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Thao II - Teil 12

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Steven selbst hatte eine alte Bundeswehrsporthose und einen derben Wollpullover erhalten, der an einigen Stellen bereits ziemlich löchrig war und wahrscheinlich kurz vor seiner Entsorgung gestanden hatte.

„Du hast auch deutlich an Klasse gewonnen, Steven, das Kompliment kann ich nur zurückgeben."

„Der Abend gefällt mir immer besser."

Steven dachte wirklich so, ungeachtet des draußen wütenden Unwetters.

„Steven, ich ..."

„Thao, bitte! Nicht schon wieder. Lass uns einfach hier sitzen."

Sie nickte und lehnte sich gegen seine Brust. Sie hatte ein schlechtes Gewissen bei der Sache. Sie fühlte sich bei Steven geborgen, aber eben auch, wie sehr er sich mehr von ihr wünschte. Und was war mit ihr? Sie schloss die Augen und seufzte leise. In diesem Moment hätte sie gerne mit ihm Sex gehabt, um danach zufrieden in seinem Arm einschlafen zu können.

„Wie hat dir das Konzert gefallen?"

Die Frage sollte nicht nur ihn, sondern auch sie selbst ablenken.

„Besser als gedacht. Die Mädels spielen und singen super, gar keine Frage. Auch wenn in manchen Liedern mein Geschlecht nicht wirklich gut wegkommt. Aber eures dann auch wieder nicht. Hat mich eigentlich überrascht, dass sie sich auch in dieser Hinsicht hinterfragt haben."

Steven grinste.

„Die blonde Bassistin war niedlich."

Thaos Körper wurde steif, dann drehte sie ihren Kopf halb zu ihm um.

„Dann mach sie dir doch klar, was hindert dich daran?"

Ihre Stimme klang aggressiv, schwer zu sagen, ob aus Eifersucht oder weil er sie enttäuscht hatte.

„Na du."

Sie schien seine Entgegnung erst einmal verdauen zu müssen. Gerade, weil er es doch war, der sie vorhin in diesem Punkt abgewürgt hatte.

„Wir haben darüber ge..."

Steven unterbrach sie auch jetzt.

„Das haben wir, Thao. Und ich gebe mein Bestes. Aber Anlügen brauche ich dich deshalb auch nicht."

Sie schien über seine Worte nachzugrübeln, beließ sie aber unkommentiert. Überhaupt wurde es zwischen ihnen still, ganz im Gegensatz zu der Geräuschkulisse, die der Sturm lieferte, und dem aufgeregten Gemurmel der anderen Flüchtlinge.

Nach einer langen Phase des Schweigens wandte sich Thao wieder zu Steven um.

„Ich mag dich wirklich, Steven, ich hätte doch sonst gar nicht mit dir geschlafen. Ich genieße es auch, wenn du bei mir bist, aber ich habe keine Lust auf noch eine Enttäuschung oder Trennung. Das verpacke ich im Moment einfach nicht. Und wenn ich dich so ansehe, dann tust du dich genauso schwer. Ich glaube dir, dass du etwas für mich empfindest, und halte dich für keinen Lügner, aber so richtig trauen tust du dir selbst nicht, stimmt doch, oder!?!"

Steven war von ihrem Statement sichtlich überrascht worden. Etwas überfordert mit dieser Situation blickte er auf ihren Nacken hinab. Dass er nicht zärtlich zu ihr sein durfte, ließ ihre Nähe für ihn zur Qual werden. Er versuchte sich auf ihre Frage zu konzentrieren, ließ sich mit seiner Antwort Zeit.

„Du hast recht, das tue ich wirklich nicht. Aber ich denke dauernd an dich, habe auf Handbetrieb umgestellt und meine bisherigen „Bekanntschaften" weggedrückt, wenn sie sich bei mir gemeldet haben. Das habe ich bisher für keine andere geschafft."

Sie lachte verhalten, verstummte aber schnell wieder. Es war wie damals bei ihm zu Hause auf der Treppe, sie schien für sich einen Entschluss fassen zu müssen.

„Hast du Lust, heute Nacht bei mir zu bleiben? Nur ein wenig poppen, mehr nicht?"

Steven seufzte.

„Siehst du, schon allein das. Früher hätte mich solch ein Angebot erleichtert, bei dir aber tut es einfach nur weh."

„Also lieber nicht?"

Ihre Stimme klang zwar enttäuscht, war aber sanft geblieben.

„Na klar doch. Ich bin froh, wenn du mir überhaupt irgendwas von dir gibst."

Sie lächelte, hob ihren Arm und strich ihm mit ihrer Hand über die Wange. Diese Geste hatte für Steven etwas Magisches und weckte Hoffnung, dass sie ihm gegenüber langsam auftauen würde.

„Wir machen es uns schön und alles Weitere werden wir sehen, okay? Gib mir einfach Zeit, im Moment passt es einfach nicht für mich."

Steven schüttelte den Kopf. Dass sie sich ihm immer wieder aufs Neue erklärte, nervte ihn. Aber er erwiderte nichts, lehnte sich gegen die Wand und lauschte dem Toben des Sturms.

Sechs Stunden später hatte der Wind etwas nachgelassen, von der versprochenen Hilfe fehlte allerdings nach wie vor jede Spur. Auch der Handyempfang war nur zeitweise möglich und die wenigen Telefonate, die zustande kamen, gaben der Gruppe nur wenig Hoffnung. Bäume lagen, nachdem sie vom Sturm entwurzelt worden waren, umgestürzt auf den Straßen. An einer Stelle musste einer der Deiche gebrochen sein, wodurch sich eine Flut über weite Teile des Umlandes ausgebreitet zu haben schien. Wenigstens ließ der Wind jetzt endlich nach und die jungen Menschen, aber auch deren Gastgeber hegten die Hoffnung, dass zumindest am nächsten Tag Hilfe kommen würde.

„Thao! Aufwachen! Wir werden abgeholt."

Die junge Frau schreckte aus dem Schlaf und fand sich im ersten Moment nicht wirklich zurecht. Erst, als sie in die müden Gesichter blickte, in denen sich jetzt Hoffnung, Erleichterung und Freude widerspiegelte, war sie wieder bei sich selbst.

„Wie spät ist es denn?"

Steven zückte sein Smartphone, es war halb vier vorbei.

„Drei Uhr achtunddreißig."

Thao wandte sich ungläubig zu ihm um.

„Wahnsinn. Und du hast gar nicht geschlafen?"

Steven verneinte.

„Was ist mit Hans und Erik?"

„Die haben sich mit ein paar anderen unterhalten. Ich glaube die haben sich richtig angefreundet."

„Mädels?"

Steven lächelte, schüttelte aber den Kopf.

„Nicht nur. Mein Gott, hast du eine schlechte Meinung von uns."

Zwei junge Männer vom Technischen Hilfswerk zählten die Leute ab, ließen eine Liste herumgehen und nahmen auch die Adresse des Hilfe leistenden Pärchens auf. Sie fragten die beiden Alten nach Schäden am Haus, ob sie dringend Hilfe benötigten oder ebenfalls mit dem Bus in eine Notunterkunft gebracht werden wollten. Gleich mehrere Konzertbesucher wollten die Gastfreundschaft der Landleute erwidern und boten ihnen ihre Heimstadt an, bis sich die Wetterlage endgültig geklärt hätte und die Schäden beseitigt worden waren. Doch die beiden wollten unbedingt bleiben, dankten aufrichtig für die vielen Angebote und schienen mit den Gefühlsausbrüchen der Jugend ein wenig überfordert zu sein. Man sah ihnen an, wie erleichtert die Alten waren, als der blaue Bus in die Nacht hinausfuhr, begleitet von einem Geländewagen der Bundeswehr.

Zwei Stunden später setzte man sie in der Stadt am Hauptbahnhof ab, wo sich die Gruppe verlief, nachdem sie alle herzlich voneinander Abschied genommen hatten. Man wollte sich auf dem nächsten Konzert der Band wiedersehen und es dieses Mal gemeinsam bis zum Ende genießen.

Vom Bahnhof aus nahmen sich Thao und Steven ein Taxi. Schweigend saßen sie nebeneinander, jeder für sich über den eigenen Gedanken brütend. Erst, als der beige Wagen in Thaos Straße einbog, richtete Steven wieder ein Wort an sie.

„Möchtest du immer noch, dass ich bei dir bleibe?"

Sie sah ihn an und lächelte.

„Klar. Und du?"

Ihre Entgegnung klang schnippisch und frech.

„Im Moment habe ich nichts anderes vor."

Thao lachte, beugte sich zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf seinen Mund.

„Na dann komm!"

Verwirrt sah er sie aus dem Wagen steigen, benötigte einen Moment, um sich zu sammeln, und wandte sich dann dem Fahrer zu, der das Pärchen gelangweilt beobachtet hatte. Er sah so etwas sicher zu oft, als dass er an solch einer Situation noch etwas Besonderes finden konnte.

„Warte mal!"

Den Schlüssel in ihrer rechten Hand haltend, blieb Thao an der Haustür stehen. Sie sah ihn fragend an, während er ihr sichtlich verwirrt folgte. Er nahm ihr Hand und blickte in ihre dunklen Augen.

„Hat sich zwischen uns irgendetwas geändert?"

„Ich weiß es noch nicht, Steven. Aber ich fühle mich gut, wenn du bei mir bist. Und jetzt komm, ich will nicht wieder nass werden."

Steven war der Regen nun völlig egal. Er wollte diesen besonderen Augenblick zwischen ihnen nutzen.

„Thao, ich mag dich wirklich."

Sie lächelte, ging einen Schritt auf ihn zu und küsste ihn erneut.

„Das ist bei dir schon ziemlich viel, oder?"

Steven runzelte die Stirn.

„Für dich selbst doch auch."

Sie zwinkerte ihm zu und wollte die Haustür aufschließen, als in diesem Augenblick das Flurlicht anging und Anelise eilig die Treppe herunter hetzte. Erstaunt blieb sie stehen, als sie Steven bemerkte, dann öffnete sie den beiden die Haustür.

„Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ein Glück, dass euch nichts passiert ist."

Thao lachte.

„Ach, es war ganz nett und guck mal, wir haben einen völlig neuen Look abgestaubt."

Anelise warf Steven immer wieder irritierte Blicke zu, irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das spürte Thao deutlich.

„Was ist los? Ist irgendetwas passiert? Wo ist Ashna?"

Erst jetzt war Thao aufgefallen, dass der kleine Hund nicht an Anelieses Seite war.

„Ich habe ihn ins Schlafzimmer gesperrt, mach dir keine Sorgen. Kommst du bitte mal, ich muss dir etwas erzählen."

„Gehst du schon mal nach oben, Steven?!?"

Der junge Mann hatte die Szene zwischen den beiden jungen Frauen mit Interesse verfolgt. Auch er schien zu spüren, dass irgendetwas mit Anelise nicht stimmte. Egal, was es auch war, es ging ihn nichts an und natürlich wollte er den beiden Frauen die Zeit geben, um darüber zu reden. Also nahm er Thao den Bund aus der Hand, ließ sich von ihr noch den richtigen Schlüssel zeigen und ging dann allein die Treppe nach oben.

Thao blickte ihm traurig hinterher, es störte sie, dass ihnen durch Anelise die Vorfreude auf das Gemeinsame genommen worden war. Aber es schien wichtig zu sein und sie stand, was das betraf, schließlich tief in der Schuld ihrer Freundin.

„Komm rein!"

Anelise zog Thao ungeduldig in ihre Wohnung, hieß sie im Wohnzimmer auf der Couch Platz nehmen und starrte sie dann lange Sekunden völlig ratlos an.

„Was ist denn nur los mit dir? Kein Bitte, kein Danke, ... du musst mich schon vorwarnen, wenn wir die Rollen tauschen."

Sie lachte und versuchte damit die Spannung zwischen ihnen zu lösen.

„Karl war hier."

Thao starrte sie ungläubig an. Ihr Mund öffnete sich langsam, von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesicht kreidebleich. Sie war unfähig, etwas zu sagen, blieb wie gelähmt sitzen, schweigend, nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

Anelise setzte sich neben sie, umarmte die Freundin und drückte sie an ihren Körper.

„Er wollte mit dir reden, Thao, und hat ein paar Stunden im Treppenhaus auf dich gewartet. Aber nachdem ich ihm erklärt habe, wo du bist und dass du evakuiert wirst, wollte er ein anderes Mal wiederkommen. Ich habe ihn hereingebeten, damit er hier auf dich warten hätte können, doch hielt er das für keine gute Idee. Ich glaube, er wollte dich nicht überfordern, nachdem du so viel Stress hattest."

Anelise wiegte Thaos Körper hin und her, doch ihre Freundin rührte sich nicht. Schweigend saß sie da, starrte vor sich hin, nicht einmal ihre Augen blinzelten. Hilflos wartete die junge Inderin, dass sich ihre Nachbarin fing, erst als sie sie loslassen wollte, zeigte Thao eine Reaktion, klammerte sich an ihr fest und fing leise zu weinen an.

Beruhigend sprach Anelise auf sie ein, streichelte sie, drückte sie immer wieder an ihren Körper. Sie hatte Mühe, diesen Gefühlsausbruch zu deuten, wusste nicht, ob sich ihre Freundin freute oder bedauerte, dass der Ex-Freund bei ihr aufgetaucht war. Weitere zehn Minuten vergingen, dann löste sich Thao langsam von Anelise, trocknete sich an ihrem Hemdsärmel die Tränen ab und war bemüht, ihre Fassung zurückzugewinnen.

„Anelise, sagst du bitte Steven Bescheid? Ich kann jetzt mit keinem außer dir zusammen sein."

„Soll ich ihm die Wahrheit sagen?"

Thao dachte kurz darüber nach und nickte schließlich.

„Ich melde mich bei ihm, sag ihm das."

Anelise stand entschlossen auf. Auch wenn ihr dieser Botendienst schwerfiel, verstand sie in diesem Moment, dass es nicht anders ging. Thao war wirklich nicht in der Lage, sich ihrem Bekannten zu erklären, zumal sie selbst nicht zu wissen schien, wie sie mit Karls Rückkehr in ihr Leben umgehen sollte.

So ging sie mit unsicheren Schritten die Treppe hinauf, klopfte an die Tür und sah, nachdem ihr Steven geöffnet hatte, in dessen besorgtes Gesicht.

„Was ist passiert? Geht es Thao gut?"

Anelise schüttelte den Kopf.

„Nein, überhaupt nicht. Ihr Ex-Freund war gestern da und wollte mit ihr reden."

Steven riss die Augen auf und glaubte, nicht richtig gehört zu haben. In dem Moment, in welchem er beinahe am Ziel gewesen war, sollte er Thao wieder verloren haben? Das konnte einfach nicht wahr sein.

„Kann ich mit ihr reden?"

Anelise verneinte sofort.

„Nein! Sie ist gar nicht in der Lage dazu, Steven."

Der junge Mann blickte die junge Inderin enttäuscht an, auch seine Ratlosigkeit zeigte sich in seinem Gesicht.

„Ich mag Thao sehr, Anelise."

Die junge Inderin verstand.

„Sie dich auch, Steven. Sie hat gesagt, dass sie sich bei dir melden wird, darauf kannst du dich verlassen."

Er gab nach. Was hätte er auch anderes tun sollen in diesem Moment.

„Meinst du, sie geht zu ihm zurück?"

Anelise hatte sich diese Frage auch schon gestellt.

„Ich weiß es nicht. Sie liebt ihn sehr, immer noch, aber er hat ihr auch so unglaublich wehgetan. Sie ist verwirrt, Steven, gib ihr die Zeit."

„Darf ich dich um etwas bitten?"

Anelise nickte.

„Gibst du mir deine Nummer? Ich möchte einfach wissen, wie es ihr geht."

Die kleine Inderin zögerte, wusste nicht, ob das vernünftig war, zeigte sich aber schließlich einverstanden. Steven sollte sich nicht quälen und Thao schadete sie damit ja schließlich nicht. Also diktierte sie ihm ihre Handynummer, ließ sich von ihm den Wohnungsschlüssel geben und geleitete ihn durch das Treppenhaus bis an die Haustür.

„Steven, mir tut das leid. Ich habe euch beide gesehen ..."

Er hob die Schultern.

„Mit Thao ist nichts einfach, aber vielleicht ist auch das der Grund, warum ich sie haben will. Egal. Ich hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht."

Er lächelte Anelise zu und drückte sie, trat dann wieder hinaus in die Nacht. Noch einmal hob er seinen Arm zum Abschied, dann ging er langsam durch den Regen die Straße entlang.

Anelise blickte dem jungen Mann traurig hinterher. Hoffentlich würde er gut nach Hause kommen.

Marter der Gefühle

Die darauffolgenden Stunden kamen für Thao einer regelrechten Tortur gleich. Sie fürchtete sich, dass Karl zurückkommen und sie mit seiner Absicht, zu ihr zurückkehren zu wollen, konfrontieren könnte. Ein Plan, wie sie mit einer solchen Situation umgehen sollte, kam ihr nicht in den Sinn. Seltsamerweise sorgte sie sich auch um Ella, obgleich diese ja der eigentliche Grund war, weshalb Karl sie verlassen hatte. Grund? Auslöser würde es wohl präziser definieren. Vielleicht, weil sie diesen unsäglichen Schmerz kannte, der damit einherging? Ella war jedoch gänzlich anders gestrickt als sie selbst, vielleicht fiel es ihr ja leichter? Thao glaubte nicht wirklich daran. Karl war eben Karl.

Als sie mit Steven noch im Taxi gesessen hatte, war seltsamer Druck auf ihrem Magen gelegen und sie hatte ziemlichen Hunger verspürt, jetzt allerdings war davon nichts mehr übriggeblieben. Latente Übelkeit, Krämpfe und Schwindel, ihr ganzes Nervenkostüm schien verrückt zu spielen. Hatte Karl noch immer so viel Macht über sie? Fing jetzt alles wieder von vorne an? Sie hatten sich schon einmal getrennt, geschuldet ihrer Eifersucht auf Simons Schwester. Auch damals war es ihr schrecklich ergangen und eine Welt war für sie zusammengebrochen. Waren der Verlust ihres Vaters und der ihrer Oma Ha schon kaum zu verkraften gewesen war, schien sich bei Karl der Schmerz nochmals zu potenzieren. Sie konnte ob dessen beinahe wahnsinnig werden und fühlte sich tatsächlich kaum noch zurechnungsfähig.

Thao lag auf Anelises Couch und brütete weiter, ihr Kopf wollte ihr keine Pause gönnen, ging immer und immer wieder ihre Erinnerungen, Ängste und Wünsche durch. Sie kam zu keinem abschließenden Ergebnis, was ihre Qual nur noch verstärkte.

„Du hast immer noch nichts gegessen und getrunken, Thao. Das macht mir echt Sorgen."

Anelise setzte sich auf den kleinen Streifen Polster, den Thao auf der Couch freigelassen hatte. Kurz blickte die Liegende zu ihr auf, immer noch Tränen in den Augen. Kein Wort kam ihr über die Lippen, neuerlich senkte sich ihr Kopf und die dunklen, glanzlosen Augen suchten wieder einen imaginären Punkt irgendwo im Nichts.

Sollte jetzt alles wieder von vorne beginnen? Anelise schloss die Augen, auch für sie war das letzte Jahr sehr schwer gewesen, allein schon deshalb, da sie ihrer Freundin stets beizustehen versucht hatte. Und jetzt? Wie konnte sie nach Indien reisen, wenn es Thao derart schlecht ging? Wer würde sich um sie kümmern? Vielleicht Anna? Die Kleine war stark und ihnen beiden eine gute Freundin.

„Ich will ihn nicht mehr, Anelise. Es tut zu weh, ich halte das nicht aus."

Thao biss sich auf ihre Unterlippe und schob ihre Hände zwischen ihre Oberschenkel.

„Ich will ihn auch nicht mehr wiedersehen."

Anelise blickte traurig auf Thao hinab. Sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten, zog es schließlich aber vor zu schweigen. Sanft streichelte ihre zierliche Hand über Thaos Schulter.

„Weißt du, was das Gemeine ist?"

Anelise verneinte leise.

„Ich muss mich mit ihm auseinandersetzen, er lässt mir gar keine Wahl."

„Schreib ihm doch! Du hast die Adresse seiner Eltern, die können den Brief dann an ihn weiterleiten."

Thao überlegte, die Idee ihrer Freundin hatte etwas für sich. Aber ob Karl dies auch akzeptieren und keine weiteren Kontaktversuche mehr unternehmen würde? Sie glaubte nicht wirklich daran, ungeachtet dessen, was auch immer sie schreiben würde.

„Ich wäre so gerne wieder frei. Niemand, der mir in mein Leben fuscht, irgendwelche Erwartungen in mich setzt, nicht in meine Gedanken drängt oder mir Sorgen macht. Kannst du mich da verstehen?"

Anelise nickte.

„Sehr gut sogar. Mir geht es da nicht anders."

Thao sah sie an und verstand sofort.

„Es tut mir so leid, du machst so viel durch mit mir."

Die kleine Inderin lächelte.

„Ich hab dich lieb, da spielt das keine Rolle."

Thao raffte sich auf, umarmte ihre Nachbarin und küsste sie auf die Wange.

„Ich dich auch! Du bist ein Engel."

Beide schwiegen, jede für sich mit ihren Gedanken beschäftigt. Anelise dachte an Indien und all das, was sie hier zurücklassen würde, während Thao nach einem gangbaren Weg suchte, um mit der Situation umgehen zu können.

Am Nachmittag schien sich Thao wieder weitgehend gefangen zu haben. Nach einem ausgedehnten Spaziergang mit Ashna auf dem Deich schaute sie kurz in ihrer Wohnung vorbei. Als sie anschließend wieder zu Anelise zurückkehrte, wirkte sie bedeutend gelöster. Auf der Couch sitzend klopfte sie auf ihren Oberschenkel, woraufhin der Spitz sofort hinaufsprang, um es sich in ihrem Schoß gemütlich zu machen.

„Du fährst in ein paar Wochen und eigentlich wollte ich ja so viel Zeit mit dir verbringen, wie nur irgend möglich. Andererseits würde es mir guttun, wenn ich ein paar Tage zu Xena fahre. Ich kann dort abschalten und brauch keine Angst haben, dass er wie aus dem Nichts plötzlich vor meiner Tür steht."

Anelise nickte, dieser Gedanke war ihr auch schon gekommen. Thao griff nach ihrem Mobiltelefon, ohne von der Couch aufzustehen oder den Raum zu verlassen. Zwischen Anelise und ihr gab es keinerlei Geheimnisse, sie bat ihre Freundin sogar, neben ihr sitzen zu bleiben. Sie wählte Xenas Festnetznummer, doch niemand hob ab. Wahrscheinlich war sie bei Margarete.

„Also Handy."

Thao rang sich ein Lächeln ab, griff kurz nach Anelises Hand und wählte dann Xenas Mobilfunknummer.

„Sie geht nicht ran."

Thao runzelte die Stirn. Sie hatte fest auf diese Möglichkeit gebaut. Sollte sie vielleicht zu ihrer Mutter fahren? Keine gute Idee, zu groß war die Gefahr, dass sie zufällig auf Karl, Harald oder Katja stoßen könnte. In dem Moment, als sie ihr „Scheiße" loswerden wollte, klingelte Anelises Telefon.