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Argonauta Kapitel 12-22

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„Du meinst, dass Florian alte Wunden wieder aufgerissen hat?"

„Ja, genau. Verstehst du jetzt, warum ich nach unserem One Night Stand einfach geflüchtet bin? Ich hatte auf einmal das Gefühl, Tom betrogen zu haben."

„Aber das hast du nicht", antwortete Melina, die nun selbst den Tränen nahe war, so sehr hatte sie Julias schockierende Geschichte mitgenommen.

„Es fühlt sich aber genauso an. Ich fühle mich jedes Mal, wenn ich Florian sehe, als würde ich Tom durch ihn ersetzen und das kann ich einfach nicht. Deshalb kann ich nicht mit ihm zusammen sein. Nachdem er sich bei unserem letzten Treffen wie ein Arsch benommen hat, will ich das auch gar nicht." Julia ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte wütend auf die Bettdecke ein. „Und jetzt muss dieser Vollidiot von allen Schiffen dieser Welt ausgerechnet auf dem gleichen sein wie ich."

Melina wischte ihrer Freundin eine Träne aus dem Gesicht. „Komm, Süße. Jetzt duschen wir erst einmal zusammen. Du wirst sehen, danach wird die Welt wieder ganz anders aussehen."

„Zusammen?", fragte Julia und zog eine Augenbraue nach oben.

Ein diebisches Grinsen stahl sich in Melinas Gesicht. Sie erhob sich und zog Julia mit sich. Lachend sagte sie: „Du wirst überrascht sein, aber die Duschkabinen sind erstaunlich geräumig ... "

*******

So früh am Morgen herrschte auf dem Arbeitsdeck noch andächtige Stille. Während sie unter der Dusche gewesen waren, hatte sich ein Wetterumschwung vollzogen. Der Wind blies kräftig und schaukelte die See auf. Dichte Gardinen aus trübgrauen Wolken verhüllten den Himmel, brachen auf und schütteten Tränen aus Regen aus. Trotz des unruhigen Wetters glitt die Argo tapfer und ruhig über die Wellenkämme. Der Regen hatte das Arbeitsdeck wie Schmierseife in einen rutschigen Untergrund verwandelt, auf dem man kaum sicher gehen konnte, ohne alle paar Schritte auszugleiten.

Als Julia das Arbeitsdeck betrat, fröstelte ihr leicht. Regen peitschte in ihr Gesicht. Zitternd rieb sie sich die nackten Arme, um ihre Gänsehaut zu vertreiben. Sie hätte sich besser eine Jacke über ihr Top gezogen.

Melina hatte vorgeschlagen, gleich zum Frühstück zu gehen, nachdem die beiden mit dem Duschen fertig gewesen waren, sich gegenseitig mit dicken, flauschigen Handtüchern abgetrocknet und sich dann frische Kleidung angezogen hatten. Aber Julia wollte vor dem Frühstück noch etwas frische Luft schnappen, also hatte sie ihre Freundin allein los geschickt und ihr gesagt, dass sie in zehn Minuten nachkommen würde und einen kurzen Abstecher auf das Arbeitsdeck gemacht, das im Moment noch vollkommen menschenleer war. Julia blickte sich um, versuchte etwas zu erkennen, doch überall reichte ihr Blickfeld nur gut hundert Meter weit, dahinter verschwand alles in einer dunstigen Wand aus rauchigem Nebel und Regen.

Gedankenverloren starrte Julia in die Ferne. Sie fragte sich, wo sie gerade waren. Vermutlich hatten sie die Moreton Bay mit ihren zahlreichen Inseln bereits hinter sich gelassen und fuhren nun weiter nordwärts die Gold Coast entlang, aber so ganz ohne die Küstenlinie zu sehen, war es, ohne jegliche nautischen Kenntnisse und ohne einen Blick auf die Instrumente auf der Brücke zu werfen, unmöglich zu sagen, wo genau sie sich gerade befanden. Irgendwo im Norden musste sich das erste Zwischenziel ihrer Reise befinden, Fraser Island. Aber Julia wusste nicht, wann genau sie dort ankommen würden. Sie hoffte aber inständig, dass das Wetter bei ihrer Ankunft besser sein würde.

„Guten Morgen."

Julia wirbelte herum. Als ihr Blick den des jungen Mannes kreuzte, der in einigen Metern Abstand zu ihr stand, verfinsterte sich ihre Miene schlagartig. Florian. Na toll, der Morgen fing ja schon gut an!

„Was willst du denn hier?", fauchte sie kratzbürstig.

„Dir ein Versöhnungsangebot überreichen", antwortete Florian und deutete mit seinem Blick auf zwei Becher dampfenden Kaffes, die er in seinen Händen hielt. Einen davon streckte er in Julias Richtung aus.

Anstatt den Becher zu greifen, entgegnete Julia eingeschnappt: „Ich trinke keinen Kaffee."

„Sorry, das wusste ich nicht. Ich kann aber gern noch einmal zurückgehen und dir etwas anderes holen, wenn du möchtest. Was willst du denn?"

„Meine Ruhe."

„Schön", antwortete Florian gereizt, machte aber keine Anstalten, zu gehen. Die Sekunden verstrichen. Eins, zwei, drei, ...

„Bist du taub? Du sollst verschwinden, hab' ich gesagt!", zischte Julia erregt.

„Nein, du sagtest, dass du deine Ruhe haben willst. Also bin ich still. Von Weggehen war nicht die Rede."

„Mensch, Florian", sagte Julia genervt, „du bist so ein Vollidiot. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?"

„Weil ich mich bei dir wirklich entschuldigen will. Was ich da zu dir gesagt habe, war nicht in Ordnung."

„Ach, das ist dir auch schon aufgefallen? Na herzlichen Glückwunsch. Deine Entschuldigung kannst du dir von mir aus sonst wohin schieben."

„So kann das doch nicht weiter gehen mit uns!", sagte Florian wütend.

„Da hast du verdammt noch mal recht."

„Also, was schlägst du vor?"

„Ist doch ganz klar, einer von uns muss das Schiff verlassen", stellte Julia fest.

„Das werde ich ganz bestimmt aber nicht sein", entgegnete Florian entschieden. „Ich habe zig Monate an Vorarbeit in diese Reise investiert, unzählige Stiftungen abgeklappert, die finanzielle Mittel lockermachen würden und wochenlang alle notwendigen Anträge und Dokumente ausgefüllt. Ich kann jetzt keinen Rückzieher machen."

„Ich aber auch nicht", sagte Julia und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Ich habe mich so sehr auf diese Reise gefreut und jetzt kommst du und musst mir alles kaputt machen."

„Hör zu, meinst du etwa, ich hätte mir ausgesucht, mit dir auf diesem Schiff gefangen zu sein? Ich wusste nicht, dass du ebenfalls auf der Argo sein würdest. Ich wusste noch nicht einmal, dass du Biologin bist. Woher auch? Du gehst mir ja ständig aus dem Weg und redest nicht mit mir!"

Julia lachte schrill auf. „Ich wüsste nicht, was wir beide miteinander zu bereden hätten."

„Bitte", flehte Florian, „es muss doch einen Weg geben, wie wir miteinander klar kommen. Wir wollen doch beide nicht von diesem Schiff runter, richtig?"

Nachdenklich kaute Julia auf ihrer Lippe. Eine dumme Angewohnheit von ihr, die sie immer zeigte, wenn sie von innerer Unruhe gepackt wurde.

Natürlich hatte Florian recht. Im Grunde waren sie doch beide zwei erwachsene und zivilisierte Leute, die vernünftig miteinander umgehen können sollten. Außerdem verspürte Julia keine große Lust, wegen dieses Mannes ihren großen Traum aufzugeben. Wenn sie dafür in Kauf nehmen musste, mit ihm zusammen zu arbeiten, musste sie wohl oder übel einen Schritt auf ihn zu gehen.

„Na schön", sagte sie diplomatisch, „ich schlage einen Waffenstillstand vor, einverstanden?"

„Einverstanden."

„Wir ... vergessen unseren Streit und bemühen uns ab sofort darum, professionell miteinander zu kooperieren. Wir reißen uns nicht gegenseitig die Köpfe ab und gehen uns nicht an die Gurgel, wenn einer von uns auf den anderen trifft."

„Prima", sagte Florian. Seine Miene erhellte sich. „Dann ist zwischen uns jetzt wieder alles im Lot? Willst du jetzt den Kaffee haben?"

Julia seufzte. „Wir arbeiten vielleicht zusammen", stellte sie klar. „Aber das macht uns noch lange nicht zu Freunden, verstanden? Zwischen uns läuft absolut nichts Privates. Was mich betrifft, haben wir beide ausschließlich und notgedrungen beruflich miteinander zu tun."

Sie wandte sich zum Gehen um. Kurz hielt sie noch einmal inne und sagte schnippisch: „Außerdem sagte ich dir bereits, dass ich keinen Kaffee trinke. Wenn du mich bitte entschuldigst, ich gehe jetzt frühstücken."

Dann war sie verschwunden und ließ Florian völlig ratlos auf dem Arbeitsdeck allein zurück. Die beiden Becher in seinen Händen dampften immer noch vor sich hin.

Kapitel 14: Orientierungslos

Schmerzen. Nichts als unerträgliche Schmerzen. Nur langsam öffnete Donald Singer blinzelnd seine Augenlider. Selbst das Licht, das nun, als die Lider wie Vorhänge beiseitegeschoben waren, durch seine geweiteten Pupillen auf die Netzhäute fiel, verursachte einen stechenden Schmerz. Ihm war übel und er verspürte das dringende Verlangen sich zu erbrechen.

Wo bin ich hier?, fragte er sich.

Seine Schläfe pochte. Verwirrt fasste er vorsichtig tastend daran und zuckte schmerzerfüllt zusammen. Was, zum Teufel, ging hier nur vor sich?

Singers Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit. Das heißt, viel eher an die Dunkelheit. Denn jetzt, wo sich seine Augen an das Licht adaptiert hatten, stellte Singer fest, dass es gar nicht so hell war. Er befand sich in einem kleinen Raum von annähernd quadratischer Grundfläche. Es gab keine Fenster, nur eine Holztür, zusammengenagelt aus ungehobelten Brettern auf der ihm gegenüberliegenden Seite. Eine einzelne Glühbirne hing an einem Kabel von der Decke, die einzige Lichtquelle im Raum. In der Kammer roch es feucht und moderig. Die Luft war kühl. Erst jetzt stellte er beinahe beiläufig fest, dass er fror.

Mein Gott, wo bin ich hier nur gelandet?

Vielleicht ein Keller. Singer schaute sich weiter um. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte. Die Wände waren allesamt nackt. Putz bröckelte an vielen Stellen von ihnen ab und gab den Blick auf rote Ziegelsteine frei. Ein alter, dreibeiniger Schemel und ein wackeliger Beistelltisch zu seiner Rechten sowie eine unbequeme Holzpritsche, auf der er sich nun mühsam aufrichtete, waren, abgesehen von einem uralten und keimig aussehenden Waschbecken und einer noch ekligeren und total verdreckten Toilette, die in die linke Wand eingelassen waren, die einzigen Einrichtungsgegenstände in diesem Raum. War er vielleicht in einer alten Gefängniszelle? Gut möglich. Bei näherer Betrachtung erwies sich die Tür als ziemlich massive Konstruktion. Sie war mit rostigen Beschlägen aus Schmiedeeisen verstärkt und auf Augenhöhe war eine kleine Klappe eingelassen, ganz so als handele es sich dabei um eine Durchreiche für Speisen.

Sonst gab es in dem kleinen Raum nichts weiter zu sehen. Die Luft roch moderig und abgestanden. Der Boden schimmerte feucht und war völlig verdreckt mit Resten des bröckeligen Mauerputzes.

Mühsam versuchte Singer sich zu besinnen, was vorgefallen war. Wie, um alles in der Welt, war er nur in diesem Loch gelandet? Sein Schädel dröhnte. Er fasste sich an die Stirn und fühlte krustigen Schorf. Offenbar war er k. o. geschlagen worden. Diese Vermutung würde jedenfalls seinen dröhnenden Schädel und die nicht mehr ganz frische Platzwunde am besten erklären. Wie lange er wohl außer Gefecht gesetzt gewesen war?

„Hallo?", rief Singer in die lautlose Stille hinein.

Keine Reaktion. Einzig das widerhallende Echo seiner eigenen Stimme antwortete ihm. Singer rappelte sich mühsam hoch, ignorierte dabei den stechenden Schmerz, der durch seine Stirn zuckte, und suchte den Raum ab. So sehr er sich auch bemühte, er fand keinen Hinweis, der ihm irgendetwas hätte erklären können. Im Grunde genommen konnte sich dieses Kellerverließ überall in einer so großen Stadt wie Brisbane befinden. Falls er überhaupt noch in Brisbane war. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Theoretisch bestand deshalb die Möglichkeit, dass er sich auch irgendwo außerhalb der Stadt befinden konnte.

„Hallo?", fragte Singer erneut. „Ist da jemand?"

Nur langsam kehrten einige Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein zurück. Doch es waren nur winzige Bruchstücke, die kein einleuchtendes Gesamtbild ergeben wollten. Er erinnerte sich daran, dass er in seinem Büro gesessen hatte. Wie lange das wohl schon her sein mochte?

Immer wieder geisterte ein bestimmtes Wort in seinen Gedanken herum: Danaë. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte das Wort in keinen sinnvollen Zusammenhang zu irgendetwas bringen. Hatte er vielleicht ein Buch über griechische Mythologie gelesen?

Singer schalt sich bei diesem Gedanken selbst Ohrfeigen. Er hatte wirklich andere Probleme als sich den Kopf über derartige Nebensächlichkeiten zu zermartern. Viel wichtiger war doch, was ihn in diese Lage gebracht hatte. Und noch wichtiger war, wer ihn in dieses Loch gesteckt hatte und warum?

Plötzlich hörte Singer, wie auf der anderen Seite der Tür ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wurde. Dann ein lautes Rütteln, offenbar klemmte der Schließmechanismus gehörig.

Hoffentlich bricht der Schlüssel nicht ab, sonst komme ich nie hier heraus, dachte der Professor.

Der Schlüssel drehte sich, das Schloss klickte. Mit einem lauten Poltern wurde die Tür aufgeschoben. Ein gelber Lichtfetzen fiel durch den geöffneten Spalt in die Zelle. Dann schob sich der Schemen einer menschlichen Gestalt durch die Tür.

„Du bist endlich wach", sagte der Fremde.

Singer schielte zur Tür. Das war seine Chance. Wenn er jetzt aufstand, konnte er womöglich den Fremden überrumpeln und umwerfen. Doch der Moment verstrich und anscheinend konnte der Unbekannte seine Gedanken lesen.

„Das würde ich lieber nicht versuchen, Arschloch", sagte er drohend. „Wenn du versuchst zu fliehen, schneide ich dir die Eier ab und stopfe sie deiner Frau und deiner Tochter ins Maul. Jeder von ihnen eine deiner schrumpeligen Klöten."

Oh Gott, Lydia und Lucie!, dachte Singer. Hoffentlich ging es den beiden gut. Ob wer immer ihn entführt hatte auch seine Familie in seiner Gewalt hatte?

Der Unbekannte trat ins Licht und stierte Singer aus kalten Augen an. Der Professor erkannte ihn sofort. Es war der Kerl, der ihm den Schlag gegen den Kopf verpasst hatte. Träge setzte sein Gedächtnis dieses Puzzleteil an die richtige Stelle. Er erinnerte sich nun auch daran, dass der Mann nicht alleine gewesen war. Ein zweiter Mann war ebenfalls bei ihm im Büro gewesen. Viel älter, kultivierter. Aber nicht minder gefährlich wirkend. Er erinnerte sich daran, dass der Ältere den anderen Renner genannt hatte.

„Was ... was wollen Sie von mir, Renner?", brachte Singer mit vor Angst bebenden Lippen mühsam hervor.

Renner versetzte der Tür mit dem Fuß einen Tritt, die daraufhin krachend ins Schloss fiel. In der einen Hand hielt er ein Tablett, auf dem ein Teller mit Sandwiches und eine Flasche Mineralwasser standen. Er stellte das Tablett auf den wackeligen Tisch und sagte: „Der Boss will, dass du was isst."

„Danke, aber mir ist der Appetit vergangen", sagte Singer zynisch.

„Renner entgegnete achselzuckend: „Ist mir scheißegal, Arschloch. Du bist mir scheißegal. Bleibst du halt hungrig."

„Ich ... habe Kopfschmerzen", sagte Singer.

Renner grinste. „Kann ich mir vorstellen. War ein ordentlicher Schlag, den ich dir verpasst habe."

„Hätten ... hätten Sie eventuell eine Kopfschmerztablette für mich?"

„Aber natürlich, ich werde sofort eine holen."

„Danke sehr."

Renner lachte laut auf. „Das war ein Witz, Wichser. Was denkst du denn, wo du hier bist? Etwa im Four Seasons?"

„Ich weiß nicht, wo sind wir hier?"

„Finde es selbst heraus, Professor. Ich bin nicht die Auskunft."

Renner verließ den Raum, nicht, ohne Singer zuvor noch einen bösen Blick zuzuwerfen. Krachend fiel die Tür ins Schloss und das Rasseln des Schlüssels verriet Singer, dass er wieder eingesperrt war. Von draußen hörte er die hallenden Schritte Renners, die nach und nach immer leiser wurden.

Er wartete noch eine Minute, vielleicht auch zwei. So genau konnte er es nicht sagen, ohne jedes Tageslicht hatte er jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Als er sich sicher sein konnte, allein zu sein, stürzte er auf und war in wenigen Sätzen am Tisch mit dem Tablett angelangt. Die Sandwiches rührte er trotz eines lauten Magenknurrens nicht an. Stattdessen griff er die Mineralwasserflasche. Sie fühlte sich kalt und schwer in seinen zitternden Händen an. Das war gut. Noch besser war, dass die Flasche aus Glas war. Er drehte den Verschluss auf, trank eilig wie ein Verdurstender in der Wüste die Flasche leer. Die Kohlensäure stieg ihm in den Kopf. Beinahe verschluckte er sich, nach dem letzten Schluck entwich ihm ein leiser Rülpser. Es war ihm ein bisschen peinlich, aber hier unten konnte ihn sowieso niemand hören.

Dann lauschte Singer. Stille. Er war allein. Renner war fort. Keine Ahnung, wo er hin war. Nur würde er hoffentlich nicht zu bald wieder kommen. Der Blick des Professors schweifte durch den Raum. Sein enges Gefängnis mochte zwar altertümlich wirken, aber vielleicht wurde er von seinen Entführern trotzdem überwacht. Es war erstaunlich, wie winzig Kameras und Wanzen heutzutage waren. Man konnte sie nahezu unbemerkt in so ziemlich jedem harmlos wirkenden Gegenstand verstecken. Aber er konnte nichts entdecken. Dennoch war er sich unsicher. Was, wenn er vielleicht nicht genau genug geschaut hatte? Wenn es doch irgendwo eine Überwachungskamera gab? Singer beschloss, das Risiko einzugehen. Es war ohnehin seine einzige Chance, die ihm blieb.

Er zog sich eilig sein schmutziges Hemd aus. Dann wickelte er die leere Glasflasche darin ein, packte sie am dünnen Flaschenhals und holte zu einem kräftigen Schlag gegen die Ziegelmauer aus. Hoffentlich würde sein Hemd wie geplant die Geräusche dämpfen. Was er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, war Aufmerksamkeit auf sich zu richten.

Die Flasche prallte gegen die Wand. Es funktionierte. Dumpf schlug sie auf, trotzdem kam es ihm wie das laute Krachen eines Gewitters vor. Dort, wo die Flasche in die Wand einschlug, hinterließ sie im Putz einen unansehnlichen Krater. Der Schlag war allerdings nicht kräftig genug und die Flasche blieb heil. Singer holte erneut aus, diesmal etwas weiter. Mit mehr Kraft schlug er zu und diesmal klappte es. Er hörte es klirren als die Flasche in etliche scharfkantige Teile zerschellte. In der Hand hielt er den Flaschenhals, eine lange, gezackte Spitze hing noch daran.

Perfekt. Singer befühlte die scharfe Kante. Beinahe hätte er sich selbst daran geschnitten. Er grinste in sich selbst hinein. Mal sehen, ob Renner sich freuen würde, wenn er ihm diese Scherbe ins Fleisch stoßen würde. Er hatte keine Ahnung, wann Renner zurückkommen würde, aber zweifelsohne musste er irgendwann wieder auftauchen, um das Tablett abzuräumen. Oder um ihn abzuholen und zu seinem Boss zu bringen.

Geduldig setzte Singer sich mit der Scherbe in der Hand auf die Pritsche. Er legte sich hin, schloss die Augen, lauschte in die Stille hinein und wartete.

Kapitel 15: Ein stummer Zeuge

Annie zeigte ihren Polizeiausweis. „Mein Name ist Constable Blackthorne. Ich bin von der Queensland Police", stellte sie sich vor.

Die ältere Dame runzelte irritiert die Stirn. Polizei? In den Räumen der Fakultät für Kunsthistorik? Was das wohl bedeuten sollte?

„Ma'am, ich bin hier, wegen Prof. Singer", sagte Annie.

„Oh, ich fürchte, da müssen Sie später wieder kommen. Der Professor ist noch nicht im Hause."

Annie horchte neugierig auf. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor zehn. „Ist das ungewöhnlich?", fragte sie, „ich meine, ist Prof. Singer immer so spät dran?"

Die Sekretärin antwortete pflichtbewusst: „Eigentlich nicht. Normalerweise ist der Professor nie unpünktlich. Er ist eigentlich sogar immer vor mir da."

„Dann ist es also nicht üblich, dass Prof. Singer so spät kommt?"

„Nein, ganz und gar nicht", antwortete die Sekretärin. Dann fiel ihr etwas ein. „Jetzt, wo Sie es erwähnen, eigentlich müsste der Professor in einer Viertelstunde eine Vorlesung halten. Dass er noch nicht da ist, ist wirklich sehr merkwürdig."

Annie bat die Sekretärin, in Singers Terminkalender nachzuschauen, ob er eventuell einen wichtigen Außentermin, sich krank gemeldet oder aus irgendeinem anderen Grund die Vorlesung abgesagt habe.

„Nein, Miss Blackthorne", antwortete die Sekretärin, „Mr. Singer hat mir keine Nachricht hinterlassen und auch keine Nachricht auf dem AB hinterlassen."

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