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Der Kassandra-Komplex

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Also am besten die Gelegenheiten, wo dies zu offensichtlich wurde, meiden. Das Wohnzimmer war somit für mich morgens Sperrgebiet, bis sie ihre Möbel so umgeräumt hatte, dass sie sich dort austoben konnte.

Pünktlich um 6:35 verließ ich das Badezimmer und machte mich nach dem Ankleiden auf den Weg in die Küche. Ob ich ihr auch einen Kaffee mit zubereiten sollte? Mochte sie überhaupt Kaffee?

"Guten Morgen. Du kannst dich schonmal setzen, aber das Frühstück ist erst in fünf Minuten fertig. Es ist erst 6:40 Uhr", wurde mir grinsend von der bereits anwesenden und zudem erschreckend aktiven Claudia unterbreitet.

Sie hatte tatsächlich schon den Frühstückstisch gedeckt, es lief Kaffee durch und es roch nach frischen Aufbackbrötchen im Ofen. Sie trug noch immer ihr Yoga-Dress, wie ich leicht bekümmert feststellte. Und am Rande durchaus erfreut.

"Guten Morgen. Das ist ja eine nette Überraschung. Erwarten wir Gäste?", kommentierte ich, was sie auf dem Tisch alles an Wurst und Käse, Konfitüren und anderen Brotaufstrichen abgeladen hatte. Eierbecher warteten auf ihren Inhalt, der wohl in diesem Moment fertig wurde, denn sie ließ das Wasser laufen, um sie abzuschrecken.

"Nö, ich kenne deine Vorlieben halt noch nicht. Und so ein gemütliches langes Frühstück am Morgen hat doch was, oder? Du hast doch sicher einiges an Zeit, bevor du deinen Laden aufmachen musst?"

"Ich öffne schon um acht, wegen der Studenten", gab ich erklärend zurück. "Aber habe daher trotzdem noch einiges an Zeit."

Kochschinken und Wurst, nicht mal meine, die musste von den Lebensmitteln stammen, die sie gestern mitgebracht und sofort im Kühlschrank verstaut hatte. Also keine Vegetarierin. Insgesamt offenbar eine durchaus normale Frau. Kein Müsli oder Rohkost in ihrer Nähe. Gelobt sei Gott.

"Nicht ganz hart gekocht, ich hoffe, du magst sie so. Wenn nicht, bitte nicht höflich schweigen, ich bin wie gesagt flexibel und passe mich gern deinen Bedürfnissen an", brachte sie an, als wir exakt um 6:45 Uhr mit dem Frühstück anfingen. Warum fühlte ich mich plötzlich albern dabei?

"Nein, perfekt, absolut perfekt, genauso liebe ich sie", gab ich anerkennend zurück.

"Wie flexibel mein Körper ist, hast du ja ansatzweise vorhin gesehen", setzte sie lächelnd fort, wobei ich Schluckbeschwerden bekam.

"Ehm... ich wollte nur... sehen, ob du genug Platz gefunden hast", rettete ich mich in letzter Sekunde.

"Ja, das ging ohne Weiteres."

"Was war das für eine Übung, die du dort gemacht hast?", wollte ich wissen und fragte mich, wie sie mich gesehen hatte. Vielleicht als sie sich vornübergebeugt hatte, zwischen ihren Beinen hindurch?

"Der Sonnengruß, Auftakt und Abschluss meiner Morgenroutine."

"Ein wirklich interessanter Bewegungsablauf. Ich treibe auch Sport, gehe zumindest mal ins Fitness-Studio und laufe ab und zu. In meiner Jugend war ich Leichtathlet, Zehnkämpfer um genau zu sein."

"Zehnkämpfer, Einzelkämpfer, Nahkämpfer, Soldat... das Leben ist für dich ein Kampf, eine Auseinandersetzung?"

Huch. Eine berechtigte Frage? Auf jeden Fall eine, die ich mir nie selbst gestellt hatte.

"Ein wenig schon, vielleicht... darüber habe ich in dieser Form nie nachgedacht. Das werde ich aber sicher im Tagesverlauf tun und gebe dir später eine finale Antwort."

"Du bist ein Denker, das habe ich schon aus der Literatur in deinen Bücherregalen schließen können."

Da musste sie verblüffend schnell meine Buchrücken gescannt haben, ich hatte nur den Blick auf meine Schreibmaschine bemerkt.

"Ja, ich beschäftige mich gern mit Philosophie, Psychologie und Soziologie, ist eine Art Steckenpferd von mir."

"Da haben wir eine weitere Gemeinsamkeit, wenn ich auch mehr zur östlichen Philosophie tendiere", gab sie kauend zurück.

Faszinierend. Das konnte Diskussionsstoff für lange Winterabende werden. Ich ertappte mich dabei, dass ich schon hoffte, sie würde nicht zu schnell eine andere Wohnung finden. Nach nicht einmal zwölf Stunden. Dass ich sie dabei schweigend anstarrte, wurde mir nicht bewusst.

"Was schaust du so?", kam ihre verwunderte Frage.

"Du bist eine faszinierende Frau", entwich mir ein Kompliment, ohne dass sich mein Verstand dazwischengeschaltet hatte. Sie lächelte vergnügt.

"Danke. Das habe ich schon viel zu lange nicht mehr gehört. Du hast gesagt, du schreibst. Das finde ich wiederum faszinierend. Was schreibst du?"

"Oh... alles Mögliche, meist Kurzgeschichten, aber ich hatte vor einiger Zeit auch einen Roman angefangen, der allerdings noch weiter auf seine Fertigstellung wartet."

"Ich würde gerne mal etwas davon lesen. Wie wollen wir das heute Abend mit dem Essen machen? Gemeinsam was kochen, oder darf ich dich zum Einstand heute den ganzen Tag verwöhnen?"

"Oh... wenn du möchtest, gern. Ich übernehme dann aber jetzt und am Abend den Abwasch, das ist nur fair."

"Deal. Magst du Curry-Gerichte, indisches Essen?"

"Sehr gern sogar. Wir sind öfter rüber nach Pakistan, als ich in Afghanistan stationiert war, einige Zeit nicht weit von der Grenze. Da gab es tolle Sachen."

"In Pakistan war ich nie, aber zweimal in Indien, einmal im Norden bis nach Tibet rauf und einmal in Südindien, mit einem Abstecher nach Sri Lanka."

Auch das konnte ein interessanter Gesprächsstoff werden. Sie lächelte mich an.

"Erstaunlich. Wenn du dich freust, weicht dein ganzer Körper auf und du wirkst viel natürlicher, nicht mehr so verkrampft und gezwungen. Du freust dich gerade, oder?"

Ja. Auf das Leben mit ihr. Was ging hier vor?

"Ist mir noch nicht aufgefallen. Vielleicht... weil ich letzthin nicht oft Anlässe zur Freude hatte..."

"Nun, das ändert sich jetzt. Wir werden viel Spaß und Freude zusammen haben können, und müssen uns nicht in unsere eigenen Welten zurückziehen, findest du nicht auch? Noch einen Kaffee?"

"Ja. Zu beidem. Gerne sogar."

~~~

Ich freute mich langsam wirklich auf das Zusammenleben mit ihr. Dabei geschah vieles von dem, was ich befürchtet hatte, hatte ich schon nach dieser kurzen Zeit völlig die Kontrolle über alle Abläufe abgegeben, all ihren Vorschlägen rückhaltlos zugestimmt, mich von ihr leiten lassen. Wie machte sie das nur? Eine bewusste Manipulation wollte ich ihr nicht unterstellen.

Waren alle Frauen so? War sie ein geeignetes Studienobjekt für die Frau als solche? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das Verrückte war, dass allein ihre Anwesenheit und Art mir ein anderes Studienobjekt aufdrängten, wie gleichfalls ihre Fragen. Nämlich mich. War Kampf und Kämpfen wirklich meine Lebenseinstellung, mein Umgang, meine Auseinandersetzung mit dem Leben?

Irgendwie schon. Ich kämpfte um Kontrolle, Selbstbeherrschung, maximale Effizienz und Leistung, Ordnung und klare Strukturen in Denken und Handeln. Hatte bis jetzt den Luxus gehabt, in einer Umwelt zu leben und zu agieren, wo dies nicht nur möglich, sondern erwünscht gewesen war.

Mich niemand hinterfragte. Niemand mich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ich mich in einem Panzer einschloss... tat ich das? Doch, ganz sicher sogar. Und das konnte man sehen? Oder nur sie?

Der Student, dem ich gerade geistesabwesend das Wechselgeld gereicht hatte, stutzte, ging noch einen Schritt zur Tür und kehrte dann um.

"Sie haben mir zu viel rausgegeben, ich hatte Ihnen nur einen Zehner gegeben", meinte er und hielt mir den überzähligen Zehn-Euro-Schein hin.

"Oh, vielen Dank. Ich war ganz in Gedanken", gab ich zurück und dann meiner echten Freude Ausdruck. "Freut mich, dass es auch noch ehrliche Menschen gibt."

Er zog die Schultern hoch, das Lob war ihm offensichtlich peinlich und dann verließ er den Laden. So einen Spruch hätte ich früher nicht gemacht, vielleicht nur später als eine erfreuliche Geschichte meiner Mutter erzählt. Was ging jetzt in mir vor? Es war Bewegung in mein Leben gekommen, durch diese Frau, durch Claudia.

Durch diesen Hauch von Anarchie, der sie umgab, die ich noch vor Tagen gefürchtet und gemieden hatte, wie der Teufel das Weihwasser. Wie Veränderungen, das Überraschende, nicht Absehbare, Unberechenbare. Das alles hatte sie innerhalb von drei, vier Gesprächen gekippt. Mich neugierig gemacht, voller Vorfreude und Erwartung auf das Kommende. Irre.

Was für eine faszinierende Frau. So natürlich und... Hoppla. Jetzt gingen doch schon die Gäule mit mir durch. Wenn ich nicht aufpasste, verliebte ich mich noch in sie. Ganz langsam. Nicht den Kopf verlieren. Erst einmal in Ruhe den Schock verdauen. Welchen Schock?

Dass eine Frau in meine kleine beschauliche Welt eingebrochen war, in mein Leben und meine Gedanken? Etwas in Bewegung gesetzt hatte, was sich über Jahre als angenehm empfundener Stillstand etabliert hatte? Schon erste Barrieren zum Fallen gebracht hatte, in meinem Denken Schranken geöffnet? Was, wenn dies mit meinen Gefühlen, niederen und höheren auch geschah?

Das konnte keineswegs ihre Intention sein, vermutlich hatte sie genau solche Schwierigkeiten, mich einzuschätzen und mit mir umzugehen, nur äußerte sich das bei ihr auf andere Weise. Dass ich "so anders" war, hatte sie mir ja bereits mitgeteilt. Und niedlich. Darüber kam ich immer noch nicht hinweg. Dass sie mich niedlich genannt hatte.

Entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten harrte ich nicht bis exakt sechs Uhr im Antiquariat aus, sondern schloss bereits eine Viertelstunde vorher ab. Es war ohnehin nicht viel los gewesen. Tatsächlich war an diesem Tag ein älterer Herr sinnierend vor meinem Aushang stehengeblieben, hatte sich aber keinen von den Kontaktslips abgerissen.

Kaum hatte er den Laden verlassen, nahm ich den Aushang ab. Ich war ja schließlich nicht mehr auf der Suche. Und hatte es eilig, zu der Gefundenen zurückzukehren. Ich fand Claudia in der Küche vor, in der es schon herrlich nach Curries roch. Sie schien etwas überrascht, dass ich schon so früh nachhause kam, aber durchaus erfreut.

"Prima... es dauert noch einige Zeit mit dem Essen, die müssen alle noch eine Weile vor sich hin köcheln. Ich muss nur zwischendurch ab und zu umrühren und dann den Reis aufsetzen. Kannst du mir bitte kurz helfen? Ich habe soweit alles verschieben können, aber den großen Kleiderschrank konnte ich nicht alleine bewegen. Echtholz, nicht wahr?"

"Kann gut sein, ich helfe dir gern."

Das Teil hatte es wirklich in sich, aber wir schafften es trotzdem ohne Weiteres. Ja, die neue Aufteilung hatte einiges für sich und schuf den von ihr gewünschten Platz für ihre Übungen. Fast schon bedauerlich, dass ich sie dann nicht mehr dabei zu sehen bekam. Auch wenn es mein fester Vorsatz gewesen war, mich zukünftig nicht daran zu erfreuen. Erwischt hatte sie mich ja schließlich ebenfalls.

Oje, im Bad fand ich tatsächlich den Wäscheständer voller Unterwäsche. Von der Art, wie sie bei meiner Mutter natürlich nicht zu finden gewesen war. Kaum diese höheren Höschen, Jazzpants oder wie die sich schimpften, die meisten erschreckend schmale und kleine Slips, manche davon zu allem Überfluss vermutlich durchsichtig, was auch für einige der aufgehängten BHs zutraf.

Was mich erschreckenderweise milde erregte. Ein Relikt aus der Schulzeit, eine späte, nicht intendierte Rache der Miss SSL? Oder doch eher eine Erinnerung an die Prostituierten, für die so etwas so eine Art Arbeitskleidung gewesen war? Nun, zumindest bestand bei den Temperaturen des Spätherbstes keine große Gefahr, dass ich irgendwelche davon ungewollt, oder halbgewollt bei der Trägerin am Körper zu sehen bekam.

Brach jetzt alles wieder hervor, auch Sexualität und Gefühle? Damit die Sehnsucht und das Verlangen nach mehr, nach einem anderen Leben, einer anderen Art der Gemeinschaft, einer anderen Art, von jemandem angenommen zu werden? Letztlich diesem Konzept, das mich damals schon so faszinierte, die absolute, totale und ewige Liebe?

Gedanken, die ich wie mein Geschäft herunterspülte, mir gründlich die Hände wusch, um dann zu Claudia so offen und unbefangen wie möglich in der Küche Gesellschaft zu leisten. Es wurde auch höchste Zeit.

Sie war bereits dabei, den Reis abzugießen und verriet mir dabei das Geheimnis, dass man sich nicht an Packungen halten und nur so viel Wasser, wie unbedingt notwendig verwenden sollte. Sondern deutlich mehr, um dann über ein feines Sieb abzugießen. Machte den Reis fluffiger.

Sie hatte keineswegs übertrieben, sie konnte enorm gut kochen. So gute Curries hatte ich nicht einmal in den beiden von Indern und Pakistanis betriebenen Restaurants in unserem Stadtteil zu essen bekommen. Wobei ich da nur Take-away orderte und nicht dort aß. Dazu auch noch Tandoori Chicken. Wahnsinn.

"Wow. Ich hoffe nicht nur aufgrund deiner Kochkünste, dass du so schnell keine andere passende Wohnung findest...", wagte ich ein völlig ehrliches Statement, das sie offensichtlich erheiterte.

"Freut mich, dass es dir geschmeckt hat. Und ich habe auch das Gefühl, dass meine Wohnungssuche keine besondere Eile hat. Ich fühle mich hier im Moment sehr wohl", meinte sie mit einem feinen Lächeln.

Ich hatte gerade mit dem Abräumen begonnen, als ihr Handy klingelte und den bis dahin wunderschön ruhigen und harmonischen Abend zerstörte. Denn das Gespräch, was sie entgegennahm, hatte es offensichtlich in sich.

Sie reagierte sehr heftig auf die anrufende Person, warf mir einen kurzen entschuldigenden Blick zu und verzog sich dann mit dem Gespräch auf ihr Zimmer. Aus dem sie erst eine halbe Stunde später zurückkehrte, als ich schon längst den Abwasch abgeschlossen und mich auf das Wohnzimmersofa zurückgezogen hatte.

"Sorry. Das war meine Schwester. Sie wollte unbedingt mit mir reden...", gab sie bekannt und ließ sich schwer auf das Sofa fallen. Ihre Augen waren wieder gerötet, außer Wutausbrüchen hatte das Gespräch offenbar gleichfalls Tränen hervorgebracht. Sie zitterte richtig.

Ich war völlig verunsichert, wusste nicht was ich tun sollte. Instinktiv wusste ich, dass ich sie in meine Arme nehmen, ihr den menschlichen, körperlichen Kontakt geben sollte, den sie sich jetzt wünschte und brauchte. Aber wieder reichte das bloße Wissen bei einer Frau nicht für die folgerichtige, direkte Handlung bei mir aus.

Dann aber stellte sie den Kontakt von sich aus her, schmiegte sich bei mir an und schien wieder kurz vor einem Tränenausbruch. Nun überging mein Arm alle verstandesmäßige Steuerung und gab ihr den angemessenen zusätzlichen Halt.

Ich verstand auch, dass sie in diesen Minuten noch keine Details des Gesprächs wiedergeben wollte oder konnte, sondern einfach nur gehalten werden wollte, sich nicht alleine fühlen. Da unterscheiden sich Männer und Frauen nicht.

So hatte ich einen Kameraden im Arm gehalten, der erschüttert vom Fund zweier enthaupteter Kinder wie ein Geist von einem Einsatz zurückgekommen war. Eine Erdung durch Menschlichkeit nach diesem unfassbaren Grauen gebraucht hatte. Erzählen, was er wirklich gesehen und empfunden hatte, konnte er erst viel später.

An direkten Kampfeinsätzen hatten wir nie teilgenommen, nur einmal waren wir in einen Hinterhalt geraten und es kam zu einem kurzen Schusswechsel, bei dem wir das Feuer erwiderten. Dann die IED, als unser Konvoi aus amerikanischen, britischen und unseren Fahrzeugen an dem verlassenen ausgebrannten Auto vorbeifuhr, in dem der Sprengsatz untergebracht war.

Oft genug aber erlebte wir die Gräuel des Danach. Die vielen Verletzten und Verstümmelten unter den zivilen Flüchtlingen, die aus den Kampfgebieten um ihr Leben rannten. Hingerichtete, Erschossene, von Granaten zerfetzte Leiber am Wegesrand, aber auch die Auswirkungen von Luftangriffen der Alliierten.

Ganze Dörfer in Schutt und Asche. Tote Taliban-Kämpfer, ja. Aber ebenfalls Kinder unter den Leichen, Alte, Kranke, die nicht hatten fliehen können oder wollen. Bilder, die man nicht vergaß, die auch jetzt noch, im Jahre 2008, so frisch wie in den erlebten Kriegstagen waren.

Warum ich ausgerechnet jetzt daran denken musste, mit der sich langsam beruhigenden Frau im Arm, die sich dankbar von mir das Haar streicheln ließ? Gleichfalls mehr ein Reflex, als eine bewusste Handlung. War es, dass die Konfrontation mit ihren Gefühlen mir Zugang zu meinen eigenen, so sorgsam vergrabenen, verschaffte?

Fast unmerklich löste sie sich von mir, rieb sich ihr Gesicht und schaute mich dann direkt an.

"Tut mir leid, das Gespräch hat mich ziemlich mitgenommen. Es ist... so viel schwieriger mit ihr als mit Jonas. Von ihm lass ich mich scheiden, sobald das möglich ist und die Geschichte findet ein Ende. Birgit wird auf Lebenszeit meine Schwester bleiben... verstehst du?"

"Ja, ich denke schon. Hattet ihr vorher ein gutes Verhältnis?"

"Nicht immer, wie das bei Schwestern halt so ist. Du hast keine Geschwister?"

"Nein, ich bin ein Einzelkind. Was ich ziemlich bedauert hatte, als ich kleiner war. Meine Freunde mit Geschwistern hatten auch an Regentagen immer jemanden zum spielen. Später war ich oft froh, wenn mir meine Freunde von den Problemen mit ihren Brüdern oder Schwestern berichtet haben."

Sie nickte und starrte vor sich hin. Dann seufzte sie.

"Wunden heilen. Manche brauchen länger als andere. Manche nie, aber man lernt, mit ihnen zu leben", meinte sie, wobei nicht klar wurde, ob sie das mir oder sich selbst erzählte. "Hast du noch etwas von dem guten Wein?"

"Natürlich, wir haben gestern nur vier Gläser getrunken. Ich hole ihn sofort."

Sie wollte etwas einwenden, aber da war ich schon aufgesprungen und auf dem Weg in die Küche. Ich fühlte mich unwohl in dieser Situation, weil mir die Verhaltensregeln, mal abgesehen von den eher instinktiven Reaktionen, nicht bekannt waren. Auch nicht, wie ich sie verbal auffangen könnte, oder ob das überhaupt von mir erwartet wurde.

Schweigend tranken wir ein Glas Wein zusammen.

"Du hast auch gezittert, als du mich im Arm gehalten hast. Warum?"

Das war mir selbst nicht aufgefallen, aber ja, das konnte durchaus so gewesen sein.

"Das ist nicht leicht zu erklären... ich habe mich eines Kameraden erinnert, den ich einmal ähnlich unterstützt hatte, nachdem er einen Schock erlitten hatte. Dann kamen andere Bilder aus der Kriegszeit in mir hoch."

Zu meiner Überraschung nickte sie.

"Ja, dass dort ein oder mehrere Traumata unter deinem Panzer schlummern, habe ich von Anfang an gefühlt."

Wie konnte sie das gefühlt haben? Wie war das möglich? Und doch zweifelte ich keine Sekunde, dass es so war.

"Du hast Recht, es waren zum Teil schreckliche Dinge, die wir sehen und erleben mussten. Die mich unter anderem letztlich auch dazu gebracht haben, nicht für eine Verlängerung meiner Dienstzeit zu unterschreiben, was möglich gewesen wäre."

"Habt ihr hinterher keine psychologische Betreuung bekommen?"

"Hätten wir kriegen können, klar. Aber die meisten von uns wollten so damit zurechtkommen. Was ein Großteil von uns auf die eine oder andere Art auch geschafft hat. Und du hattest Recht, in vielem habe ich versucht mich durchzukämpfen, versuche es immer noch. Haltung zu bewahren, Kontrolle, Ordnung, auch meine Gefühle in Schach zu halten. Krieg ist kein Planspiel, wie er uns vor diesem Einsatz dort immer vorgekommen war. Manöver, Verschiebungen von Truppen und Material von A nach B. Beschaffen, organisieren, ermöglichen. Damit konnte ich problemlos leben. Was Krieg wirklich ist, was er bedeutet, welches Leid und Elend er unter die Menschen bringt, hatte ich zuvor in hunderten von Büchern gelesen. Begriffen habe ich es aber erst wirklich, als ich ihn erlebte."

"Ich verstehe, einer abstrakten Idee kann sich verschreiben, aber die volle und nackte Realität ist etwas anderes."

"Genau, das trifft es perfekt. Du... verstehst mich erstaunlich gut. Und bist der erste Mensch außer einigen Kameraden, mit dem ich darüber gesprochen habe. Der Roman... dreht sich um diese Zeit. Ich habe irgendwann aufhören müssen, weil die Erinnerungen zu überwältigend wurden. Noch nicht wirklich verarbeitet waren. Wobei mir das Schreiben darüber eigentlich helfen sollte."

"Du kannst mit mir über alles reden, mir alles erzählen, was dich bedrückt und belastet, ich hoffe du weißt das?"