Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Argonauta Kapitel 12-22

ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

„Hat er in seinem Terminkalender vielleicht selbst eine Eintragung vorgenommen und nur vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen?"

„Das ist unmöglich. Prof. Singer und ich arbeiten seit Jahren äußerst vertrauensvoll zusammen. Die Terminabsprachen überlässt er ausschließlich mir. Auf diese Weise bleibt ihm mehr Zeit, die er seiner Forschungstätigkeit widmen kann."

Das war interessant. Annie überlegte. Passte es ins Bild, dass ein Universitätsprofessor einfach so vergaß, dass er eine Vorlesung halten musste? Wohl eher nicht. Es sei denn, Singer war einer von der Sorte „zerstreuter Professor".

„Könnte es sein, dass der Professor seine Vorlesung einfach vergessen hat?"

„Nein. Prof. Singer ist einer der zuverlässigsten Leute, die ich kenne", antwortete die Sekretärin, in deren Stimme der nervöser Unterton von Beunruhigung mitschwang. „Warum fragen Sie das überhaupt? Ist dem Professor etwa etwas zugestoßen?"

Annie überlegte, wie viel sie der Sekretärin sagen sollte. Sie beschloss, dass Ehrlichkeit der beste Weg wäre. „Ma'am, ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Prof. Singers Frau hat gestern auf unserer Wache angerufen und ihren Mann als vermisst gemeldet."

„Vermisst?", horchte die Sekretärin erschrocken auf.

„Beruhigen Sie sich, Ma'am", sagte Annie beschwichtigend, „normalerweise werden wir erst nach frühestens vierundzwanzig Stunden tätig. Im Moment gehen wir nicht davon aus, dass wirklich etwas passiert ist. Ich möchte nur sicher gehen, dass wir keinen Fehler machen."

„Oh, ach so."

„Ma'am, wäre es vielleicht möglich, einen Blick in Prof. Singers Büro werfen zu dürfen?"

„Ich weiß nicht recht", antwortete die alte Dame zögernd, „normalerweise lasse ich niemanden zu Prof. Singer ins Büro, der keinen Termin bei ihm hat."

„Würden Sie bitte eine Ausnahme machen?", fragte Annie höflich. „Nicht für mich, Ma'am. Für seine Frau, Lydia, so heißt sie doch, oder? Kennen Sie sie? Sie ist beunruhigt und ich bin mir sicher, es würde ihr enorme Erleichterung verschaffen, wenn ich einen ganz kurzen Blick ins Büro ihres Mannes werfen dürfte, um ihr zu bestätigen, dass sie sich keine Sorgen machen muss."

„Also gut, folgen Sie mir", sagte die Sekretärin und erhob sich.

Sie führte Annie einen breiten Gang entlang. Es roch nach abgestandener Luft, leicht modrig und nach vergilbtem Papier. Vor einer großen Eichenholztür blieb sie stehen, hielt den elektrischen Türöffner gegen das Lesegerät und mit einem leisen Piepsen wurde die Tür entriegelt. „Bitte sehr, Constable. Aber bitte nur einen kurzen Augenblick."

Annie trat in Singers Büro. Es war genauso wie sie es sich vorgestellt hatte. Annie zog sich routiniert ein Paar frischer Nitrilhandschuhe über.

Draußen vor dem Fenster stand ein Pallisanderbaum, der kräftig blühte und durch dessen knorrige Äste schwaches Morgenlicht ins Büro fiel. In der Mitte befand sich ein schwerer Schreibtisch, auf dem neben einem modernen Flachbildschirm etliche Akten, Ablagefächer und eine Mappe lagen. Die Wände waren mit zahlreichen Gemälden behangen. Einige kannte Annie sogar, weshalb sie davon ausging, dass es lediglich Reproduktionen waren. Alles in allem ein völlig normales Büro.

„Fällt Ihnen etwas auf?", fragte Annie, „Ist irgendetwas anders als sonst?"

„Nein", antwortete Singers Sekretärin. „Obwohl, doch ... das da", sagte sie und zeigte auf eine Jacke, die über der Rückenlehne hing, „das ist Prof. Singers Jacke. Die lässt er für gewöhnlich nie hier."

„Das heißt, wenn die Jacke da ist, ist der Professor normalerweise auch anwesend?"

„Genau."

„Aber Sie haben ihn heute definitiv noch nicht gesehen?"

„Nein. Wie gesagt, Prof. Singer ist immer vor mir da. Ich muss mich morgens nicht einmal um den Kaffee kümmern, weil er das selbst macht."

„Und heute war der Kaffee noch nicht fertig?"

„Nein, heute habe ich selbst welchen aufgesetzt."

Annies Blick wanderte durch den Raum. Mit Ausnahme der Jacke schien alles an seinem Platz zu sein. Dann fiel ihr etwas auf.

Mitten auf dem Tisch stand eine kleine Bronzestatuette. Ein Frauenakt, der ein unbekleidetes junges Mädchen zeigte, das in der Hocke saß und in seinen Händen einen Frosch hielt. „Diese Bronzestatue da", sagte Annie, „steht die immer da?"

„Ja", antwortete die Sekretärin, „Die steht immer auf Prof. Singers Schreibtisch. Er benutzt sie als Briefbeschwerer."

Nachdenklich kratzte sich Annie die Stirn. „Aber finden Sie nicht, dass der Platz irgendwie komisch gewählt ist? Ich meine, so mitten auf dem Schreibtisch? Da bleibt doch für's Arbeiten kaum Platz."

„Stimmt, Sie haben recht, Miss Blackthorne. Normalerweise steht die Statuette weiter am Rand, genau dort, neben dem Schreibtischset."

Sie deutete auf eine bronzene Ablage für alte Federhalter, die beiderseits von zwei Gefäßen begrenzt war. Annie wusste, dass sie früher Tinte und Löschsand enthalten hatten. Aber gewiss erledigte der Professor seine Arbeit heute nicht mehr damit und hatte die Sachen wohl nur zu Dekorationszwecken dort stehen.

Annie ging zum Schreibtisch und streckte den Arm aus.

„Darf ich?", fragte sie höflich.

„Ja, natürlich."

Annie nahm die Statuette in die Hand. Sie musterte sie aufmerksam, drehte und wendete sie. Aber sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Gerade, als sie die Figur wieder an ihren Platz stellen wollte, fiel ihr etwas auf.

Genau dort, wo noch vor wenigen Sekunden die Statuette gestanden hatte, befand sich ein kreisrundes Loch mitten im Schreibtisch.

Ein Einschussloch, schoss es der Polizistin durch den Kopf und sofort war sie erregt.

Auch der Sekretärin war das Loch im Schreibtisch aufgefallen.

„Du meine Güte, was ist denn das?", fragte die alte Frau.

„Sieht aus wie ein Einschussloch", sagte Annie.

Die Sekretärin hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott", sagte sie besorgt.

Annie zückte ihre Taschenlampe, die zur Standardausrüstung gehörte, und leuchtete das Loch aus. Das Projektil war entfernt worden. Vielleicht mit Hilfe einer Pinzette. Vielleicht würde die Spurensicherung anhand des Durchmessers die Projektilgröße bestimmen können.

„Sagen Sie, gibt es in diesem Haus eine Überwachungskamera?", fragte Annie.

Die Sekretärin antwortete geistesabwesend: „Nein. Das heißt, doch, im Flur. Aber die ist schon seit Wochen kaputt und die Hausmeisterin hat sie noch nicht repariert."

Verdammt, dachte Annie. Und nun?

Dann hatte sie eine Idee. Sie ließ die Sekretärin in Singers Büro stehen, ignorierte deren besorgtes: „Warten Sie!" und rannte den Flur entlang nach draußen. Sie verließ das Gebäude und schaute auf die andere Straßenseite. Ein kleines Straßencafé befand sich genau gegenüber.

Ein junger Kellner, womöglich ein Student, war gerade damit beschäftigt, die Stühle von den Tischen herunter auf den Boden zu stellen.

Annie querte die Straße. „Entschuldigen Sie, hat dieses Café eine Überwachungskamera?", fragte sie.

Der Kellner antwortete mit einem stummen Kopfnicken.

„Könnten Sie mir bitte die Aufnahmen von gestern zeigen?"

Schulterzuckend antwortete der Mann: „Da muss ich erst meinen Chef fragen."

„Tun Sie das bitte, es ist wirklich wichtig."

Der Kellner verschwand im Café. Wenig später trat er wieder heraus und führte Annie nach drinnen und dirigierte sie zum Büro. Annie setzte sich auf einen klapprigen Stuhl und ließ sich die Bilder der Überwachungskamera zeigen.

Zum Glück war der Winkel günstig und die Kamera hatte auch den Eingang des Instituts für Kunstgeschichte im Blick. Die Qualität des Bildes war allerdings schlecht und ziemlich grobkörnig.

Trotzdem besser als gar nichts, dachte Annie und startete die Aufnahme.

Sie hielt den Atem an, als ein großer, weißer Lieferwagen vor dem Haus anhielt und zwei Männer ausstiegen. Sie konnte die Gesichter nicht erkennen, denn sie zeigten der Kamera nur ihre Hinterköpfe. Der eine musste aber schon älter sein, denn er ging leicht gebückt und stützte sich auf einen Stock, der andere deutlich jünger. Beide gingen ins Institutsgebäude. Mehrere Minuten lang passierte gar nichts. Dann öffnete sich die Tür wieder. Der ältere Mann trat zuerst heraus und ging zur Hecktür des Lieferwagens. Obwohl er der Kamera sein Gesicht nun zuwandte, war die Bildqualität so schlecht, dass man unmöglich eine genauere Beschreibung des Mannes hätte geben können. Annie hatte schon deutlich bessere Aufnahmen des Bigfoot gesehen.

Dann trat sein jüngerer Begleiter heraus, jedoch mit dem Rücken zur Kamera. Er hatte sich nach vorne gebeugt und zog etwas Schweres über die steinernen Treppenstufen. Im ersten Augenblick dachte Annie, dass er einen schweren Sack oder etwas in der Art schleppte. Dann begriff sie, dass es kein Sack war, sondern ein Mensch. Der junge Kerl hatte den Menschen an seinen Füßen gepackt und schleifte ihn die Treppenstufen nach unten. Dann hievte er den leblosen Körper in den Lieferwagen. Der Alte stieg auf der Beifahrerseite ein, während der Jüngere mit einem Putzeimer wieder im Gebäude verschwand. Eine halbe Stunde später kam er wieder heraus, stieg auf der Fahrerseite ein und dann fuhr der Lieferwagen davon.

„Ich brauche davon eine Kopie", sagte Annie fassungslos.

Nun hatte sie es schwarz auf weiß: Donald Singer war tatsächlich entführt worden. Und sie hatte einen Fall.

Kapitel 16: Fraser Island

Vor Urzeiten, als die Welt noch ganz jung und trostlos war, entsandte der große Weltenschöpfer Beeral zwei Geister auf die Erde und gab ihnen den Auftrag, das triste Land in ein Paradies zu verwandeln. Die schöne K'gari und der tapfere Yndingie schickten sich sogleich mit dem Beginn des anbrechenden Tages an, die Erde nach Beerals Vorstellungen zu gestalten. Am Abend, als die Sonne gerade unterging, waren sie fertig. Die erschöpfte K'gari legte sich müde in eine Bucht und schlief ein.

Als sie wieder erwachte, sagte sie zu ihrem Gefährten Yndingie: „Hier ist wirklich das Paradies! Es gefällt mir so sehr, dass ich hier bleiben möchte."

Yndingie sprach zu K'gari: „Das geht nicht. Du bist ein Geist. Und Geisterwesen können nicht in der irdischen Welt bleiben. Geister gehören in die Traumzeit, in die Welt jenseits dieser Welt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich vereinen und stets Neues schaffen. Das ist dein Platz."

„Aber ich möchte wirklich hier bleiben", bettelte K'gari.

„Wenn du hier bleiben willst", antwortete Yndingie, „dann musst du deine Geistergestalt aufgeben und dich in etwas Gegenständliches verwandeln. Bist du dazu bereit?"

„Ja, das bin ich", antwortete K'gari bestimmt, aber auch mit ein bisschen Wehmut - denn ein irdisches Leben zu wählen, das hieß auch, dass sie Yndingie und die anderen Geisterwesen, ihre Familie, nie wieder sehen würde. Dennoch war sie davon überzeugt, dass es nichts Schöneres in allen Welten gab als diesen Platz und dass sie für immer hier bleiben wollte.

„Also gut", sagte Yndingie, „lege dich dort am Stand ins flache Wasser und schließ deine Augen."

K'gari tat, wie Yndingie ihr befohlen hatte und als sie sich in den weichen Sand gebettet hatte, schlief sie tief und fest ein. Während sie schlief, verwandelte Yndingie sie in eine Insel. Ihren Körper malte er in den schillernden Farben des Regenbogens an und er zog ihr ein grünes Kleid aus dichtem Regenwald an. Ihre Augen verwandelte er in glitzernde und funkelnde Seen und den Himmel über ihr stattete er mit prächtigen Vögeln aus. Damit K'gari nicht alleine blieb, übergab er anschließend die Insel den Butchalla-Aborigine, die seitdem auf K'gari leben.

So erklären sich die Butchalla die Entstehung der Insel, die von den weißen Siedlern ursprünglich nur Big Sandy Island getauft wurde, heute aber unter dem Namen Fraser Island bekannt ist. Nicht minder spannend als die Erzählung aus der Traumzeit der Aborigine allerdings ist die Geschichte, wie Fraser Island wirklich entstanden ist.

Mit einer Fläche von einhundertachtzigtausend Hektar ist sie die größte Sandinsel der Welt, geschaffen nur durch die fortwährende Kraft der Erosion.

Reichlich eine halbe Millionen Jahre lang schliff der Wind beständig an den Bergen der Great Dividing Range, ganz so wie er es noch heute tut. Flüsse transportierten den feinen Sand anschließend nach Osten zur Küste hin. Dort lagerten sich die mitgeschleppten Sedimente nach und nach ab, bis sich schließlich so viel Material aufgetürmt hatte, dass es als Inselchen die Wasserfläche durchbrochen hatte. Bis heute war Fraser Island auf diese Weise zu einer Insel angewachsen, die in ihrer Nord-Süd-Ausdehnung knapp einhundertfünfundzwanzig Kilometer lang und von West nach Ost zwischen fünf und fünfundzwanzig Kilometer breit war.

Es war Dienstag und Fraser Island war der erste Zwischenhalt auf der Expeditionsfahrt der Argo.

K'gari, der Name, den die Ureinwohner vom Volk der Butchalla der Insel gegeben hatten, bedeutete übersetzt etwa „Paradies". Und genau das war Fraser Island. Ihre schier endlos langen Sandstrände, von denen der längste der Seventy Five Miles Beach im Osten des Eilands war, meterhohe Sanddünen, dichter Regenwald in ihrem Herzen und herrlich klare Flüsse und Seen lockten jedes Jahr Heerscharen von sonnenhungrigen Touristen und erholungsbedürftigen Küstenbewohnern an. Der gesamte Norden der Insel aber war als Great Sandy National Park ausgewiesenes Naturschutzgebiet und ein Paradies für Naturforscher. Insbesondere für Ornithologen war das Eiland ein wahres El Dorado. Nicht weniger als dreihundertfünfzig verschiedene Vogelarten nutzten Fraser Island als Nist-, Rast- und Futterplatz. Dass dieses Naturwunder heute noch existierte, hatte man vor allem eifrigen Naturschützern, insbesondere John Sinclair aus dem Küstenort Maryborough zu verdanken, die in den 1960er Jahren die Insel erfolgreich vor dem Raubbau durch Sandminen bewahrt hatten.

Der Norden der Insel war auch das Ziel des Dreiergespanns. Möglichst leise ruderte Melina das kleine Boot die Küstenlinie entlang. Undurchdringlicher Wald dominierte das Bild des nördlichen Teils der Insel. Vielerorts drängten sich die imposanten Stämme bis zum Strand. Ein dichter Mangrovendschungel erhob sich auf stelzenartigen Wurzeln aus dem brackigen Wasser. Für viele Fische war das labyrinthische Wurzelwerk der Mangrovenbäume eine wichtige Kinderstube. Hier konnten die Jungfische vergleichsweise gefahrlos aus ihren Eiern schlüpfen und gut vor Fressfeinden geschützt ihre ersten Lebenswochen verbringen.

Nicht nur unter, auch über dem Wasser herrschte das blühende Leben. Die lichten Kronen der Mangroven waren ideale Nistplätze für viele Vögel. Genau deshalb waren Melina, Julia und Florian hier her gekommen.

„Schaut mal, dort drüben", sagte Melina und deutete auf einen dunklen Punkt im strahlend blauen Azur. Florian und Julia hielten sich ihre Ferngläser, die ihnen mit dünnen Lederriemen um die Hälse baumelten, vor die Augen und blickten neugierig hindurch. Das kleine Ruderboot, in dem die drei jungen Forschenden saßen, schaukelte ausgelöst durch ihre Bewegungen sanft hin und her, auf und ab, sodass Julia Mühe hatte, die schemenhafte Silhouette am Himmel im Fokus zu behalten.

Aus der Ferne hatte sie den Vogel mit seinen zugespitzten Flügeln und den leicht nach unten gerichteten Handschwingen für eine sehr große Möwe gehalten. Als sie nun durch die Okulare ihres Fernglases blickte, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Die dunkelbraune, fast schwarze Rückenfarbe, der dazu im Kontrast stehende weiße Bauch, ein dunkler Augenstreif und stechend gelbe Augen ließen keinen Zweifel daran, es war ein Fischadler.

„Wow", sagte Florian ganz fasziniert, „so einen habe ich schon einmal gesehen, als ich vor ein paar Jahren für ein Naturmagazin eine Fotoreportage über die See- und Fischadler an der Müritz gemacht habe." Er tauschte sein Fernglas gegen seine Fotokamera und versuchte, ein möglichst gutes und scharfes Foto von dem Fischadler zu machen, was angesichts der Tatsache, dass das Boot ständig bei jeder kleinen Welle wackelte, ziemlich schwierig war.

Scheinbar mühelos schien der Vogel in zehn, vielleicht auch fünfzehn Metern Höhe über dem Wasserspiegel in der Luft zu stehen, seinen Blick dabei auf ein unsichtbares Ziel unter Wasser gerichtet. Plötzlich legte der Fischadler seine Flügel an und stürzte in die Tiefe. Dicht über der Wasseroberfläche streckte er seine Fänge nach vorne. Seine riesigen, sichelförmigen Krallen blitzten auf. Dann tauchte er ins Wasser ein. Julia hörte förmlich die Explosion, als der Adler den Wasserspiegel durchbrach und eintauchte. Wasserfontänen spritzten in die Luft, zeugten von der Wucht des Aufpralls. Der Vogel verschwand förmlich hinter einer Wand aus Wasser. Sekunden verstrichen, dann tauchte der Adler wieder auf. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob er sich in die Luft. In den Klauen hielt er einen riesigen Fisch, der kräftig zappelte. Es erschien den Beobachtern fast so als könnte der Fisch zu groß für ihn sein, denn der Adler hatte sichtlich Mühe, als er sich in die Höhe schraubte. Geschickt drehte der Fischadler seine Beute in seinen Fängen mit dem Kopf voran, um somit besser manövrieren zu können. Mit seiner Beute in den Fängen drehte der Vogel eine Runde und schüttelte sich dann sein Gefieder. Tausende kleiner Wassertröpfchen glitzerten in der Sonne. Dann verschwand der Fischadler mitsamt seiner Beute im Geäst der dichtstehenden Mangrovenbäume. Der ganze Angriff hatte nur wenige Sekunden gedauert, Julia kam es aber wie ein Augenblick der Ewigkeit vor. Der ehrfurchtsvolle Moment hatte sich auf ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Melina zückte ein Notizbuch und schrieb gewissenhaft ihre Sichtung darin hinein. Sie verstaute es anschließend wieder in einem Klarsichtbeutel und steckte es in ihren Rucksack, damit das wertvolle Heftchen bestmöglich vor Wasser geschützt war.

„Was für ein toller Augenblick", sagte Julia ganz begeistert.

„Ja, danke, dass du uns mitgenommen hast", pflichtete Florian der rothaarigen Biologin bei.

„Und ich danke euch, dass ihr mir so bereitwillig helfen wollt", sagte Melina. Schmunzelnd fügte sie hinzu: „So paradiesisch wird es aber nicht bleiben. Der richtige Scheißjob kommt erst noch."

Gerade war Flut. Die Gezeitenströmung hatte die Wassermassen dicht ans Ufer geschoben und den Mangrovenwald geflutet. Das Wurzelwerk war unter der im Licht reflektierenden Wasseroberfläche verborgen, nur spezialisierte Luftwurzeln ragten wie riesige Schnorchel schnurgerade aus dem Wasser heraus.

So dicht wie nur möglich ruderte das Trio mit seinem kleinen Boot an das Ufer heran, bis sie nicht mehr weiter kamen und im dichten Geflecht der spinnenbeinartigen Stelzwurzeln stecken blieben.

„Von hier aus müssen wir uns zu Fuß weiter kämpfen", sagte Melina. Die junge Biologin zog eine alte Blechkiste unter ihrem Sitz hervor und öffnete sie. Sie holte drei Paar Gummistiefel hervor, die beinahe nagelneu aussahen und warf ihren beiden Begleitern je ein Paar davon zu. Julia wusste, dass Melina die Stiefel vor ihrer Abreise noch extra desinfiziert hatte. So konnte man das Risiko verringern, dass die Naturforscher bei ihrer Arbeit unbeabsichtigt fremde Keime in das empfindliche Gleichgewicht des Ökosystems eintrugen, die das über viele Jahrtausende hinweg gewachsene Geflecht der Lebensbeziehungen auf der Insel mit unabsehbaren Folgen für alle durcheinanderbringen konnten. Sie erinnerte sich daran, dass unbeabsichtigt eingeschleppte Krankheiten nur allzu leicht eine Tierart an den Rand der Ausrottung treiben konnten. In Mitteleuropa hatte die Krebspest den einheimischen Fluss- oder Edelkrebs fast vollständig ausgerottet und seit einigen Jahren wütete eine gefährliche Hautpilzerkrankung durch die europäischen Bestände des Feuersalamanders. In den Niederlanden hatte der „Salamanderfresser", wie der Pilz nicht zu Unrecht genannt wurde, nahezu den kompletten Bestand vernichtet und auch in Deutschland waren in der Eifel und im Ruhrgebiet schon einige Populationen vollständig von der Krankheit vernichtet worden. Da war es wirklich besser, auf Nummer Sicher zu gehen.

123456...9