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Argonauta Kapitel 12-22

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„Guten Morgen Julia", raunte es hinter ihr. Sie brauchte sich nicht umzudrehen. Inzwischen war ihr David Fishers angenehme Baritonstimme wohlvertraut.

„Guten Morgen", antwortete sie höflich, „du bist schon wach?"

Fisher lachte mit seiner herzlichen Art und antwortete: „Das wollte ich dich gerade fragen. Normalerweise bin ich immer derjenige, der zuerst auf dem Arbeitsdeck ist. Abgesehen von der Crew natürlich. Hast du etwas dagegen, wenn ich dir ein bisschen Gesellschaft leiste?"

„Überhaupt nicht, sagte sie und trat symbolisch einen Schritt zur Seite. „Eigentlich sollte ich noch todmüde im Bett liegen. Melina schläft noch wie ein Stein."

„War auch eine anstrengende Aktion. Aber sehr erfolgreich. Ihr habt gestern ein Arbeitspensum geschafft, wofür wir sonst zwei, manchmal auch drei Tage gebraucht haben."

„Florian hat die Hauptarbeit geleistet", gab sie zu, „er war es, der auf die Bäume geklettert ist. Melina und ich haben nur die Vermessungen durchgeführt."

„Ihr arbeitet als Team gut zusammen, das muss man euch lassen", lobte der Professor.

„Ja", antwortete Julia gedehnt. So viel Lob hatte sie nicht erwartet.

Grinsend fügte Fisher hinzu: „Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, dass du und Florian so gut miteinander klar kommt, nachdem du ihm am ersten Abend beinahe die Augen ausgekratzt hättest."

„Wir haben einen Waffenstillstand beschlossen", sagte sie.

„Dann ist zwischen euch wieder alles gut?"

„So meinte ich das nicht", sagte Julia, „also, wir sind keine Freunde oder so."

„Natürlich seid ihr das nicht", antwortete Fisher kichernd.

„Was willst du damit sagen?"

„Hier an Bord entstehen Freundschaften für's Leben", sagte er und fügte augenzwinkernd hinzu: „Manchmal entsteht sogar mehr als nur Freundschaft."

Mit diesen kryptischen Worten ließ er Julia allein. „Ich hol' mir jetzt einen Kaffee und dann gibt's Vegemite", sagte er. Doch er kam nicht weit.

Julia sah es als Erste. In gut zweihundert Metern Entfernung stieg eine fontänenartige Dampfwolke auf. Konnte das etwa ...?

„David!", sagte Julia aufgeregt. Ihr Puls schnellte nach oben.

„Was ist denn?", fragte Fisher.

„Schau nur", antwortete Julia. Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Fleck auf dem Ozean, wo noch eben die Fontäne zu sehen gewesen war. Aber jetzt war sie verschwunden. Die Oberfläche war wieder glatt.

„Ich sehe nichts", sagte Fisher.

„Doch, da ist ein Wal!", entgegnete Julia.

„Unsinn. Unser Sonar müsste sie längst geortet haben und dann hätte mich Hansen längst informiert."

„Wenn ich's dir doch sage, da war eindeutig ein Blas eines Buckelwals."

Fisher kniff die Augen zusammen und schaute angespannt aufs Meer. Unsinn, sie musste sich täuschen.

Das Mädel hat zu wenig Schlaf bekommen, dachte er.

Doch dann tauchte erneut wie aus dem Nichts eine Wolke auf. Wie Rauch stieg sie säulenartig in die Höhe. Und dann noch eine.

„Ich fasse es nicht!", sagte er erstaunt. „Dass du das so gut sehen konntest."

„Ich hatte recht!", flötete Julia triumphierend.

„Nicht ganz", sagte Fisher lächelnd, „es ist nicht nur ein Wal. Es sind mindestens zwei. Mutter mit Kind, würde ich schätzen."

Kapitän Hansen kam aufgeregt aufs Arbeitsdeck gestürmt. „Unser Sonar hat etwas entdeckt", rief er außer Atem. „Da sind Wale."

„Wissen wir schon", sagte Fisher.

„Ihr wisst es schon?"

„Jap, ich hab' sie entdeckt", sagte Julia mit stolzgeschwellter Brust.

„Willst du rausgehen?", fragte der Kapitän.

„Ich weiß nicht", sagte Fisher. „Das Wetter sieht ziemlich beunruhigend aus. Du bist der Kapitän, was meinst du?"

Hansen rieb sich nachdenklich das Kinn. „Der Sturm soll laut Wetterradar etliche Meilen an uns vorbei ziehen und es wird auch noch eine ganze Weile dauern, bis er uns erreicht Aber der Wellengang ist schon ziemlich hoch. Wird also ein ziemliches Geschaukel werden. Aber ich denke, ihr könnt es wagen."

Fisher klatschte in die Hände. „Also gut. Das ist die Gelegenheit."

„Gelegenheit wofür?", fragte Julia.

„Na, du willst doch in deiner Doktorarbeit auch Daten von Ortungsgeräten auswerten, oder?"

„Ähm ... ja?", antwortete sie unsicher.

„Dann kannst du jetzt einen Wal besendern."

„Ich?!", rief Julia fassungslos.

„Natürlich du, wer sonst? Ich hab' schließlich meinen Doktortitel schon."

„Aber, ich habe das doch noch nie zuvor gemacht", protestierte Julia.

„Genau deswegen. Schwimmen lernt man am besten, wenn man ins kalte Wasser geworfen wird."

„Ok", war alles, was Julia wenig von sich selbst überzeugt hervorbrachte.

„Keine Sorge, ich helfe dir dabei. Aber wir brauchen jede helfende Hand, die wir kriegen können. Geh und wecke Melina. Und dann trommelt Florian aus dem Bett. Mads, kannst du das kleine Beiboot bereit machen?"

„Aber natürlich."

„Gut, dann treffen wir uns in spätestens zehn Minuten wieder hier."

*******

Im Grunde genommen war es eine einfache Angelegenheit, einen Wal mit einem Ortungssender zu versehen. Jetzt, wo Julia zusammen mit Fisher, Melina und Florian sowie ausgerechnet Eric McKenna am Steuer in dem schaukelnden Beiboot saß, fühlte sie sich in eine Zeit zurückversetzt, in der raubeinige Seemänner noch mit Harpunen auf Wale geschossen hatten, um sie erbarmungslos auszubeuten.

Und im Prinzip hatten sie jetzt genau das vor. Sie würden einen Wal harpunieren. Mit einer Armbrust würden sie eine Pfeilspitze in die Haut eines der beiden Wale abfeuern. Anders als damals würden sie den Wal aber nicht töten. Die Harpunenspitze würde stattdessen eine kleine Gewebeprobe des Wals entnehmen, die im Labor molekulargenetisch untersucht werden konnte. Auf die Weise, so die Hoffnung, war es vielleicht eines Tages möglich, ganze Familienstammbäume der Walpopulationen zu erstellen. Außerdem würden sie mit Hilfe eines Saugnapfes einen Datenlogger mit eingebautem GPS-Sender an den Wal anbringen. Das Gerät war mit einer kleinen Batterie ausgestattet, die einige Monate lang genügend Strom liefern würde. Damit konnte man später jederzeit bequem vom Computer aus per GPS die Position des Wals auf einen Meter genau orten. Alle fünf Minuten maßen Sensoren im Datenlogger außerdem die Wassertiefe, die Temperatur, Salzgehalt und die Schwimmgeschwindigkeit und übermittelten die Daten automatisch einmal täglich per Satellit zur Auswertung auf den Server des Forschungsinstituts.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit von fast einundzwanzig Knoten, umgerechnet knapp vierzig Kilometer je Stunde, peitschte das Schlauchboot über die mehrere Meter hohen Wellenkämme. Die See war unruhig und Julia hatte das Gefühl, in einer Schiffschaukel zu sitzen. Ihr Magen rebellierte.

„Ich glaube, ich muss gleich kotzen", seufzte sie kreidebleich.

„So schlimm?", fragte Fisher.

„Schlimmer", antwortete Julia. Der Wind zerrte an ihren Haaren und mit der neonorangenen Rettungsweste am Leib fühlte sie sich unbeweglich.

Ich bin ein lebendes Michelinmännchen, dachte sie.

Es hatte zu regnen begonnen und der Wind peitschte den Insassen des Bootes Regentropfen ins Gesicht. Es war aber nicht die Seekrankheit, die dafür sorgte, dass sich ihr der Magen umdrehte, sondern das flaue Gefühl, das sich immer einstellte, wenn sie vor einer Art Bewährungsprobe stand. Der Professor hatte sie dazu auserkoren, den Sender anzubringen. Das hieß, dass Erfolg oder Misserfolg des Unterfangens allein in ihren Händen lagen. Natürlich wollte sie sich auch vor den anderen im Boot nicht blamieren - weder vor ihrem Doktorvater, noch vor McKenna. Und ganz besonders nicht vor Florian. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde wollte Julia ganz besonders vor ihm nicht wie eine Versagerin dastehen.

Jedes Mal, wenn das Boot einen Wellenkamm bezwungen hatte, flog es für den Bruchteil einer Sekunde durch die Luft und schien einen winzigen Augenblick lang schwerelos zu sein. Dann landete es mit einem lauten Klatscher wieder auf der brettharten Wasseroberfläche, Gischt schäumte auf.

„Dort, direkt vor uns. Noch knapp dreißig Meter!", schrie Fisher laut gegen den heulenden Wind und den brüllenden Motor an, doch er war trotzdem kaum zu verstehen.

„Wie weit wollen Sie ran?", fragte McKenna.

„So nah wie möglich."

„Aye."

„Gut, jetzt die Geschwindigkeit drosseln. Wir wollen das Tier nicht erschrecken."

McKenna drosselte den Motor und langsam verlor das Beiboot an Fahrt. Mit Schrittgeschwindigkeit näherten sie sich den beiden Walen an.

„Gut so, und jetzt auf Geleitkurs gehen."

Das war einfacher als gesagt. Die beiden Wale waren unter der aufgewühlten Wasseroberfläche kaum zu erkennen. Sie schwammen in gemächlichem Tempo dicht unter der Oberfläche und folgten mehr oder weniger dem Verlauf der Küstenlinie. Sie waren abgetaucht und ihre genaue Position nur vage zu erahnen. Immerhin hatten sie gesehen, dass es tatsächlich eine Mutter und ihr Kalb waren. Das Junge musste erst wenige Tage alt sein. Schon jetzt war es ein echtes Riesenbaby, fast vier Meter lang. In zehn Monaten würde es dank der besonders fettreichen Milch seiner Mutter seine Länge bereits mehr als verdoppelt haben und dann knapp neun Meter lang sein. Ausgewachsen war es vielleicht einmal fast achtzehn Meter lang und dreißig Tonnen schwer.

„Haltet nach dem Blas Ausschau!", befahl Fisher.

„Warum kriegen die Wale ihre Jungen eigentlich hier? Ich meine, in den antarktischen Gewässern gibt's doch viel mehr Krill, also mehr zum Fressen als in den tropischen Gewässern", fragte Florian.

„Das wissen wir noch nicht mit Gewissheit", antwortete Fisher. „Früher glaubte man, dass die Kälber ihre Körpertemperatur noch nicht so gut halten können, weil ihnen der dicke Blubber noch fehlt. Und dass sie das tropisch-warme Wasser bräuchten, um nicht zu erfrieren."

„Und heute glaubt man das nicht mehr?", fragte Melina.

„Nein", antwortete Julia, „es gibt nämlich sehr wohl Walarten, die problemlos ihre Jungen im Antarktischen Ozean zur Welt bringen. Mittlerweile glaubt man, dass die Wale in die warmen Gewässer ziehen, um Schwertwalen auszuweichen, für die sonst die Kälber allzu leichte Beute wären. Aber bewiesen ist das noch nicht."

Die Wale tauchten wieder auf. Nur fünf, sechs Meter vom Boot entfernt stießen zwei Dampfsäulen in die Luft, eine große, die von der Mutter stammte, und eine etwas kleinere.

„Da sind sie", rief Julia. Ihr Herz pochte. Der Moment der Wahrheit kam immer näher.

„Gut", rief Fisher und griff die Armbrust. „Zum Schießen sind wir nah genug. Aber wir müssen noch viel dichter heran, damit wir den Datenlogger anbringen können."

„Wie nahe wollen Sie denn?", fragte McKenna.

„Bis auf Streichelnähe."

„Das wird bei dem Wellengang aber schwierig, Sir", sagte der erste Offizier.

„Probieren wir es trotzdem. Aber erst mal werde ich schießen. Wenn wir den Sender nicht anbringen können, haben wir wenigstens die Gewebeproben."

Fisher stellte sich in Position. Er versuchte, den Wal anzuvisieren. Doch die Nussschale, in der sie sich befanden, wurde von den Wellen auf und ab geschleudert und immer wieder verlor er sein Ziel aus den Augen.

„Verdammter Wellengang!", schimpfte er und ließ die Armbrust sinken. „Schwerer als gedacht." Dann setzte er die Armbrust noch einmal an. Er zielte und hielt die Luft an. Dann feuerte er. Und traf. Die Harpune hatte die Mutter getroffen. Das imposante Tier würde es kaum spüren.

„Super!", rief er begeistert. „Ich werde versuchen, auch eine Probe von dem Kleinen zu entnehmen." Das war noch schwieriger, denn das Ziel war kleiner, aber das Boot schaukelte nicht weniger. Außerdem wurden seine Finger von Minute zu Minute kälter und steifer. Der Regen nahm zu und raubte ihm die Sicht.

„Das wird ein Schuss ins Blaue", seufzte er wenig optimistisch. Aber er hatte Glück. Der Pfeil traf erneut.

„Mein Job ist erledigt, jetzt bist du dran", sagte er und klopfte Julia aufmunternd auf die Schultern.

„Bereit?"

„Nein", antwortete Julia wahrheitsgemäß.

„Egal, du schaffst das schon."

Sie war wie gelähmt, als sie langsam aufstand. Das Boot schwankte und sie hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch griff sie nach dem Datenlogger. Das Gerät fühlte sich in ihren Händen überraschend leicht an.

„Es kann nichts passieren", sprach Fisher ihr Mut zu, „bleib ganz ruhig. Du musst nur sehen, dass du dicht genug heran kommst. Alles andere ist kinderleicht - als würdest du ein Navigationsgerät an die Windschutzscheibe deines Autos anbringen wollen."

„Navigationsgerät? Auto? Ich hab' nicht mal einen Führerschein", gestand sie.

Melina kicherte und Julia warf ihr einen bösen Blick zu, woraufhin die Vogelkundlerin umgehend verstummte. McKenna verdrehte die Augen abfällig, als wolle er damit andeuten, von ihr nichts anderes erwartet zu haben. Und Florian ... seinen Blick vermochte sie überhaupt nicht zu deuten.

„Na ja, es ist jedenfalls ganz einfach", sagte Fisher. „McKenna, bringen Sie uns so nahe wie möglich heran."

Die Wale waren noch nicht wieder abgetaucht. Ihre dunklen Leiber ragten aber kaum aus dem Wasser heraus, es war nur wenig mehr als die flache Rückenfinne zu erkennen.

McKenna steuerte das Boot langsam näher. Das Boot wurde hin und her geschleudert, sodass Julia sich fragte, warum die Wale eigentlich so lange an der Wasseroberfläche verharrten. Warum tauchten sie nicht ab, wo die See doch in größerer Tiefe ruhiger war? Vielleicht konnte das Junge noch nicht so lange tauchen, überlegte sie.

„Okay", wir sind jetzt nah genug dran", sagte Fisher. „Jetzt oder nie!"

Und tatsächlich hatte der erste Offizier es geschafft, trotz des wilden Geschaukels das Beiboot nahe genug an die Wale heran zu bringen, dass Julia nur noch den Arm auszustrecken brauchte, um das Muttertier zu streicheln. Aber Julia stand nur wie gelähmt dort.

„Bring den Sender an!", rief Fisher.

Doch Julia konnte einfach nicht. Irgendetwas hinderte sie daran. Die Wale machten sich bereit zum Abtauchen. Bald war das Zeitfenster überschritten.

„Du musst den Sender jetzt anbringen!", rief der Professor ihr ungeduldig zu.

Dann stand Florian auf. „Du schaffst das!", schrie er ihr aufmunternd zu und plötzlich löste sich die Blockade in ihr. Sie nickte leicht mit dem Kopf und beugte sich dann mutig so weit wie möglich aus dem Boot.

Die Haut der Walkuh war glatt und dunkelblau glänzend. Mit einer mutigen Bewegung drückte sie den Saugnapf des Datenloggers auf die Haut. Er saugte sich mit einem leisen Schmatzen fest und das Gerät war platziert. Kaum hatte sie das Gerät angebracht, machte die Walkuh auch schon einen Buckel und tauchte gemeinsam mit ihrem Jungen in die Tiefe des Ozeans ab.

Fassungslos stand Julia da. Etliche Sekunden verstrichen, dann erst begriff sie, dass sie es geschafft hatte. Und dann brach sie in lautes Freudengeschrei aus.

„Ich hab's geschafft!", rief sie überschwänglich. „Ich habe einen Wal besendert!"

Ein wirklich gutes Gefühl. Sie hatte ihre Feuertaufe bestanden und hätte am liebsten alle an Bord küssen wollen, selbst McKenna und Florian.

Aber dann gab es plötzlich einen Ruck. Das Boot wurde von einer Welle erfasst und neigte sich gefährlich zur Seite. Julia verlor das Gleichgewicht und entließ überrascht einen lauten Schrei. Sie taumelte, fiel hin. Im Rücken fühlte sie auf einmal den Wulst des Schlauchboots. Sie spürte, wie sie daran entlang glitt. Sie rutschte, ihre Hände wollten sich irgendwo festhalten, fanden aber nichts. Überall war nur Leere.

Panik erfasste sie und sie kreischte schrill: „Hilfe!"

Aber es war zu spät. Keiner an Bord konnte schnell genug reagieren. Hilflos mussten sie mit ansehen, wie Julia von Bord ging.

Kapitel 22 Auf der Flucht

Donald Singer hatte bis zum Morgengrauen gewartet. Er hatte sich hinter einer Sanddüne versteckt und hatte sich ausgeruht und über seine Situation nachgedacht. Er war auf einer Insel gefangen. Anfangs hatte er geglaubt, dass seine Situation ausweglos sei. Singer war kein durchtrainierter Schwimmer und er war nicht mehr der Jüngste. Das Festland war viel zu weit entfernt, um das Ufer schwimmend zu erreichen.

Dann wurde ihm aber klar, dass Renner und der Alte ihn ja irgendwie auf die Insel gebracht haben mussten. Am wahrscheinlichsten war es, dass sie ein Boot benutzt hatten. Ein Boot, das irgendwo am Ufer der Insel festgemacht sein musste. Er hatte zwar keine Ahnung, wo es sich befand, aber das war egal. Es musste jedenfalls eines geben. Vermutlich gab es eine kleine Anlegestelle dafür. Alles, was er also tun musste, war im schlimmsten Fall einmal die gesamte Küste abzulaufen, bis er das Boot gefunden hatte. Als es noch Nacht gewesen war, war es dafür viel zu dunkel gewesen. Die dünne Mondsichel hatte ihm kaum den Weg leuchten können, deshalb hatte er warten müssen, bis die Dämmerung einsetzte. Hoffentlich würden Eos' Rosenfinger hell genug sein, ihm den rechten Weg zu weisen und gleichzeitig noch genug Deckung geben, um nicht von Renner oder Jürgens gefunden zu werden. Er fragte sich, ob Renner immer noch in seiner Zelle eingesperrt war. Ob er noch lebte? Singer hatte ordentlich zugestochen, vielleicht war Renner verblutet. Nein, das war eher unwahrscheinlich. Singer hatte zwar nicht genug Ahnung von Anatomie und auch wenn es ordentlich gespritzt hatte, glaubte er, dass die Blutmenge erheblich mehr hätte sein müssen, wenn er ein lebenswichtiges großes Blutgefäß getroffen hätte. Renner lebte wahrscheinlich noch, war aber hoffentlich lange genug außer Gefecht gesetzt.

Singer erhob sich langsam und klopfte sich den feuchten Sand von seiner Kleidung. Kurz wurde ihm schwindelig, bis sich sein Blutdruck normalisiert hatte. Dann stolperte er langsam in Richtung des hoffentlich rettenden Gestades.

Er ging langsam und geduckt, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Kopf versuchte er zu überschlagen, wie weit er wohl gehen musste, bis er das Boot fand. Die Insel mochte nicht ganz kreisrund sein, eher elliptisch. Seiner Einschätzung nach befand sich im Norden des Eilands der alte Gebäudekomplex, dem er entkommen war. Vermutlich war er einst als Gefängnis geplant worden. Ein Großteil der Mauern war aber inzwischen eingefallen und verwittert. Die Natur hatte sich Stück für Stück die alten Gemäuer zurück erobert. Überall aus den Mauerritzen wuchsen kleine Bäumchen hervor. Singer nahm an, dass seine Entführer die Gebäude nutzten, er hatte sich deshalb in südliche Richtung begeben, wo er sich in den Sanddünen gut verstecken konnte. Direkt dahinter befand sich ein dichter Wald. Er fand, dass es klüger wäre, dem Küstenverlauf einfach im Uhrzeigersinn zu folgen, also zunächst weg vom Gebäudekomplex zu laufen. Der Zugang zur Insel und damit der Schiffsanleger befand sich vermutlich im Westteil.

Er schätzte, dass der Durchmesser der Insel nicht mehr als einen Kilometer betrug, höchstens zwei. Das bedeutete, dass er wahrscheinlich zwischen drei und sechs Kilometer Fußmarsch vor sich hatte. Da er nicht mehr der Jüngste war, kaum etwas gegessen und getrunken hatte und obendrein immer noch unter den Folgen seines Schlags gegen seinen Schädel litt, würde er dafür mindestens zwei Stunden benötigen. Hoffentlich hatte er diese Zeit noch.

Aber was blieb ihm schon anderes übrig? Er konnte unmöglich die ganze Strecke zum Festland schwimmen. Im Augenblick war sein Plan die einzige Alternative, die er hatte.

Der Sand unter seinen Füßen war weich. Immer wieder sank er ein und es fiel ihm schwer zu gehen. Singer schaute sich um, suchte nach einem Trampelpfad, doch den gab es zumindest in diesem Teil der Insel nicht. Vielleicht würde er im Wald schneller vorankommen. Aber er hatte Angst, von dort aus besser gesehen werden zu können.

Vielleicht sollte er sich einfach niederlassen, wo er war und darauf hoffen, dass ein Schiff vorbei kommen würde und dann winken? Aber das konnte ewig dauern. Er hatte keine Ahnung, wie oft Schiffe hier vorbei kamen und ob sie überhaupt nahe genug kamen, um an Bord gesehen zu werden.

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