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Das erste Stück. Okay, klang nicht unprofessionell. Aber ich verstand schnell, was Helge gemeint hatte. Das war sauber. Nicht gut. Nicht schlecht. Nichts Besonderes halt. Bis sie anfing zu singen.

Scheiße.

Wie kann man Musik, eine Stimme beschreiben? Mit vielen, sinnlosen Worten. Das einzig Wesentliche, was man beschreiben kann und sollte, ist was sie in einem auslöst. Diese Stimme traf mich mitten drin. Es war unglaublich. Eine Wucht, eine Kraft, die mich völlig wegwehte. Von mir nichts übrig ließ. Mir unter die Haut ging. Mich direkt anging. Mich wegspülte, mich mitnahm.

Und doch, nur andeutete. Weil das, was ihr da vorgegeben wurde, ihrem Potential nicht annähernd gerecht wurde. Helge hatte völlig Recht. Diese Frau hatte Großes vor sich. Diese Band war es nicht. Konnte es nicht sein.

Kritisch hörte ich den Rest des Demos. Sie war einzigartig, brillant, unglaublich gut. Der Rest der Musiker in Ordnung, Helge hatte viel dazu gelernt, ragte aber nicht heraus. Der Drummer war hervorragend, der Keyboarder mittelmäßig. Der Gitarrist würde meine Stücke spielen können, meine Soli niemals. Das hatte weniger damit zu tun, dass er nicht fingerfertig genug war. Es lag vor allem an meiner Technik.

Im Gegensatz zu fast allen Gitarristen in Rockbands spielte ich nie mit Plektron, sondern meinen Fingernägeln, die ich lang wachsen ließ und mit Acryl verhärtete. Daraus ergaben sich andere Optionen, nämlich mehrere Saiten gleichzeitig anzureißen oder zu spielen, wobei ich mit dem Nagel meines Zeigefingers Geschwindigkeiten des Wechselschlages erreichte, die mit einem Plektron kaum hinzubekommen waren. Der resultierende Sound war organischer, natürlicher, dabei gleichzeitig schräger.

Und einzigartig. Niemand sonst spielte damals diese Technik, na ja schon, aber bei ganz anderer Musik. Das hatte uns den Plattenvertrag eingebracht. Das hatte mir den Traum von vollen Hallen, bewundernden Fans und Anerkennung in der Szene eingebracht. Und Tilly den Tod.

Ich schaffte es nicht einmal mehr, alle Stücke zu hören. Es war zu viel. Alles, was ich wollte war Stille. Und fand nur Leere.

~~~

Ich hörte mir das Demo kein zweites Mal an. Beruhigte mich wieder. Freute mich auf das gute Wetter, dass sie für den Folgetag angesagt hatten. Seit Helges Besuch waren vielleicht zwei Wochen vergangen. Mein Handy klingelte.

"Ja bitte?"

"Hallo."

Ich musste mich setzen, war vom Computer aufgestanden um das Handy vom Tisch zu nehmen. Das war sie, Carol. Ich war sprachlos. Eine unnatürliche lange Pause entstand.

"Du hast mich gehört?", kam es schließlich.

"Ja. Du bist Carol."

"Genau. Helge hat mir deine Nummer gegeben. Er traut sich nicht, dich anzurufen. Ich möchte, dass du uns hilfst."

Ihre Stimme war nicht weniger ausdrucksstark, wenn sie nicht sang. Voller feiner Nuancen und Vibrationen, voller Gefühl und voller Ruhe. Wenn sie ihre Gefühle nicht zeigte, in ihrer Stimme waren sie klar zu erkennen. Vielleicht sprach sie deshalb nicht viel.

"Ehm... womit?"

"Deine Stücke. Lippe kriegt nicht alles hin. Helge konnte ihm nicht erklären, wie du was machst."

"Verstehe. Aber er hat erklärt, wie das zustande kommt?"

"Ja."

"Und dass ich keine Gitarre mehr spiele?"

"Kommst du?"

"Was?"

"Wir proben morgen. Kommst du vorbei und hilfst uns? Helge textet dir die Details."

"Ich weiß nicht..."

"Das ist nicht wahr. Kommst du?"

"Okay. Ich weiß aber nicht..."

"Bis dann. Ich freue mich."

Und legte auf.

Fuck. Was war denn das?

Nun verstand ich, warum Helge ihr 'Dawn' nicht verweigern konnte. Das war ja eine seltsame Frau. Die ich unbedingt sehen musste, das war mir völlig klar. Scheiße. Ich hatte nie einen Führerschein gemacht. Da ich mein Leben in Großstädten mit einem gut funktionierenden öffentlichen Transport zugebracht hatte, gab es nie einen Grund. Auch ihr Übungsraum war gut mit der U-Bahn zu erreichen.

Ich hatte mir die Lage der Adresse vorher auf Google Maps angesehen und den Weg grob eingeprägt. Ich erwischte aber den falschen Aufgang der U-Bahn und verlief mich prompt. So kam ich um einiges zu spät an. Der Raum war nicht schwer zu finden, denn sie probten bereits und man brauchte nur seinem Gehör folgen.

Als ich eintrat, fiedelte nur Lippe auf seiner Gitarre rum. Helge und Carol unterhielten sich mit dem Drummer und drehten mir den Rücken zu. Der Keyboarder sah mich als erster und nickte mir zu. Mein Besuch war offensichtlich angekündigt worden.

Vor mir war Harro, ihr Techniker, der mit der großen Mische hantierte und irgendein Brummen versuchte wegzubekommen. Hinter ihm an der Wand waren ein paar Sessel, wohin ich mich vermutlich zurückziehen konnte.

Der Drummer zählte an und begann gleichzeitig mit Helge den knackigen Rhythmus von 'The Edge'. Das war mein Lieblingsstück von unserer Band gewesen.

'Dawn' wäre es vermutlich geworden, wenn wir es wirklich weitergespielt hätten. Oh, Lippe hatte tatsächlich nicht begriffen, dass er leicht versetzt im Gegentakt spielen musste. Konnte er keine Noten lesen?

Der Keyboard-Part war neu, wir hatten kein Keyboard dabeigehabt. Das klang okay, machte es irgendwie runder und lenkte ein wenig von Lippes falschem Taktgefühl ab. Carol begann zu singen, immer noch dem Drummer zugewandt.

Gänsehaut wäre das falsche Wort, weil das nur die körperliche Reaktion beschreibt. Die Gänsehaut, die ich hier bekam, ging tiefer. Ich hatte Gänsehaut auf der Seele. Wow. Das war richtig, richtig gut. Und dann drehte sie sich um. Mein Herz blieb stehen. Ich hatte das eindeutige Gefühl, meinen Körper zu verlassen.

Kurzes, platinblondes Haar. Ein verwirrendes, wie Schwingen aussehendes Tattoo auf ihrer Stirn. Und die hellsten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Ich konnte nicht mal bestimmen, ob sie hell grau oder hell blau waren, vielleicht eine Mischung aus beidem.

Diese Augen. Dieser Blick. Der so tief in mich eindrang, dass ich mich völlig nackt und schutzlos vor ihr fand. Dazu die Stimme, die mich jetzt ansang. Mich noch umschmeichelte. Umwarb. Lockte. Das völlig ausdruckslose Gesicht, starr wie eine Puppe.

Kein Engelsgesicht, aber schon das eines Wesens von ganz oben. Aus einer völlig anderen Welt. Weit über uns Sterblichen. Herabgestiegen, um uns in ihrer grenzenlosen Güte das Privileg ihrer Gegenwart zu gewähren.

Oh Fuck. So wie sie es singt, macht es erst Sinn. Ich fass es nicht.

Sie blies mich einfach um. Ihre Augen lösten sich während des gesamten Songs nicht von mir. Sie bewegte sich ebenfalls nicht, nicht einmal die Arme. Was für eine Röhre von einer Stimme dazu.

Erst zum Ende hin begann sie sich mit sparsamen Bewegungen zu öffnen und dem Finale noch eine andere Note zu geben. Abgefahren. Das war völlig geil. So gut hatte ich mein Stück noch nie gehört. Das passte.

"Hey, Alter, ist das geil, dass du gekommen bist", begrüßte mich Helge sofort, nachdem der letzte Ton gerade verklungen war.

"Sollte es so sein?", fragte Carol anstelle einer Begrüßung.

"Ja, das war brutal gut."

"Das meinte ich nicht, aber danke. Die Gitarre war falsch."

Lippe zog die Stirn kraus und wirkte angepisst. Verständlich.

"Ehm... ja, ich hatte mehr einen Gegentakt gespielt. Das macht es... Scheiße, mir fällt das deutsche Wort nicht ein... grittier... knackiger vielleicht."

"Ja, das ist es", gab sie zurück. "Mutiger."

"Ich verstehe nicht, wie ihr das meint", gab Lippe zurück.

Ich versuchte es ihm zu erklären, aber er verstand es immer noch nicht.

"Du musst es ihm zeigen", trug mir Carol auf.

Nein. Ich rühre nie wieder eine Gitarre an. Das habe ich mir geschworen. Helge trat näher an sie heran, um ihr vielleicht noch einmal klar zu machen, was er ihr mit Sicherheit vorher bereits erzählt hatte.

"Bitte. Für mich."

Ich war wie in Trance, als ich mir die Gitarre vom verblüfften Lippe geben ließ. Das Plektron ausschlug. Er ist in diesem Moment wurde mir klar, dass ich mir eigentlich vor zwei Wochen die Fingernägel hatte schneiden wollen. Es aber nie getan hatte. Das Gefühl der von ihm angewärmten Stahlsaiten. Ein kurzer Blick auf die Gitarre selbst, eine mir unbekannte Marke, aber wohl etwas durchaus Edles.

Ein Nicken in Helges Richtung und der Drummer, Piet, ein Holländer, klopfte mit seinen Sticks den Takt an. Die Bass-Line. Dann mein Einsatz. Fuck. Überhaupt kein Gefühl in den Händen. Und keine Kraft. Egal, für eine kurze Demonstration würde es reichen. Könnte Lippe sehen und hören, was ich meinte.

Es war wie ein Rausch. Plötzlich wieder Teil der Musik zu sein. In ihr. Von mir ausgehend.

Lippe machte immer noch eine leicht finstere Miene, aber folgte aufmerksam dem, was ich da tat. Dann nickte er. Ich hörte sofort auf zu spielen, erschrocken über das, was ich da gerade getan hatte. Ich hatte meinen Schwur gebrochen. War mir selbst untreu geworden. Für sie. Eilig gab ich ihm die Gitarre zurück.

Ihr Blick fing mich auf. Keine Dankbarkeit, nur die Rückversicherung, dass es so hatte kommen müssen. "Sollte es so sein?", hatte sie mich gefragt. Während Lippe still vor sich hin wippte und in Gedanken den Gegentakt nachvollzog, hatte ich ihre Stimme im Kopf. Den Satz in englischer Übersetzung. "Was it meant to be this way?"

Formte sich bereits zu einem Lied, was dann von dem erneuten Einsatz von Helge und Piet übertönt wurde. Lippe kam hinzu. Okay, er hatte es begriffen. Daumen hoch. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. Erschloss sich ihm auch der Sinn und das ganze Rhythmus-Gefüge. Und das Stück klang gleich noch einmal ein Tucken besser.

Ich zog mich zu den Sesseln zurück und lauschte andächtig diesem und den folgenden Versuchen, die immer und immer besser klangen. Und immer wieder in den Breaks hörte ich ihre Stimme, die sich um eine Melodie schlängelte. Und der Frage, die sie mir gestellt hatte.

"Alter, träumst du?"

Helge ließ sich auf den Sessel neben mir sinken.

"Sorry. War gerade in Gedanken woanders. Macht ihr Pause?"

"Zeigst du mir dein Solo?", fragte mich Lippe, der als einziger noch stand, alle anderen waren bereits in Bewegung, um sich abzusetzen. Inklusive ihr. Sie kam direkt auf mich zu. Es war völlig sinnlos, es ihm zu zeigen, aber ich konnte ihre Nähe nicht ertragen und floh zu ihm hin.

Was war das? Ich nahm sie nicht als Frau war, sie war etwas anderes. Fleisch gewordene Versuchung. Musik. Musik hatte sich einen Körper geschaffen, um mich nicht nur in Versuchung zu führen, sondern mich mit einem einfachen "Bitte" zu besiegen und mich wieder in sich hineinzuziehen. Völlig weggetreten nahm ich erneut die Gitarre.

Er hatte die Notenblätter vorgeholt.

"Ich hab das ja auch gehört, aber das kann doch gar nicht gehen. Hast du das mit mehreren Fingern gespielt?"

"Ja, dreien. Der Anfang ist Standard, nur mit einem, das kannst du mit dem Plektron auch. So."

Und spielte ihm die Einleitung vor. Die langsam genug war, um mich noch nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Seine Gitarre sang recht angenehm, also der Ton stand satt und weich nach dem Anschlag.

Ich übertrieb die Bewegungen, so dass er genau nachvollziehen konnte, was ich wann einsetzte, um den eigentlich nicht ungewöhnlichen Lauf mit eigenwilligen Akzenten zu versehen.

Er nickte, und spielte es nah genug für einen ersten Versuch nach. Ich grinste ihn freundlich an. Das ging doch.

"Und dann?"

"Boah. Weiß nicht, ob ich das spielen kann, ich hab überhaupt keine Kraft in der Kralle und die nächste Sequenz ist auch schon für die Linke harsch."

Na ja, es reichte ja, wenn er verstand, dass da einiges mehr hinter stand. Ich brauchte drei Versuche, bis ich die nächsten vier Takte einigermaßen so wieder hinbekam, wie sie klingen mussten. Mir taten schon die Finger weh. Keine schützende Hornhaut. Das rächte sich sofort.

"Alter, du bist ja voll pervers. So kann man doch nicht Gitarre spielen."

Wie hatte ich Sprüche wie diesen vermisst. Er scheiterte schon an den Fingersätzen für die linke Hand.

"Lass doch. Mach es deins. Nimm die alte Einleitung und improvisier danach, finde deine eigene Lösung."

Er nickte.

"Okay. Ja, hast Recht. Bevor ich mir meine Finger verknote. Irgendwann musst du mir deine Technik mal zeigen."

Wir gingen gemeinsam zum Rest der Band. Carol saß auf meinem Sessel und rutschte auffordernd zur Seite, machte mir nicht nur Platz, sondern klar, wo mein Platz jetzt war. Es war eigenartig, ich war von mir selbst total distanziert, nahm mich in Handlung wahr, aber war mir überhaupt zugehörig. Ein reiner Beobachter meiner selbst.

Fühlte ihren Körper an meinem. Eine Verbundenheit, völlige Selbstverständlichkeit. Überhaupt nichts Sexuelles. So wie Geschwister. Was stellte sie mit mir an? Sah mich lange nur an. Mit diesen völlig irren, abgrundtiefen Augen, die mich vermutlich noch im Schlaf verfolgen würden.

"Danke", sagte sie schlicht.

"Du bist unglaublich", sprudelte mein wirkliches Empfinden aus mir heraus, bevor ich es erkennen und zensieren konnte.

Ein feines Lächeln war ihre einzige Reaktion.

"Du hast die ganzen Texte geschrieben?", wollte sie nach einer kurzen Pause wissen. Kein anderer wagte sich in das Gespräch einzumischen, obwohl Helge etwas unruhig hin und her wippte.

"Ja, das war aber bevor ich richtig Englisch konnte. Dementsprechend quer sind einige von ihnen. Ich hab gern lange, eindrucksvoll klingende Worte verwendet, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeuteten und wie man sie tatsächlich einsetzt."

"Verstehe. Du hast in London gelebt?"

"Ja, fast zehn Jahre. Warum?"

"Ich auch."

Na, sicher nicht zu meiner Zeit. Mir fiel auf, dass ich ihr Alter gar nicht einschätzen konnte. Sie hätte Anfang oder Mitte zwanzig sein können. Diese Abgeklärtheit schien eher auf dreißig zu deuten. Was für eine ungewöhnliche Frau. Die mich immer mehr verwirrte.

"Können wir die Texte zusammen durchgehen?"

"Jetzt? Meinetwegen."

"Nein. Ein anderes Mal. Bei dir?"

"Warum?"

"Es ist besser so."

Das Verrückte war, rational waren ihre Äußerungen überhaupt nicht verständlich. Emotional nahm ich alle Zwischentöne und Bedeutungsfelder in mich auf wie ein Schwamm. Und wusste ganz genau, was sie sagte. Sie spürte meine Zustimmung selbstverständlich. Trotzdem verbalisierte ich sie.

"Okay. Wann passt es dir?"

"Freitag. Ich komme zu dir. Ich habe deine Adresse."

~~~

Zwei enttäuschende Nächte. Von wegen klar. Die Wettervorhersage auf der Seite, die ich vornehmlich nutzte, praktisch in Echtzeit angepasst. Also nur bestätigt, was man tatsächlich am Himmel sah. Nämlich nichts. Wolken.

Neben meinem Teleskop stand seit gestern mein Gitarrenständer, auf dem meine Geliebte ruhte. Mit der ich Tilly um ihr Leben betrogen hatte.

Eine schwarze Schecter semi acoustic, also eine E-Gitarre mit einem flachen Resonanzkörper, ein Hybrid, das Beste aus beiden Welten. Ein Einzelstück, für mich direkt vom Gitarrenbauer angefertigt. Seit dem Vortag mit neuen Saiten und immer noch absoluter Bundreinheit.

Daneben der kleine Übungsverstärker, den ich ebenfalls am Vortag angeschafft hatte. Und ein Multi-Effektgerät, dessen Möglichkeiten ich noch nicht einmal ansatzweise begriffen hatte, weil es einfach zu viele Optionen und Programmiermöglichkeiten gab.

Die Niederlage gegen die Musik und sie, als ihrer Inkarnation, war ohnehin schon perfekt. Missmutig starrte ich auf die entzündeten Fingerkuppen meiner linken Hand. Es würde einige Zeit dauern, bis die Hornhaut sich bildete und ich dem Umfang spielen konnte, wie ich wollte. Noch länger, bis die Kraft und Geschmeidigkeit in beide Hände zurückkehrte.

Das Lied, das mir im Übungsraum eingefallen war und mich bis in den Schlaf verfolgt hatte, war so gut wie fertig. Die Phrase, der Aufhänger, war natürlich schon tausendmal in Songs verwendet worden. Das machte nichts. Mit ihrer Stimme, meiner Musik, würde es trotzdem etwas Einzigartiges werden. Trotzdem war ich mir unsicher, ob ich ihr das Stück schon jetzt vorspielen sollte.

Warten. Wir hatten keine Zeit ausgemacht, das war mir erst hinterher aufgefallen. Meine Adresse hatte sie sicher von Helge. Es war schon nach acht Uhr. Tatsächlich. Ausgerechnet heute schien es eine sternenklare Nacht zu werden. Ob ich sie anrufen sollte, um zu fragen? Immerhin hatte ich ihre Nummer natürlich nach ihrem Anruf abgespeichert.

Egal. Ich konnte ja mein Teleskop schon rausstellen, und alles soweit anschließen. Das würde mir dann die Wartezeit verkürzen. Ich öffnete beide Flügel der Balkontüre. Kühle Herbstluft wehte mir entgegen, als es klingelte. Schade. Endlich. Wie sie da steht. Wie eine Göttin.

Die schwarze Kleidung stand ihr hervorragend, ein schwarzer Lederrock, ein Bauchfrei-Top, trotz der relativen Kühle des Septemberabends und eine alte schwarze Fliegerjacke aus Leder darüber. Das Gesicht absolut regungslos, wie bei unserer letzten Begegnung im Übungsraum.

"Hallo", kompensierte sie wieder mit ihrer Stimme für diesen Umstand.

"Komm rein."

Sie folgte mir in die Wohnung und ins Wohnzimmer, setzte sich jedoch nicht auf das angebotene Sofa, sondern baute sich stattdessen vor meiner Gitarre auf. Strich zärtlich über Hals und Korpus, drehte sich kurz zu mir um und lächelte mich an. Dankbar. Glücklich.

Ich musste grinsen, fühlte mich einerseits ertappt wie ein Schuljunge, andererseits froh, dass ich diese emotionale Reaktion in ihr Gesicht gekitzelt hatte. Ihr Blick wanderte zum Teleskop.

"Du siehst dir die Sterne an?"

"Ja. Das war bis vor kurzem mein ganzer Lebensinhalt. Die einzige Quelle für Faszination und Frustration", erklärte ich ihr, in der Hoffnung, sie könne es richtig einordnen. Und, in einem Anfall von Leichtigkeit:

"Und von welchem stammst du?"

Eine berechtigte Frage, wie ich fand. Von diesem Planeten konnte sie unmöglich kommen. Erneut zauberte ich damit ein feines Lächeln in ihr bildschönes Gesicht.

"Das ist ein Geheimnis."

Langsam kam/schwebte sie zum Sofa. Ihre Bewegungen waren unfassbar flüssig und leicht. Zog ihre Stiefletten aus und machte es sich auf dem Sofa bequem.

"Magst du was trinken?"

Ich hatte Wein eingekauft. Bei der Probe hatte sie als einzige kein Bier mitgetrunken, sondern nur Wasser. Trank sie vielleicht gar keinen Alkohol?

"Ja. Ein Glas Wasser."

"Gern. Ich habe aber auch Wein eingekauft."

"Das ist schön. Nicht jetzt. Wir arbeiten gleich."

Zur Bestätigung holte sie bereits Notenblätter aus ihrer schwarzen Stofftasche, die sie mitgebracht hatte, während ich in die Küche lief, um Getränke zu holen. Eine Puristin. Es passte zu ihr. Sie sortierte die Notenblätter noch, als ich mit den Gläsern zurückkam. Was mir Gelegenheit verschaffte, sie mir anzusehen.

Um ihren freiliegenden Bauchnabel herum hatte sie eine dem Stirn-Tattoo ähnelnde Zeichnung, von ineinander verschlungenen Linien, die etwas Hypnotisches an sich hatten.

Zwei funkelnde Steine im Bauchnabel selbst, es hätte mich nicht gewundert, wenn das echte Diamanten waren. Schmale Hüften, kleine Brüste, die zu ihrem eher zierlichen Rahmen perfekt passten.

"Das hier. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Text verstehe. Die Worte natürlich schon, aber nicht, was du damit sagen willst."

Ich rückte näher an sie heran, damit ich mit auf das Notenblatt schauen konnte. Das wunderte mich nicht. Der Text war völlig schwachsinnig. Nicht alles, was ich zu der Zeit geschrieben hatte, war gut, oder tief, oder bedeutsam. Ich gestand ihr das schnell ein.

"Dann können wir ja umbauen. Was hast du gefühlt, was wolltest du sagen?"

"Nun... Ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Es ist verdammt lange her. Übrigens, wir können auch Englisch sprechen, wenn dir das lieber ist. Daran erinnere ich mich noch sehr gut."

"Nein. Ich will Deutsch beherrschen. Ich bin noch eine Weile hier."

"Bis dein Mutterschiff dich wieder abholt?"

Diesmal verzog sie keine Miene.

"Jeder findet, dass ich seltsam bin. Daran habe ich mich gewöhnt. Das liegt daran, dass mich niemand kennt."

"Lerne ich dich kennen?"

"Ja. Du und niemand sonst."

Eine Auszeichnung, die mich glücklich machte. Selig machte. Und irgendwie auch Angst hervorrief.

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