auf, als ich die Sterne sah. Die Weite, die Größe des Weltraums, unseres Universums oder Multiversums, wie immer man das sehen will. Die Erhabenheit, die wahren Dimensionen von Zeit und Raum.

Wie klein, wie bedeutungslos, ein Leben doch war, was für ein winziger Tropfen von Zeit und Gestalt in einem unfassbar großen Ozean. Und Stille. Wunderbare, seligmachende Stille. Wenn ich mich nicht gerade ärgerte. Fuck.

Ich hatte irgendwelche Einzelbilder übersehen, auf denen Flugzeuge durchs Bild flogen und wegen der Belichtungszeit lange Streifen zogen. Hatte ich sie nicht vorher durchgesehen?

Die Erinnerungen an die Vergangenheit setzten mir zu. Hatten mich mehr aufgewühlt, als ich mir eingestehen wollte. Ich wusste nicht mehr wirklich, was ich tat.

Verflucht, lass es für heute. Mach dir irgendeinen Scheiß auf Netflix an. Trink ein paar Bier und komm runter. SMS von Helge. Damit auch ich seine Nummer habe. Der Stick lag noch auf meinem Wohnzimmertisch. Na gut, dann hörte ich mir die Frau mal an.

Was denn da so wahnsinnig besonders an ihrer Stimme sein sollte. Als symbolische Geste für mich selbst hatte ich bei meinem letzten Umzug meine Stereoanlage weggeschmissen. Hatte den Computer für Filme und selten hörte ich noch mal Musik, meist alte Mixe von mir und Freunden aus London, dafür reichten auch die Speaker vom PC.

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