Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Thao 27

ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

Amelie stieß ihren Bruder in die Seite und warf ihm einen bösen Blick zu.

59. Die Pissnelke

Unter einem großen Kastanienbaum stand eine Holzbank mit Rückenlehne, auf der Thao Platz genommen hatte und in ihrem Block zeichnete. Neben ihr lagen drei Bücher und auch ein Schreibblock, auf dem sie, sollte sie sich dazu durchringen können, Karl schreiben wollte.

Vögel zwitscherten, der Wind griff immer wieder in die Blätter, ein intensives Rauschen dabei verursachend. Ein Bach gurgelte einige Meter vor dem Punkermädchen durch die malerische Landschaft. Minimaus stand darin und schlapperte lautstark Wasser, um sich dann, zufrieden dreinblickend, wieder in den Schatten des Baumes zu legen.

„Hey du! Kannst du mir helfen?"

Thao warf einen überraschten Blick zur Seite und bemerkte ein Mädchen mit braunen Haaren, das in ihrem Rollstuhl mitten auf der Wiese stand.

„Was soll ich denn machen?", rief die Punkerin mürrisch zurück.

„Mein Rollstuhl geht nicht. Ich drücke den Hebel, aber er rührt sich nicht mehr."

Das Punkermädchen warf ihren Kopf in den Nacken, um ihr Gesicht von den herabhängenden Haaren zu befreien, sah sich suchend nach Hilfe um, stand dann aber auf und ging zögerlich auf das vielleicht zwölf bis dreizehn Jahre alte Mädchen zu.

„Was soll ich jetzt machen?"

Die Kleine hatte kein schönes, dafür aber ein überaus keck wirkendes Gesicht. Eine kleine Stupsnase ruhte vorwitzig über ihren relativ schmalen Lippen, während ihre braunen Augen in der Sonne zu Thao hinauf blinzelten.

„Ich muss aus der Sonne, wenn ich zu lange hier stehe, bekomme ich Kreislaufschwierigkeiten."

Die Punkerin seufzte, stellte sich hinter den Rollstuhl des Mädchens und stemmte sich dagegen.

„Scheiße! Der geht voll schwer. Ist das normal?"

Das Mädchen nickte eifrig.

„Ja! Das kommt, weil der Motor aus ist. Wahrscheinlich ist der Akku nicht richtig aufgeladen worden, das ist schon mal passiert."

Thao stemmte sich nun mit aller Kraft gegen das Vehikel und tatsächlich fing es sich zu bewegen an.

„Wie heißt du eigentlich?"

„Anna. Beeilst du dich bitte, mir ist ziemlich heiß."

Die Punkerin schüttelte fassungslos ihren Kopf. Keuchend schob sie das Ding über den Rasen, der vom Morgentau und der feuchten Luft sehr weich geworden war. Die schmalen Reifen sanken immer tiefer ein, weswegen das Vorankommen immer beschwerlicher wurde.

„Das ist so eine Scheiße! Mann! Warte hier, ich hole Günter, der ist stärker als ich."

„Und wenn du ihn nicht findest? Du kannst mich doch nicht hier allein lassen. Nachher werde ich durch die Hitze noch ohnmächtig."

Thao glotzte entnervt auf die Kleine hinunter. Sie hatte doch nur ihre Ruhe haben wollen. Noch einmal mobilisierte sie all ihre Kräfte, nach quälenden Minuten erreichte sie schließlich doch noch den oberhalb der Wiese verlaufenden Schotterweg. Ihre Stiefel und die Hose waren über und über mit Schlamm beschmiert, ein weiterer Grund für sie, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Quietschend und knarrend, ermüdend langsam, schob Thao das schwere Behindertenvehikel den Weg entlang, bis sie eine Viertelstunde später endlich die Hauptbaracke erreichte.

„Warte! Ich hole Ines. Die kümmert sich um dich."

Thao wollte gerade zum Eingang laufen, als lautstarkes Gelächter von mehreren Kindern ertönte, die aus sicherer Distanz die Qualen der Punkerin beobachtet hatten.

„Brauchst du nicht. Ich glaube, jetzt geht er wieder."

Anna winkte Thao betont unschuldig zu und fuhr mit ihrem, scheinbar von Geisterhand reparierten Rollstuhl surrend davon. Thao aber war außer sich. Nass geschwitzt, mit verdreckten Hosen und Stiefeln, hätte sie dieser kleinen Teufelin am liebsten eine gelangt.

„Du scheiß Pissnelke! Verzieh dich bloß, sonst kriegst von mir die Fresse voll!"

Minimaus blickte das wütende Mädchen erschrocken an, zog ihren Schwanz zwischen die Hinterbeine ein und ging ängstlich auf Abstand. Thao seufzte.

„Nicht du, Mini! Alles gut! Komm wieder her zu mir!"

Die Bernhardinerhündin erbarmte sich ihrer und trottete Thao hinterher, die, noch immer rasend vor Wut, wieder zur Bank zurückging.

Dort ließ man sie dann weitgehend in Ruhe, abgesehen von einer kurzen Fahrt in den nächstgelegenen, größeren Ort, ereignete sich an diesem Tag nichts Besonderes mehr. Thao erwarb einige Klamotten, Zahnbürste und Schminksachen, etwas zum Knabbern und mehrere Zeitschriften. Das Personal in den Läden starrte das Mädchen jedes Mal an, als ob man hier noch nie zuvor eines wie sie gesehen hätte. Amelie und Günter erzählte die Punkerin allerdings nichts von ihrem Erlebnis am Vormittag, es war ihr schlichtweg peinlich, von einem kleinen, noch dazu behinderten Balg derart verarscht worden zu sein. Ausgerechnet sie!

60. Katja gibt nach

„Karl?!"

Der Junge reagierte nicht. Wie ein Belagerter schien er nur Ausfälle aus seinem Zimmer zu wagen, wenn ihn die Notdurft dazu trieb. Schon seit drei Tagen hatte er mit seinen Eltern kein Wort mehr gewechselt.

„Karl! Mach endlich auf! Du musst doch endlich packen, wenn das mit dem Studium klappen soll. Wir haben nur noch wenige Tage Zeit."

Karl kroch aus dem Bett und drehte seine Musikanlage auf. Er hatte keine Lust, mit seiner Mutter über irgendetwas zu diskutieren. In Selbstmitleid verfallen, dachte er nur an eines ... das Mädchen, das er verloren hatte. Er sehnte sich in jeder Sekunde nach ihr, versuchte, ihr Bild in seinen Erinnerungen am Leben zu erhalten, genau so, wie er sie beim allerletzten Mal hatte begehren und spüren dürfen.

Immer wieder blickte er auf sein Handy, hoffte auf eine Nachricht, einen Fingerzeig von ihr, doch Thao schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Mehr als einmal hatte er bei ihrer Mutter angerufen, gefragt, ob eine Nachricht von ihr eingegangen sei, doch Anne wusste nichts Neues zu berichten, wiederholte immer wieder das Letzte, das sie von ihrer Tochter mitgeteilt bekommen hatte. Einige Tage ...

„Karl! Ich trete die Tür ein, wenn du mir nicht aufmachst! Ich habe keine Lust mehr, mich dir gegenüber als Scheusal fühlen zu müssen."

Der Junge griff nach der Fernbedienung und stellte die Anlage leiser.

„Geh, Mama! Wir verstehen uns ohnehin nicht, da können wir uns doch sagen, was wir wollen. Ich hole sie mir wieder, da kannst du gar nichts dagegen machen."

„Das ist mir egal, Junge! Ich möchte dich einfach sehen und mit dir den Umzug planen. Ich kann mir nicht eine Woche am Stück freinehmen, nicht nach dem halben Jahr Dienstfreistellung."

Karl dachte an die Wohnung in Hamburg. Vielleicht war es ganz gut, wenn er von zu Hause wegkommen würde. Sein Studium würde er für niemanden aufgeben, auch für Thao nicht. Er ging zur Tür und schloss auf.

„Setz dich! Ich will dir jetzt mal was sagen."

Karl zögerte, seine Mutter wirkte wieder aggressiv und gereizt, er bereute sofort, ihr die Tür geöffnet zu haben.

„Diese Tür schließt du nicht mehr ab, solange wie du hier bist! Ich habe keine Lust, in meinem eigenen Haus ausgesperrt zu werden, auch von meinem werten Herrn Sohn nicht. Ist dir überhaupt klar, wie die letzten Tage für mich waren? Weißt du, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe? Du bist mein Sohn, verdammt! Das ist auch eine Methode und sie ist nicht besser als meine, das kann ich dir versprechen. Dein Vater beherrscht sie auch ganz gut, ihr Primadonnen seid da ziemlich gut darin, bei mir ein schlechtes Gewissen zu erwirken und mir den schwarzen Peter unterzujubeln."

Karls Miene verfinsterte sich.

„Wir reden jetzt über deinen Umzug! Morgen fängst du mit dem Packen an, Umzugskartons habe ich dir von einem Kollegen mitgebracht. Sie stehen im Flur, brauchst dich nur zu bedienen."

Katja sah abgespannt aus, dennoch riss sie sich zusammen, um nicht erneut in Aggression zu verfallen.

„Harald hat für kommenden Samstag einen Möbelwagen gemietet. Sophie hat sich bereit erklärt, zu helfen, zwei meiner Kollegen ebenfalls. Es wird schnell gehen und dein Vater wird dir beim Aufstellen der wichtigsten Möbel helfen."

Sie wollte das Zimmer bereits verlassen, drehte sich dann aber doch noch einmal um und blickte ihren Sohn müde an.

„Karl, ich weiß, dass du in den letzten Tagen nur an einen Menschen gedacht hast. Und ich bin mir durchaus bewusst, dass in dieser Hinsicht jedes meiner Worte auf taube Ohren stoßen würde. Ich verlange nur, dass du auf dich aufpasst und alles tust, damit du glücklich wirst."

Kurz schloss die kleine Polizistin ihre Augen, setze dann fort.

„Wenn du meine Hilfe brauchst, ... ich meine ... wegen ihr ..."

Karl starrte Katja von seinem Bett aus an. Diese Worte mussten seine Mutter einiges an Überwindung gekostet haben.

„Ich glaube nicht, dass das einen Sinn hätte."

Seine Mutter nickte ihm mit einer langsamen Kopfbewegung zu, enttäuscht, dass er ihr Versöhnungsangebot ausgeschlagen hatte.

61. Der zweite Morgen

Die vollkommene Stille der Nacht hatte Thao ausgezeichnet schlafen lassen. In dieser abgeschiedenen Gegend störte niemand die Ruhe, keine lauten Schritte durchdrangen das Treppenhaus, nicht der leiseste Ton etwaigen Straßenverkehrslärms war zu vernehmen. Lediglich Bernhardinerhündin Minimaus hatte ab und an im Schlaf gebellt oder gequiekt, während sie in ihren Träumen gefangen war.

„Guten Morgen!"

Die Hündin öffnete verschlafen die Augen und klopfte mit dem Schwanz auf dem Teppich herum. In dieser Nacht hatte ihr das Punkermädchen die Bettkameradschaft verweigert.

Laut ächzend und gähnend raffte sich der große Bernhardiner auf, streckte seinen Rücken durch, sprang mit den Vorderpfoten aufs Bett und stupste mit seiner Schnauze gegen die Nase des Mädchens.

Dieser Hund wirkte wie Balsam auf sie, stellte die Punkerin lächelnd fest. Sie schloss nochmals die Augen und dachte an Karl. Was er wohl in diesem Moment gerade tun würde? Würde er sie wirklich so einfach aus seinem Leben verdrängen können?

Am gestrigen Abend hatte sie wieder einen Brief an ihn begonnen, doch wieder hatte ihr die Kraft gefehlt, diesen auch zu beenden.

„Hey!"

Minimaus kletterte ins Bett und legte sich an ihre Seite. Thao kraulte den großen Hund, der sich wohlig auf den Rücken legte und alle vier Pfoten von sich streckte.

Die Nähe und Vertrautheit zu dem Vierbeiner trösteten die Punkerin, auch wenn sie in Gedanken bei ihrem Exfreund war. Eine halbe Stunde später, Minimaus befand sich längst im Delirium unsäglichen Wohlergehens, krachte etwas mit lautem Knall gegen die Zimmertür. Beinahe zeitgleich zuckten das Mädchen und der Hund zusammen.

Die Punkerin sprang aus dem Bett, rannte zur Tür und riss diese auf. Sie hörte nur noch das Surren eines Rollstuhls, am Gang jedoch war niemand zu sehen.

„Scheiße! Was soll das?"

Thao sah sich suchend um, wobei ihr Blick auf die gestern mühselig gereinigten Springerstiefel fiel. Sie hatte sie gestern ordentlich auf den Gang neben ihre Zimmertür gestellt, nun aber waren sie umgeworfen. Schnell wurde der Punkerin klar, dass man ihr einen Streich gespielt hatte.

„Ach du Scheiße!"

Sie lehnte sich gegen die Mauer und seufzte, hin und her gerissen, ob sie nun lachen oder wütend werden sollte. Jemand hatte die Schnürsenkel ihrer Stiefel sorgfältig mit mehreren Dutzend Knoten ineinander verflochten, in optischer Hinsicht durchaus ansprechend.

Das Punkermädchen blickte frustriert auf die mittlerweile ebenfalls auf den Gang getapste Hündin, bückte sich und begann die fest zusammengeknoteten Schnürsenkel ihrer Stiefel in mühevoller Kleinarbeit zu lösen.

„Scheiße, Thao! Wir sind schon beim Abräumen."

Die Punkerin blickte Amelie fragend an.

„Wo ist Günter?"

Amelie wirkte gefrustet.

„Ich habe keinen blassen Dunst. Er ist mitten in der Nacht ins Auto gestiegen und weggefahren."

Thao starrte sie ungläubig an.

„Ohne uns? Ist was passiert?"

Amelie hob ihre Schultern, sie wusste es wirklich nicht.

„Wir warten einfach ab. Er ruft sicher an."

Amelie streichelte Thao über deren Rücken.

„Scheiße mit dem Frühstück. Ich hole dir was und setze mich zu dir. Hast schlecht geschlafen?"

Thao schüttelte den Kopf, sie war in ihren Gedanken immer noch bei Günter und ihrer eigenen Abreise.

„Ich habe dir mal wahllos was auf den Teller gepackt."

Thao nickte Amelie dankbar zu.

„Sagst du mir Bescheid, wenn Günter sich meldet?"

„Du willst hier weg, oder?"

Die Punkerin nickte.

„Es ist super schön hier, aber ich habe einfach Angst, dass Karl sich meldet und ich bin nicht da. Verstehst du, was ich meine?"

„Thao! Vielleicht ist das ganz gut so! Bleib doch noch ein paar Tage hier! So könnt Ihr beide euch vielleicht wieder richtig aufeinander besinnen. Das, was zwischen euch steht, muss ein für allemal geklärt werden, deshalb ist es wichtig, dass ihr beide die Gefahr genau erkennt, dass Ihr euch wirklich verlieren könntet."

Thao starrte auf ihren Teller. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, niemand sollte es sehen.

„Und wenn er mich einfach vergisst und erkennt, dass er mich nicht braucht? Vielleicht findet er ja auch ne andere."

Amelie hob die Augenbrauen und musste sich das Lachen verkneifen.

„Thao! Nach den paar Tagen und so einer Beziehung? Was wäre Karl für ein Mensch, wenn er so schnell umschwenken könnte? Nein! Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Da geb ich dir mein Wort drauf!"

„Du glaubst wirklich, dass wir wieder zusammenkommen?"

Amelie nickte.

„Ich glaube es nicht, ich weiß es. Da gibt es keinen Zweifel für mich."

Thao wandte sich ihr zu, nickte und umarmte die Freundin.

„Danke, Amelie!"

Die Punkerin wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Weißt du was?"

Amelie sah sie fragend an.

„So ein wenig mag ich dich auch. Echt jetzt."

Günters Schwester lachte schallend auf, während Thao sie stirnrunzelnd ansah.

„Boah, du bist so bescheuert."

62. Die Rache

„Gaff nicht so blöd!"

Amelie sah verwundert auf das Mädchen, das soeben Thao und sie überholt hatte. Es schien auf die Stiefel der Punkerin hinabzublicken, der der Zorn ins Gesicht geschrieben stand.

„Sei doch nicht so aggressiv zu Anna! Sie hat dir doch nichts getan."

Thao schenkte Anna einen wütenden Blick.

„Hast du einen Eimer?"

„Wofür brauchst du ihn denn?"

Das Punkermädchen sah auf Minimaus hinunter.

„Sie hat vorher ein kleines Malheur hinterlassen, das muss ich noch beseitigen."

Amelie deutete auf Thaos Baracke.

„In den Gemeinschaftstoiletten findest du alles, was du benötigst. In jeder ist ein eigener Schrank mit Reinigungsutensilien."

„Okay, Amelie. Du wirst sicher Ines helfen wollen. Ich mach mal mein Ding. Ja?"

Thaos Freundin lächelte.

„Hockst dich wieder den ganzen Tag auf die Bank?"

Das Punkermädchen grinste.

„Es ist schön dort. Mini und mir gefällt es sehr."

„Na dann!"

Amelie winkte ihnen zu und entfernte sich dann, um die Leiterin der Einrichtung zu suchen.

Zwei Stunden später saß Thao wieder auf ihrer Bank, las in einem ihrer Bücher und zeichnete anschließend in ihrer Mappe. Zwar hingen ihre Gedanken immer wieder an ihrem Ex, doch hatte sich noch etwas anderes in ihrem Kopf festgesetzt.

Sie brauchte nicht lange zu warten, als sie auch schon von der Seite geblendet wurde. Immer wieder blitzte ihr etwas ins linke Auge, zunächst versuchte sie es, zu ignorieren, schließlich aber stand sie wütend auf.

„Hör auf damit, oder ich nehme dir den Spiegel weg."

Das freche Mädchen, das sie gestern so an der Nase herumgeführt hatte, lachte schallend. Drei andere Kinder im etwa gleichen Alter standen in ihren Rollstühlen um Anna herum und warteten mit sichtlicher Vorfreude auf die offensichtlich anstehende Vorstellung.

„Mach doch! Ich kann laut schreien."

Thao riss sich zusammen und versuchte, weiterzulesen, als ihr neuerlich ein heller Blitz in die Augen fuhr. Sie überlegte kurz, ob sie nicht einfach gehen sollte, doch erschien ihr dies als denkbar schlechte Option. Dieses Mädchen wollte also einen Kampf? Nun, dann sollte sie ihn auch bekommen, ob behindert oder nicht!

Ihr Blick fiel auf den neben ihrem Sitzplatz stehenden Eimer, noch schien ihr der Einsatz nicht angemessen zu sein. So blieb sie schweigend auf ihrer Bank sitzen und wartete darauf, dass dieses unverschämte Mädchen aufgeben, und sich wieder trollen würde.

„Deine Haare sind scheiße! So sieht doch kein Mädchen aus."

Die Kinder brachen in schallendes Gelächter aus.

„Du kannst doch laufen, warum bist du nicht vor deinem Friseur geflüchtet?"

Thao verdrehte die Augen, fand diese Sprüche einfach nur albern. Wenn sie das jemanden erzählen würde ... gemobbt von behinderten Kindern in Rollstühlen. Dieser Gedanke war einfach nur lächerlich.

„Hallo! Punkerkuh!"

Thao warf einen Blick auf den respektlosen Balg, wurde aber sofort wieder von dem Spiegel in deren Hand geblendet.

„Punkertussi!", schrie das Mädchen, begleitet vom Lachen ihrer Freunde.

Das Maß war voll, der Punkerin reichte es jetzt endgültig. Sie griff nach dem Eimer und lief mit weit ausholenden Schritten auf das Mädchen zu, das unsicher wurde und nicht recht wusste, wie sie reagieren sollte. Ihre Freunde suchten eilig das Weite, Anna aber wollte sich keine Blöße geben.

„Du bist ja so ein nettes Mädchen.", flötete Thao in sanftem Tonfall.

„Da möchte man sich doch gerne für all die Aufmerksamkeiten revanchieren, die du mir erwiesen hast."

Sie hob den Eimer über den Kopf des behinderten Mädchens und kippte ihn aus. Mehrere Dutzend Nacktschnecken und Regenwürmer prasselten auf Anna hinab, die laut kreischend ihre Fassung verlor.

„Na? Gefallen dir deine neuen Freunde? Musst nicht danke sagen. Gern geschehen!"

Lachend wandte sich Thao um, ließ den Eimer triumphierend in ihrer Hand baumeln und schlenderte zurück zu ihrer Bank. Dieser Göre hatte sie es gezeigt.

„Uaaaaahhhhh!"

Das Punkermädchen knickte ein und fiel nach vorn in den feuchten Rasen. Das Mädchen war ihr in voller Fahrt, die Fußstützen voraus, in die Hacken gefahren. Es schmerzte höllisch, blitzartig sammelten sich Tränen in Thaos Augen. Nun war es an dem behinderten Mädchen, lauthals zu lachen, es klang allerdings nicht amüsiert, sondern gereizt und böse. Thao aber war außer sich, stemmte sich am Rollstuhl hoch und schlug Anna mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Weißt du was, du dämliche kleine Kröte? Fahr jetzt lieber schnell zu Ines und petze, bevor ich dir noch richtig wehtue. Dann kann ich dir und mir endlich den Gefallen tun, mich von hier zu verpissen."

Anna weinte, hielt sich ihre Wange, erwiderte aber nichts. Thaos Blick blieb noch eine Weile an ihr haften, dann humpelte sie langsam und unter starken Schmerzen zu ihrer Bank zurück, von der aus Bernhardinerhündin Minimaus die seltsame Szene, sichtlich geschockt verfolgt hatte.

63. Der Umzug

„Pass auf, Karl!"

Harald wäre beinahe auf der Treppenstufe gestolpert. Katja hatte nicht genug Platz, um helfend einzugreifen, ihr Sohn trug somit beinahe das gesamte Gewicht der Waschmaschine allein. Undenkbar, dass er das vor einem halben Jahr geschafft hätte.

„Geht schon. Setz ab, wenn du eine Pause brauchst."

Harald legte seine Stirn in Falten, biss die Zähne aufeinander und nahm das nächste Treppenstück. Schweiß floss in kleinen Rinnsalen seine Stirn und Schläfen hinunter, völlig außer Atem sog er in tiefen Zügen Luft in seine Lungen.

„Ich werde zu alt für diese Scheiße! Echt zu blöd, dass Mamas Kollegen nur beim Einladen helfen konnten."

Karl spürte eine Hand in seinem Rücken und zuckte zusammen. Es war ihm, als hätte Thao ihn berührt.

„Ich wünschte, ich könnte helfen."

Der Junge lächelte Simons Schwester an, dann war sein Blick wieder auf seinen Vater gerichtet, der, am Ende seiner Kräfte angelangt, das letzte Stück hinter sich bringen wollte.

„Tu wenigstens so, als ob du dich anstrengen müsstest."

Karl grinste zu seinem Vater hoch. Dabei hatte er den schwereren Teil erwischt, nahezu das ganze Gewicht des Schwungsteines lastete auf ihm. Nach weiteren zehn Minuten hatten sie das Teil endlich an seinem Platz abgestellt, es war das mit Abstand schwerste Stück gewesen.

123456...8