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Der Kassandra-Komplex

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Späte Entdeckung des anderen Geschlechts.
63.3k Wörter
19k
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Angebot und Nachfrage

Was jetzt? Noch eine unbezahlte Rechnung, die es in sich hatte. Die Beerdigungskosten für meine Mutter waren weitaus höher als ich es jemals vermutet hatte. Sterben ist nicht billig. Gut, auch diese würde ich zahlen können, wenn ich meinen Dispo-Kredit annähernd ausschöpfte. Und dann? Wie sollte ich jemals wieder davon runterkommen?

Zwanzig Jahre beim Bund, als Stabsoffizier. Dann hatte es mir gereicht. Zurück ins zivile Leben, bei meiner Mutter kurz nach dem Tode meines Vaters eingezogen. Sie hatte schlimme Arthritis, saß bald nach meinem Einzug im Rollstuhl, brauchte bei allem Hilfe. Übergab mir das Antiquariat, das nun seit achtzig Jahren im Familienbesitz war.

Was so gut wie nichts mehr abwarf. Es reichte für die Ladenmiete, weil der Vermieter ein alter Freund der Familie war und die Miete seit Jahrzehnten und nicht einmal bei der Einführung des Euro angehoben hatte. Es reichte zum Leben. Für die Miete in der schönen dreieinhalb Zimmer Wohnung schon nicht mehr vollständig, seitdem die Rente meiner Mutter mit ihrem Tod weggefallen war.

Und jetzt diese Rechnungen. Ich hatte mich bereits auf eine längere Pflege seelisch und moralisch eingestellt. Da bekam sie einen Herzanfall, musste ins Krankenhaus, und verstarb dort nach einer Woche. Sie war ständig bei irgendwelchen Ärzten gewesen, aber dass es Probleme mit ihrem Herzen gab, hatte niemand vorher festgestellt.

Sie hatte von Versicherungen nichts gehalten. Es gab ihrerseits keinerlei Rücklagen, das Antiquariat war schon lange Jahre nicht mehr wirklich gewinnbringend gelaufen. Und vor meiner Rückkehr hatte sie einen Angestellten beschäftigt, weil sie es nicht mehr alleine bewältigen konnte, und mein Vater war schon länger krank. Dass sie den Angestellten dabei zum Teil von ihrem Ersparten finanzierte, hatte sie mir nie erzählt.

Ich hatte eine stolze Abfindung von der Bundeswehr bekommen. Mit der ich mir, anstatt sie als Rücklage für Regentage, wie ich sie jetzt erlebte, aufzuheben, erst eine sorgen- und arbeitsfreie Rückkehr ins zivile Leben, zusätzlich einen langen Urlaub, nämlich eine halbe Weltreise, ermöglicht, und dann einen weiteren Traum erfüllt hatte. Einen Jaguar E Oldtimer in hervorragendem Zustand. Davon hatte ich seit meiner Kindheit geträumt.

Ein Traum, der direkt nach seiner Erfüllung zerschellte, als ich bei einem Oldtimer-Rennen von der Straße abkam und in eine Hauswand raste. Kein Fremdverschulden, ich hatte einfach eine Kurve unterschätzt. Totalschaden am Wagen, vier Wochen Krankenhaus für mich. Direkt vom Glück verfolgt war ich nicht. Schnee von gestern.

Jetzt musste ich mich der Gegenwart stellen. Die hieß, entweder etwas verkaufen oder in Schwierigkeiten geraten. Aber was sollte ich verkaufen? Muttis Möbel? Die waren bis auf das Bett alt, aber keine Antiquitäten. Ihren Schmuck? Viel wert konnte der nicht sein.

Nein, da war nichts zu machen, außer, ich verkaufte den Laden komplett. Und das wollte ich nicht. Es war mehr als nur das Erbe, es war die gesamte Tradition und Lebenseinstellung unserer Familie, das, worüber sie sich achtzig Jahre definiert hatte. Ich hatte immer gewusst, dass ich dort enden würde, hatte nie eine andere Karriere außer dem Bund geplant gehabt.

Warum auch? Bücher sind für die Ewigkeit. Hatte ich geglaubt. Gelesen wird immer. Ja, toll. E-Books las man heute. Wenn überhaupt. Natürlich gab es auch jetzt noch Bibliophile, die bei dem Anblick der echten Kostbarkeiten, die ebenfalls noch in unserem Laden zu finden waren, eine Erektion bekamen. Von denen verkaufte man im Monat vielleicht eins, höchstens zwei.

Der Rest waren Standard-Ausgaben, Kinderbücher, Bildbände, Schundromane, wissenschaftliche Literatur und Studienmaterialen wegen der nahen Uni. Ich hielt mein Einkommensniveau nahezu konstant. Aber eben nahezu konstant niedrig. Und jetzt?

Doch eine andere Wohnung suchen? Hier in der Gegend war das alles andere als einfach. Weiter weg wollte ich wegen der Nähe des Ladens nicht. Ja, die Wohnung war für mich alleine jetzt zu groß, seitdem meine Mutter nicht mehr lebte. Und wenn ich... mir einen Untermieter suchte?

Hm. Das könnte funktionieren. Mutters Zimmer war groß genug. Ich könnte es sogar möbliert anbieten. Vielleicht an einen netten, älteren Herrn vermieten. Bloß keine Studenten. Bloß keine Frauen. Ja, damit könnte ich leben. Das war eine Lösung.

Und wo anbieten? Annoncen in Zeitungen waren sicher nicht günstig, und wer las denn heutzutage noch Zeitungen? Online, alle machten alles nur noch im Internet. Ich hatte nicht einmal einen Computer. Ich konnte die Vorteile und Möglichkeiten nachvollziehen, aber es hatte mich nie persönlich interessiert.

Ich hatte ein Handy, aber das war nicht einmal eins dieser modernen Smartphones. Man konnte damit telefonieren und Texte schreiben, wobei ich letztere Option noch nie genutzt hatte. Fünfundvierzig jetzt, und wahrscheinlich so altmodisch und rückständig wie sonst Siebzigjährige, sollte man meinen.

Das stimmte natürlich nicht. Selbstverständlich hatte ich beim Bund mit Computern gearbeitet. Dort ebenfalls das Internet kennengelernt. Es enthielt sicher Tonnen interessanter Informationen. Aber keine Struktur, keine Regeln, keine Effizienz. Keinen Aufbau, mit dem ich anfreunden konnte.

Ja, vielleicht war ich ein Unikum, weil ich diese Art von Chaos und Anarchie ablehnte. In meinem Laden und in meinem Leben gab es klare, verlässliche Regeln. Alles hatte seinen Platz, alles konnte sofort und ohne Suche gefunden werden. Alles war überschaubar und abrufbar.

Wenn mich ein Kunde nach einem Buch fragte, wusste ich, ob ich es hatte oder nicht, ohne nachschauen zu müssen. Bei den Besseren konnte ich auf Anfrage das Druckdatum herbeten, den herausgebenden Verlag, die wievielte Auflage es war.

Nur beeindruckte das heutzutage niemanden mehr. Heute erntete ich nur Verblüffung, wenn ich zugab, potentielle Kunden, insbesondere Studenten, nicht über die Ankunft des Gewünschten per E-Mail informieren zu können, weil ich keine hatte. Was gab es denn im Internet schon so Besonderes?

Pornographie, überflüssige Neuigkeiten, Selbstdarstellungen in sozialen Medien, verkürzte, verkümmerte Kommunikation, Verschwörungstheorien, hanebüchenen Unsinn aller Couleur. Die Sachen, die wirklich zählten, die Gedanken und Weisheiten, oder das Leben großer und großartiger Menschen, fand man anderswo.

Bei mir beispielsweise, in feinen Einbänden, abrufbar und geordnet, in ihrer Richtigkeit und Wichtigkeit von Generationen bestätigt. Menschen, die die Klarheit ihrer Gedanken noch nicht der allgemeinen Verdummung wegen des Wunsches der Popularität geopfert hatten, die nicht davor zurückschreckten, nicht von der breiten Masse verstanden werden zu können.

Denen noch bewusst war oder gewesen war, dass Worte die verlässlichste und konkreteste Abbildungsmöglichkeit unseres Seins und Selbst waren. Der Dinge, die wirklich zählen. Es war also eine Wahl, die mir leichtgefallen war.

Ich brauchte kein Hochgeschwindigkeitsinternet, um an die Dinge zu gelangen, die für mich Bedeutung hatten. Sie umgaben mich bereits jeden Tag. Heidegger gab es nicht auf Twitter, Kants Facebook-Seite ließ sich ebenfalls nicht finden, Shakespeare bloggte nicht und ich bezweifelte, dass er das getan hätte, hätte es diese Möglichkeit zu seiner Zeit gegeben.

Männer kommen mit Regeln und klaren Strukturen wunderbar zurecht. Darum hatte es mir lange Zeit so gut beim Militär gefallen. Auch die wenigen Kameradinnen, die mit uns dienten, hatten sich in diese Struktur wunderbar integriert. Es gab natürlich auch Probleme, wie alle Strukturen sind diese niemals als etwas Statisches zu begreifen, sondern einem stetigen, dynamischen Wandel unterzogen.

Ich war beileibe kein Frauenfeind. Ich verstand, dass Frauen die Welt anders und aus anderem Antrieb verstanden und erfassten. Ich begriff sehr wohl, dass Liebe und Sexualität einen Großteil des menschlichen Dramas bestimmten und motivierten. Es war einfach so, dass mir dieser Teil des Menschseins vornehmlich aus Büchern bekannt war und angetragen wurde.

Dass ich mit Männern besser zurechtkam, hatte nichts mit meiner sexuellen Orientierung zu tun, denn die war eindeutig heterosexuell. Nie hatte ich mich von anderen Männern auf diese Art und Weise angezogen gefühlt. Es hatte einen guten Freund von mir gegeben, der dies einst auf die Probe gestellt hatte. Und die Frage war eindeutig und schlüssig für mich beantwortet worden.

So sehr ich ihn, seine Gefühle und seine Wünsche respektieren und schätzen konnte, sprachen sie mich dennoch in keiner Weise an. Im jungen Erwachsenenalter hatte ich mich der Dienste käuflicher Frauen versichert, um sporadisch auftretende, als Drucksituationen empfundene Regungen der Lust und manchmal einfach nur dem Wunsch nach menschlicher Nähe, ein Ventil zu verschaffen.

Diese Begegnungen standen von vornherein unter keinem guten Stern. War es zu Beginn eher das Gefühl gewesen, in meiner Unerfahrenheit und Unwissenheit von den professionellen und im Grunde an mir, außer an meinen finanziellen Beiträgen, bis auf eine Ausnahme gänzlich desinteressierten Damen, ausgenutzt und eingeschüchtert zu werden, war es später genau andersherum.

Nämlich, dass ich derjenige war, der diese Damen in nicht zu rechtfertigender Weise ausnutzte, mir mit einer Zahlung das Recht und den Zugang zu ihren Körpern verschaffte. Was sie dazu gebracht hatte, sich in dieser Weise mir auszuliefern oder ausliefern zu müssen, Drogensucht, ein Zuhälter, wirtschaftliche Notlagen, oder was auch immer dahinterstand, konnte nach meinem Verständnis nie als saubere Transaktion einer Dienstleistung aus freiem Willen aufgefasst werden.

Mit fortschreitendem Alter ebbte der hormonale Druck zudem zunehmend ab, ich fühlte mich immer weniger meinen Impulsen und Bedürfnissen ausgeliefert und traf kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag eine bewusste Entscheidung gegen weitere Exkursionen solcher Art und für moralische Integrität.

Nur einmal in meinem Leben hatte ich das Gefühl gehabt, verliebt zu sein. Bis über beide Ohren verliebt zu sein. Ich war siebzehn zu dieser Zeit, es muss kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag gewesen sein. Meine Freunde und Mitschüler hatten alle längst ihre ersten Liebschaften und sexuellen Erfahrungen hinter sich gebracht.

Es war die Zeit, in der mich die Idee der Liebe, angetragen aus Meisterwerken der Literatur oder auch der Filmkunst, wie zum Beispiel Jean-Paul Satres Drehbuch zu "Das Spiel ist aus", über alle Maßen faszinierte und erregte. Die Idee der totalen Liebe, für die man alles zu opfern bereit war.

Ich war gewiss schüchtern, hatte mich nie wirklich locker und unbefangen mit Mädchen unterhalten können. Dabei trotz meiner intellektuellen Kapazitäten in der Schule nicht als Streber aufgefallen, dafür sorgte schon meine ausgleichende Faulheit.

Wohl aber als anders als meine Altersgenossen von diesen wahrgenommen und, in einem durch nichts zur durchbrechenden, unbefriedigenden Kreislauf aus gegenseitigem Respekt und Distanz, links liegenlassen. Sie respektierten die Tiefe meines Denkens und Fühlens, interessant machte mich das nicht.

In meiner Klasse, die ohnehin erst nach der achten, aufgrund der erheblichen Disziplinprobleme, von einer reinen Jungenklasse in eine gemischte überführt worden war, gab es nur sehr wenige, die mich optisch und menschlich gereizt hätten. Auch bei der erheblich größeren Auswahl nach dem Übergang in das Kurssystem der Sekundarstufe II änderte sich daran zunächst nichts.

Gut, die sekundären Geschlechtsmerkmale der Mädchen verfehlten nicht ihren Reiz, ich schaute schon auf Busen oder im Falle einer in vielen von meinen Kursen vor mir sitzenden recht hübschen Klassenkameradin, auf den Bund ihrer Unterhosen und hervorlugenden Po-Ansatz, die immer wieder beunruhigend in meinem Gesichtsfeld auftauchten.

Wobei ich nicht erklären könnte, warum das nur bei ihr so war und keiner anderen. Ich war keineswegs der Einzige, dem dies auffiel, in unserer Abi-Zeitung wurde sie später als "Miss SSL - sichtbare Slip-Linie" gefeiert. Davon ab war keine der Altersgenossinnen meines Jahrgangs in dieser Weise faszinierend für mich.

Ich selbst war durchaus nicht unattraktiv, war als Leichtathlet sogar was rein körperliche Merkmale wie Muskeldefinitionen anbetraf, durch das harte Training in meinem Verein, einem Großteil meiner männlichen Mitschüler um einiges voraus.

Anders als diese legte ich darüber hinaus jedoch keinerlei Wert auf mein Äußeres, kleidete mich schlicht und zweckmäßig, wurde in besagter Abi-Kladde aufgrund meines Haarschnitts von Mitschülern als "schon immer beim Bund befindlich" tituliert. Die Tatsache, dass ich mich bereits zu dieser Zeit im Vergleich zu anderen vermutlich sehr aufrecht und, nun, "zackig" bewegte, trug sicher zu diesem Eindruck bei.

Nun, vielleicht war es auch der tägliche Umgang, die Tatsache, dass ich diesen Mädchen bereits einiges an meinem Denken und Fühlen beispielsweise im Deutsch Leistungskurs vermittelt und dort zum Teil sehr eigenartige Reaktionen erhalten hatte, die dazu führten, dass ich mich, wenn überhaupt, für Mädchen unterer Jahrgänge interessierte.

Das hatte in der neunten Klasse zur Folge, dass ich mir lange Zeit ein Mädchen aus der siebten in einer Vorstufe des Verliebtseins sehr genau und lange ansah. Was sie erwiderte, aber es gelang mir nicht, diese Ahnung eines Potentials in folgerichtige Handlung umzumünzen, oder um etwas weniger abstrakt zu formulieren: das Herz mal in beide Hände zu nehmen und sie anzusprechen.

Auch in dem Sommer, der der Versetzung in die zwölfte Klasse voranging, beschränkten sich meine amourösen Abenteuer auf den Blickkontakt mit einer jungen Dame. Eine Klassenstufe unter mir, die mir in der Schule schon, aber noch deutlicher am Badesee unserer Stadt ins Auge gefallen war.

Sie war eigentlich permanent in Begleitung ihrer wohl besten Freundin und bestach neben anderen körperlichen Attributen, die sicherlich eine Rolle spielten, durch ein wunderschönes Gesicht und kluge, wissende, dabei unglaublich sanfte Augen, die mich magisch anzuziehen schienen.

Während sich mein Pulsschlag in ihrer Nähe wie beim tausend Meter Lauf langsam und graduell erhöhte, insbesondere wenn sie mit ihrer Freundin in knappen Bikinis und deutlichem Selbst- und Körperbewusstsein auf der Liegewiese des Sees flanierten, wich sie niemals meinen langen und schmachtenden Blicken aus.

Ich wusste nichts von diesem Mädchen, außer dass sie erschreckend gut aussah und offenbar keinen festen Freund hatte, denn ich erlebte sie zu dieser Zeit nur und ausschließlich in Begleitung ihrer Freundin, die nicht minder attraktiv war.

Und ihren Namen, Claudia. Nur von einem Klassenkameraden, der sie über seine kleine Schwester kannte, erfuhr ich zusätzlich, dass sie ausgesprochen nett und intelligent sein sollte.

Alles, was sich in mir in den vorangegangenen Jahren als logische Folge der Pubertät und der nun gefühlten biologischen Imperative aufgestaut hatte, durch Literatur auf befremdliche und unangemessene Weise intensiviert und verschärft, entlud sich nach diesem Sommer wie ein Gewitter.

Keineswegs der mutigen Art, denn sie einfach anzusprechen war auch weiterhin für mich undenkbar und unmöglich gewesen. Nein, ich hatte zu dieser Zeit selbst mit dem Schreiben begonnen. Fand auf diesem Weg Zugang zu mir und der Welt, konnte mich so und dort exponieren und explizieren. In selbst geschaffenen Welten, Liebes- und anderen Abenteuern mein Selbstbild entwickeln konnte, mich erproben und unter Beweis stellen.

Also wagte ich eine Kontaktaufnahme über dieses vermeintlich sicherere Medium, stellte ich mich und den Überschwang meiner Gefühle für sie in einem, vermutlich bizarren, dreiseitigen Brief in Worten zur Verköstigung dar, und steckte ihr diesen in einer Pause im dritten Anlauf zu. Noch nie hatte ich mich jemanden so geöffnet, so viel über mich und meine Gefühle preisgegeben.

Mit Herzklopfen und dem Gefühl, im Boden zu versinken, nahm ich am nächsten Tag ihre ebenfalls schriftliche Antwort entgegen. Immer noch erschrocken über mich selbst, mich so weit vorgewagt zu haben. Mich zum allerersten Mal nicht von allen quälenden Selbstzweifeln und vielleicht in geringem Maße vorhandenen Minderwertigkeitskomplexen ausgebremst, zur Beurteilung jemand anderem überlassen hatte.

Sie schrieb nur einen Satz als Antwort, in sehr schöner Handschrift:

"Liebe kann man nicht erzwingen."

Auf alles war ich gefasst gewesen, auf einen freundlichen aber bestimmten Korb, denn nur so konnte meiner Meinung von ihr nach ein solcher erfolgen. Sogar auf die vage und seligmachende Perspektive, dass sie mich "erhören" und meinen Vorschlägen zum Kennen- und Liebenlernen folgen würde. Vielleicht auch einfach mein Pamphlet und mich ignorieren würde, das ich wie Luther an die Tür ihres Herzens zu nageln gewagt hatte.

Dieser Satz aber riss mich aus allen Blütenträumen und Ängsten gleichermaßen, erwischte mich polarkalt in der Spätsommerhitze, erschütterte mich in meinem Wesen. Mal abgesehen davon, dass ich ihr mit ihren sechzehn Lenzen eine solch tiefe Spruchweisheit trotz meinem, in keiner Weise durch Realität gestützten Bild einer liebevollen Göttin, nicht zugetraut hatte, verstand ich ihre ganze Art der Kommunikation nicht.

Klar schien mir lediglich, dass ich einen Ablehnungsbescheid bekommen hatte. Den ich aber nicht verstand, oder nicht vollständig. Dass es ein solcher nicht unbedingt gewesen sein musste, ging mir zu diesem Zeitpunkt nicht auf.

Vielleicht war es anders gemeint gewesen als ich es auffasste, vielleicht die Aufforderung zu einem tatsächlichen Dialog, denn ihr Verhalten stand im Widerspruch zu der vermeintlich klaren Botschaft. Sie wich meinem Blick auch weiterhin nicht aus, zog sich keineswegs aus zufälliger Nähe zurück, erweckte oft sogar den Eindruck, dass sie auf eine Reaktion vor mir wartete. Die sie nicht mehr erhielt.

Ich war geschockt, völlig verunsichert, weniger weil ich diese Absage erhalten hatte, denn dass dies der wahrscheinlichste Ausgang sein würde, auch wenn ich vor Hoffnung verrückt gewesen war, war mir immer klar gewesen. Sondern weil mein Kommunikationsversuch so gründlich gescheitert war.

Mal abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich mit diesem Wust an Gefühlen und Selbstbildern, mit denen ich sie da so ansatzlos konfrontiert hatte, ebenfalls nicht so ohne Weiteres klargekommen war, stellte ich hier zum ersten Mal in aller Klarheit das fest, was mir in der Folge immer öfter und immer schmerzhafter bewusst wurde:

Ich verstand sie nicht. Ich verstand ihren Weg, zu kommunizieren, zu empfinden nicht. Kein klares Feedback auf mich und meine Gefühle, nichts, mit dem ich mich identifizieren oder an dem ich mich notfalls reiben konnte. Niemals hätte ich eine solche Antwort für eine meiner Protagonistinnen ersinnen können, niemals hätte ich so viel Klarheit bei gleichzeitiger völliger Ambivalenz als Reaktion antizipieren können.

Es bestätigte für mich diese Ahnung, wurde am Ende zur Gewissheit, dass ich Mädchen und Frauen nicht verstand. Mein Versuch, eben dieses Manko realiter lernend auszugleichen, wenn auch sicherlich mit gänzlich untauglichen Mitteln, so nachhaltig gescheitert war, dass ihm kein in absehbarer Zukunft kein zweiter folgen würde.

Ich beschränkte mich also auf die rein akademische Immersion in Dingen der Liebe und Sexualität, begann mich mit Psychologie auseinanderzusetzen, um mich diesem Phänomen der Andersartigkeit des anderen Geschlechts intellektuell zu nähern.

Las Freud, Jung, Adler, aber auch Maslow im Versuch, das geheimnisvolle Unverständliche der Weiblichkeit für mich zu enträtseln, um mich dann aus gesicherter Position noch einmal ins Geschehen zu wagen.

Später, angeregt durch Werke, die wir im Leistungskurs durchgenommen hatten, wie beispielsweise Verana Stefans "Häutungen", auch feministische Literatur, von dem zu dieser Zeit überall kursierenden "Märchenprinzen", bis Alice Schwarzer.