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Argonauta Kapitel 12-22

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Wie um alles in der Welt hatte Renner sich hier nur zurechtfinden können? Hatte er etwa eine Taschenlampe bei sich gehabt?

„Du Narr", schimpfte Singer laut mit sich selbst. Wieso hatte er das nicht bedacht und Renners Taschen danach abgesucht?

Egal. Es war jetzt nicht mehr zu ändern. Jetzt noch einmal zu Renner in die Zelle zurück zu kehren, traute er sich auch nicht. Ihm blieb keine andere Wahl als sich auf seine anderen Sinne zu verlassen.

Vorsichtig tasteten seine Hände in der Dunkelheit die Holztür ab. Es war nur logisch, dass die Tür in die Wand eingelassen war, wenn er der Wand einfach in die immer gleiche Richtung folgte, würde er zwangsläufig irgendwo rauskommen.

In dem Gang war die Luft ebenso kühl und muffig wie in seiner Zelle. Er hörte Wasser, das laut auf den steinernen Boden tropfte. Seine Hände fühlten kalten, feuchten Stein. Er war rau und mit einer schmierigen Schicht überzogen, von der Singer gar nicht so genau wissen wollte, um was genau es sich dabei handelte. Blind wie ein Maulwurf tastete er sich voran.

Nur langsam kam er vorwärts. Seine Schritte hallten durch den Gang. Mehrmals blieb er ängstlich stehen, ließ sich vom Echo täuschen und befürchtete, Renner wäre aus der Zelle entkommen oder Jürgens wäre aufgetaucht. Doch er war allein. Seine Fantasie spielte ihm offenbar nur einen alles andere als komischen Streich.

Weiße Flecken tauchten in der Dunkelheit gespenstisch auf, formten sich zu bedrohlichen Kreaturen. Singer fürchtete sich, obwohl er wusste, dass die Bilder nur Hirngespinste waren. Produkte seiner Fantasie, die sein Verstand kreierte, weil er krampfhaft versuchte, irgendetwas in der finsteren Schwärze erkennen zu können. Weil dort nichts war, erfand das Gehirn einfach etwas, das es verarbeiten konnte.

Der Boden war uneben. Das Wasser hatte zahlreiche Buckel und Rillen hineingegraben. Schon zwei Mal wäre Singer beinahe gestolpert. Nur mit Mühe hatte er seinen Sturz verhindern können, jedes Mal von einem lauten Fluchen begleitet. In der Ferne hörte er, dass Renner offenbar wieder aufgestanden war und gegen die Türe der Gefängniszelle hämmerte. Hoffentlich alarmierte er den Alten damit nicht.

Plötzlich spürte Singer einen sanften Luftzug. Frische Luft! Sie musste von irgendwoher kommen! Zweifellos vom Ausgang. Eine Welle der Euphorie packte den Professor. Aber noch war es nicht geschafft. Seine Flucht war noch nicht geglückt, obwohl er die Freiheit schon auf seiner Zunge schmecken konnte.

Und dann sah er sie. Das heißt, sehen war zu viel verlangt, es war eher ein Erahnen. Eine Tür, durch deren Spalt ein blasser, silbriger Lichtstreif schien. Die Tür war direkt vor ihm und befand sich am Ende einer Treppe. Vorsichtig, um jetzt bloß nicht zu stolpern, schlurfte er Stufe für Stufe nach oben.

Er jubelte innerlich auf. Geschafft!

Singer hatte das Ende der Treppe erreicht und ertastete in der Dunkelheit die Klinke. Er drückte sie nach unten und ...

Nichts geschah. Die Tür war abgeschlossen.

„Verdammt!", fauchte er.

Dann fiel es ihm ein: Natürlich! Der Schlüssel!

Er hatte immer noch Renners Schlüsselbund bei sich. Irgendeiner der Schlüssel musste der Richtige sein. Singer holte den Bund aus seiner Hosentasche und war sofort entmutigt. Der Bund war schwer und unzählige Schlüssel waren daran befestigt. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis er jeden einzelnen Schlüssel durchprobiert hatte. Noch dazu konnte er immer noch nicht genug sehen, um systematisch Schlüssel für Schlüssel durchzugehen. Er würde es auf gut Glück versuchen und hoffen müssen, irgendwann den richtigen Schlüssel dabei zu erwischen.

Was für manchen Mathematiker vielleicht ein anschauliches Beispiel für ein Urnenmodell mit „Ziehen und Zurückliegen" gewesen wäre, entpuppte sich für ihn als der blanke Horror. Denn ihm war klar, dass die Wahrscheinlichkeit von Jürgens entdeckt zu werden, von Minute zu Minute stieg. Trotzdem blieb ihm keine Wahl.

Er versuchte es mit dem ersten Schlüssel, steckte ihn ins Schloss, drehte und stellte fest, dass es der falsche Schlüssel war. So viel also zur Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Er versuchte einen anderen Schlüssel. Auch er passte nicht. Dann einen dritten, einen vierten. Sie alle passten nicht und Singer bekam es mit der Angst zu tun. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel.

Seine Finger zitterten. Er hatte sich überanstrengt und er fror. Dennoch konnte er jetzt nicht aufgeben. Er versuchte es unermüdlich weiter. Schlüssel um Schlüssel, kein einziger passte.

Singer zwang sich zur Ruhe. Vielleicht musste er anders vorgehen. Wenn er die Schlüssel, die er schon probiert hatte, vom Schlüsselring löste, bestand nicht mehr die Gefahr, einen Schlüssel unnötigerweise zwei Mal zu probieren. Ja, so könnte es gehen.

Er probierte einen Schlüssel. Er passte natürlich nicht. Mit klammen Fingern zog er den Schlüssel vom Ring und ließ ihn klimpernd zu Boden fallen. Dann versuchte er den nächsten Schlüssel. Auch er passte nicht.

Minutenlang wurde der Schlüsselberg auf dem Boden größer und größer, während die Zahl der noch verbliebenen Schlüssel merklich abnahm.

Es verblieben noch drei Schlüssel. Nur noch drei Versuche.

Er nahm einen der Schlüssel, führte den Bart vorsichtig ins Schloss, drehte und ...

Es klappte! Der Schlüssel ließ sich drehen und Singer konnte hören, wie die Stifte klackerten und alle in die richtige Position gedrückt wurden. Singer drückte auf die Klinke und die Tür schwang auf.

Frische Luft umfing ihn. Erleichtert atmete er auf. Er hatte es wirklich geschafft!

Lydia, Lucie, meine Lieben, ich komme!

Die Sonne war inzwischen untergegangen, denn als Donald Singer nach draußen stolperte umfing ihn kein grelles Tageslicht. Die Temperatur war angenehm. Wärmer als im modrigen Kellerverließ, aber nicht heiß.

Beschwingt folgte Singer einem schmalen, ausgetretenen Pfad.

Dann traf ihn die harte Erkenntnis wie ein Vorschlaghammer und er blieb stehen. Er drehte sich um die eigene Achse und schaute sich um.

Wohin er auch blickte, überall sah er das gleiche Bild. Fahles Mondlicht, das ein verspieltes Glitzern auf die sich kräuselnde Wasserfläche warf. Rings um ihn herum Wasser. Nichts als Wasser. Aus der Ferne vernahm er das tiefe Tuten eines Nebelhorns und das Krachen der Verladekräne des Hafens. Es bestand kein Zweifel.

Natürlich, blitzte die Erkenntnis auf.

Die Briten hatten entlang der gesamten Ostküste auf zahlreichen Inseln Gefängnisse errichtet, die weit genug vom Festland entfernt waren, dass es unmöglich war, von ihnen ohne ein Boot zu entkommen. Manche von ihnen waren inzwischen beliebte Ausflugsziele. Andere waren zu klein, um für den Massentourismus tauglich zu sein.

Übelkeit stieg in ihm hoch. Er taumelte und ließ sich dann ins Gras fallen. Er war auf einer gottverdammten Insel. Ein Gefangener von Alcatraz. Und es gab keine Möglichkeit zur Flucht.

Kapitel 18: Nachtgespräche

Es war mitten in der Nacht, als Florian in seiner Kajüte schweißgebadet erwachte. Er zitterte am ganzen Leib und keuchte unregelmäßig. Ein übermäßiger Druck lastete auf seinem Brustkorb, als habe man seinen Thorax in einen riesigen Schraubstock gesteckt und fest zugedrückt, sodass er glaubte, ersticken zu müssen.

Schon lange hatten seine Panikattacken nicht mehr so heftig zugschlagen wie jetzt. Sie kamen aus heiterem Himmel, überfielen ihn heimtückisch und warfen ihn wie ein tobender Sturm mit spielerischer Leichtigkeit um. Er wollte aufstehen, doch er konnte nicht. Seine Glieder lagen nur schwer wie Blei nutzlos da und ließen sich nicht einen Millimeter anheben.

Die Verzweiflung darüber sich nicht rühren zu können verstärkte seine Panik und er hatte umso mehr das Gefühl keinen Sauerstoff mehr zu bekommen. Es war ein einziger Teufelskreis aus dem es kein Entrinnen gab.

Er versuchte, sich zu entspannen, Ruhe in seinen Körper zu bringen. Er hatte nun schon fast alles probiert, um die Schübe unter Kontrolle zu bringen. Autogenes Training, Johanniskraut, Meditation. Meist gelang es ihm inzwischen sogar, aber diesmal war es ihm unmöglich. Sein Verstand raste, wollte einfach nicht zur Ruhe kommen.

Die Stimmen kamen. Erst waren sie ein unverständliches Wispern, wie Rauschen in den Blättern. Dann wurden sie lauter, wurden zu einem vorwurfsvollen Flüstern. Immer wieder raunten sie ihm den immer gleichen Satz zu: „Du bist an allem schuld!"

Er wollte schreien und ihnen antworten: „Nein!" Aber er brachte keinen Laut aus seiner Kehle hervor.

Die Stimmen wurden lauter, klagten nun wie ein Schlosshund ihr Lied. Dann nahmen sie Gestalt an, wurden zu hässlichen Geistern, die sich wütend auf ihn stürzten, um ihn zu zerfetzen. Er wollte um sich schlagen, um die bösen Dämonen zu vertreiben, aber auch das gelang ihm nicht. Diesmal war er den diabolischen Schatten seiner Vergangenheit gnadenlos und absolut schutzlos ausgeliefert.

Und dann, ganz unerwartet, erschien sie. Eine engelsgleiche Figur. Leichtfüßig erschien sie ihm. Ihr Körper leuchtete hell. Sie lächelte ihm aufmunternd und freundlich zu. Sanftmütig kam sie näher, als würde sie im Raum schweben und die Geister wichen zurück. Die Frau vertrieb die Gespenster. Sie legte ihre Hand auf seine Brust und auf einmal war er frei. Er konnte sich wieder regen und die Last war von ihm genommen.

Die Frau erhob sich, blickte ihn mit grünen Augen an, als wolle sie ihm sagen, alles würde wieder gut. Ihr langes, rotes Haar umschmeichelte ihr Gesicht. Doch er konnte nicht erkennen, wer es war. Und dann plötzlich löste sich die Frau in Nichts auf. Wie Rauch verschwand sie so plötzlich wie sie gekommen war und Florian war wieder allein.

Er schreckte auf, blickte sich um. Die Kabine war leer. Niemand außer ihm war hier. Von der fremden Schönheit keine Spur. Nein, fremd war sie nicht gewesen, dämmerte es ihm. Es war Julia gewesen, da war er sich sicher.

Als ob ausgerechnet sie mir helfen würde, wurde es ihm schmerzlich bewusst.

Natürlich war ihm klar, dass die Stimmen, die Geister und auch seine Retterin nicht wirklich existierten. Sie waren Produkte seiner Fantasie, nichts weiter. Es war nicht das erste Mal, dass seine Panikattacken ihn hatten halluzinieren lassen. So bedrückend und beklemmend waren sie bislang aber noch nie gewesen. Vor allem hatten sie sich vorher noch nie so real angefühlt. Wurde er allmählich verrückt?

Florian stand langsam auf und es kostete ihn alle Kraft, die er hatte. Auf wackeligen Beinen ging er ein paar Schritte in seiner Kabine auf und ab, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.

Er hatte sich heute zu viel zugemutet, das wusste er. Es war töricht von ihm gewesen, seine Kräfte so maßlos zu überschätzen. Auf Bäume klettern - was um alles in der Welt hatte er sich dabei nur gedacht? Sicher, er hatte sich beweisen wollen, dass er alles tun konnte, wenn er nur wollte. Aber das war eine Selbstlüge. Er konnte das alles nicht. Nicht mehr. Nicht seit jenem Tag, der alles verändert hatte. Der Tag der ihn für den Rest seines Lebens gezeichnet hatte und an dem er eine unmenschliche Schuld auf sich genommen hatte.

Dann fragte er sich, warum ihm in seiner Halluzination ausgerechnet Julia als seine Retterin erschienen war. Was fand er nur an ihr? Sie war eine eingebildete Zicke. Neunmalklug, streitbar und angriffslustig. Seit er an Bord der Argo war, hatte sie ihn jede Sekunde spüren lassen, dass er nicht erwünscht war. Sicher, sie hatten eine Art Waffenstillstand geschlossen. Obwohl sie sich bislang beide daran gehalten hatten, keiner von ihnen wollte schließlich die Expedition verlassen, fühlte er sich immer unwohl, sobald er mit ihr in einem Raum war und konnte förmlich spüren, dass sie sich auf ihn nur allzu gern wie eine Löwin auf ihre Beute gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt hätte.

Und doch war da irgendetwas, was ihn immer wieder zu ihr hin zog, was ihn ihre Nähe suchen ließ. Was war es bloß? Er konnte es einfach nicht greifen, es war zum Verrücktwerden. War er vielleicht pathologisch masochistisch veranlagt und fühlte sich durch ihre permanenten Sticheleien und Demütigungen erregt? War es ihr Duft, ihr Aussehen? Oder die Art, wie sich hübsche Grübchen in ihren Wangen abzeichneten, wenn er sie einmal in einem der seltenen Momente erwischte, in denen sie lächelte? Nein, es war irgendwie ... irgendetwas hatte sie an sich, was ihm das Gefühl gab, er würde sie schon seit Jahren kennen. Es war nicht direkt ein Gefühl der Vertrautheit, nicht so als wüsste er wirklich etwas über sie. Es fühlte sich viel eher so an als wären sie sich schon einmal begegnet, aber er war sich sicher, dass sie sich erst damals in dieser Bar, im Laughing Kookaburra, zum allerersten Mal über den Weg gelaufen waren. Und doch war ihm als würde sein Herz ihm sagen, dass Julia keine Unbekannte für es war.

Natürlich, mein Herz, das wird's sein, dachte er und schüttelte über seine eigene Torheit seinen Kopf. Als ob mir mein Herz irgendetwas sagen würde.

Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Er hatte schrecklichen Durst und beschloss, noch einmal einen Abstecher zum Gemeinschaftsraum zu machen und sich einen Tee zu kochen.

Er war überrascht, als er bemerkte, dass im Gemeinschaftsraum Licht brannte. War er nicht der einzige, der zu nachtschlafener Zeit aus seinem Bett vertrieben wurde?

Noch verblüffter war er, als er Julia im gedimmten Dämmerlicht in der Sitzecke hocken sah. Sie kauerte auf einem der Sessel, hatte die Knie angezogen und die nackten Füße auf das Sitzpolster gestellt. Vor ihr auf dem Tisch hatte sie einen Becher mit dampfendem Tee stehen. Sie war in einen offenbar interessanten Text vertieft, denn ihre Augen starrten konzentriert auf das helle Display eines Tablets und sie hatte noch gar nicht mitgekriegt, dass er hier war. Eine Strähne ihres roten Haares fiel ihr ins Gesicht und einmal mehr fiel ihm auf, wie unglaublich hübsch sie aussah.

„Hey", sagte er leise.

Sichtlich unerfreut blickte sie auf und er merkte sofort, wie sich augenblicklich ihre Körperhaltung versteifte. Im Raum wurde es schlagartig mehrere Grad kälter.

„Auch hey", antwortete sie einsilbig.

„Störe ich?", fragte er vorsichtig.

„Nein", antwortete sie, doch ihr Blick verriet ihm, dass sie genau das Gegenteil von dem meinte, was sie gesagt hatte.

Er hätte einfach wieder umkehren können, aber er wollte nicht jedes Mal derjenige sein, der klein bei gab. Nicht diesmal. Außerdem hatte er Durst. Deshalb griff er sich einen Becher aus dem Schrank, schaltete den Wasserkocher ein und während er darauf wartete, dass das Wasser sprudelte, ließ er einen Beutel Früchtetee in den Becher gleiten. Der Wasserkocher piepste leise und Florian goss sich ein. Mit dem Becher in der Hand setzte er sich an den Platz auf der anderen Seite des Tisches.

„Kannst du auch nicht schlafen?", fragte er zögernd.

Julia war wieder in ihren Text vertieft und sagte achselzuckend: „Ich brauch' nicht so viel Schlaf."

Das ist ja wieder mal typisch, dachte er, Miss Perfect hat keinen Schlaf nötig, sie funktioniert auch so einwandfrei.

Doch sofort tat es ihm leid, dass er so dachte. Zum Glück hatte er es nicht ausgesprochen.

„Was liest du da?", fragte er.

„Verstehst du sowieso nicht."

„Woher willst du das wissen?", fragte er enttäuscht. Es schmerzte ihn wirklich, dass sie glaubte, er hätte keine Ahnung.

Wenn sie nur nicht diese herablassende Art an sich hätte.

„Ist ein wissenschaftliches Paper. Ich glaub' kaum, dass du damit etwas anfangen kannst", sagte sie und hielt ihm das Tablet entgegen.

Florian warf interessiert einen Blick darauf und überflog die Überschrift.

„Ach, diesen Artikel kenne ich", sagte er. „Darin beschäftigen sich die Autoren damit, dass im Naturschutz nicht mehr nur genetische Besonderheiten von Populationen Beachtung finden sollten, sondern auch ihre kulturellen Eigenschaften. Hal Whitehead ist einer der Co-Autoren, soweit ich mich erinnere."

Überrascht starrte Julia ihn an. „Du kennst ihn?"

Florian grinste breit und antwortete mit einer Gegenfrage: „Nicht persönlich, aber ich habe schon von ihm gehört. Er ist einer der besten Pottwalforscher der Welt, wenn nicht gar der beste."

Es war ein großartiges Gefühl, dass er sie endlich einmal in Verlegenheit erlebte. „Ist das wirklich so überraschend für dich?"

„Irgendwie schon", gestand Julia beschämt.

„Ich erzähle dir jetzt mal etwas über mich", sagte Florian ruhig, „ich bin nicht so dumm wie du vielleicht denkst."

Er machte eine Kunstpause und kostete jeden einzelnen Augenblick bis zur Gänze aus. „Ich hab' auch Biologie studiert, genau wie du."

„Echt?", fragte Julia erstaunt.

„Ja. Zwar nur bis zum Bachelor und nicht bis zum Master, aber ja. Danach fand ich, dass ich für eine akademische Karriere nicht gemacht bin, also habe ich noch Fotografie studiert und seitdem verdiene ich mir mein Geld mit Reise- und Naturreportagen als freiberuflicher Autor und Fotograf."

„Entschuldige", sagte Julia peinlich berührt, „das wusste ich nicht."

„Du weißt so vieles nicht", sagte Florian spitzzüngig.

Julia setzte an, um etwas zu erwidern. Etwas Boshaftes, das sah er in ihrem böse funkelnden Blick. Dann überlegte sie es sich anders und schluckte es herunter.

„Ich weiß auch viel nicht", unterbrach Florian nachdenklich die peinliche Stille. „Warum ich hier mit dir am Tisch sitze zum Beispiel."

„Wie meinst du das?", fragte Julia.

„Na ja, du hast mir ziemlich unmissverständlich klar gemacht, dass du mich hasst. Seit wir beide an Bord sind hast du mich das jede einzelne Sekunde spüren lassen. Und doch ... "

„Ja?"

„Und trotzdem sitzen wir gerade friedlich an einem Tisch, ohne uns gegenseitig zu zerfleischen."

„Wir haben einen Waffenstillstand vereinbart, schon vergessen?", sagte Julia.

„Ich weiß. Und den will ich auch nicht gefährden", sagte Florian und erhob sich. „Und deshalb gehe ich jetzt und lass dich wieder alleine. Gute Nacht, Julia."

„Florian?", sagte Julia zögerlich.

„Hm?"

„Bitte, bleib noch."

„Wenn ich mich jetzt wieder setze, kratzt du mir dann die Augen aus?"

Julia kicherte. „Wenn du dich benimmst, dann nicht."

„Erzähl mir von deiner Arbeit", sagte sie neugierig.

„Das geht aber schon über einen Waffenstillstand hinaus, findest du nicht?", fragte er.

Julia zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Bilde dir aber bloß nichts drauf ein, wir sind keine Freunde oder so. Sondern einfach nur ... Kollegen, die in fachlichem Austausch miteinander stehen."

„Damit kann ich leben", antwortete er, „Darf ich?" und zeigte auf den freien Platz direkt neben Julia. „Oder ist dir das zu nah?"

„Nein, ist schon in Ordnung."

Florian setzte sich wieder. Dann sagte er: „Soll ich dir erzählen, wie ich vor fünf Jahren den Yeti gejagt habe?"

„Den Yeti? Ernsthaft? Du spinnst doch!", sagte Julia skeptisch.

„Wirklich", sagte Florian. „Drei Wochen habe ich im Hochland von Tibet verbracht. Die Nacht in einer zugigen Holzhütte auf zweitausend Metern Höhe geschlafen, oft sogar nur in einem winzigen Einmannzelt."

„Und, wie war er so, der Yeti?"

„Na ja, ich habe nicht behauptet, dass ich den Yeti wirklich gefunden habe."

„Ach", entgegnete Julia sarkastisch.

„Dafür habe ich aber was anderes gefunden. Die Geister der Berge."

„Yeti? Geister der Berge? Willst du mich auf den Arm nehmen?"

„Natürlich nicht", sagte Florian. „Gib mir mal dein Tablet."

Sie reichte es ihm. Er rief die Homepage von GEO auf und rief einen Artikel auf. „Hier, schau selbst", sagte er.

Julia schaute auf das Display und traute ihren Augen kaum. „Das sind ja Irbisse", sagte sie ehrfurchtsvoll.

„Ja, eine Mutter mit ihrem Nachwuchs."

„Die Bilder sind fantastisch. So intim. Wie ist es dir nur gelungen, ihnen so nahe zu kommen?"

„Du würdest dich wundern, was mit einem Teleobjektiv möglich ist", sagte Florian.

„Trotzdem eine Meisterleistung. Ich kenne kaum ein Tier, das scheuer und geheimnisvoller lebt als ein Schneeleopard."

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