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Der Kassandra-Komplex

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Wie alles in dieser Zeit halbverstanden, unreflektiert zu einem unausgegorenen Ursüppchen eines Frauenbilds zusammengeschüttet und auf kleiner Flamme geköchelt, bis nur ein klares Destillat übrigblieb.

Ich würde Frauen nie verstehen, nie einen Draht zur Andersartigkeit ihrer Psyche bekommen, nie deren Erwartungen und Hoffnungen entsprechen können. Frauen und ich passten einfach nicht zusammen. Das brauchten sie dann auch nicht mehr.

Meine Berufswahl entfernte mich von ihnen. Nach der Grundausbildung landete ich im Stab und der Stabshauptmann, für den ich neben anderen Tätigkeiten eine Art Ordonanz wurde, erkannte früh mein Talent für Planung und strukturiertes Herangehen an logistische Probleme. Er brauchte mich kaum zu ermuntern, ich beschloss bereits nach einem halben Jahr Berufssoldat zu werden.

Selbstverständlich reifte ich als Persönlichkeit, sah Dinge differenzierter und verstand nun sicher mehr als noch in der Schulzeit. Im späteren Verlauf meines Lebens war es daher weniger ein Eingeständnis, dass ich Frauen nicht verstehen konnte, sondern mehr, dass ich es gar nicht mehr wollte. Sie als eines von vielen interessanten abstrakten Phänomenen beobachten und respektieren konnte, die unsere Welt so schön, aber auch so verwirrend machen.

Meine Mutter hatte mir noch kurz vor ihrem Tod angetragen, ich solle mich doch langsam mal mit dem anderen Geschlecht auseinandersetzen. Und schlug gleich mehrere Kandidatinnen aus unserem Bekanntenkreis vor. Vielleicht nur aus dem Gefühl heraus, dass eine Mutter verpflichtet ist, ihr Kind auf alle Möglichkeit der Glücksfindung aufmerksam zu machen, denn meine Ablehnung verstand und respektierte sie ohne Überraschung und Widerstand.

Selbst meine Mutter war für mich ein Buch mit sieben Siegeln gewesen, was ihre Emotionalität und Denkweise anbetraf. Was unser Verhältnis aber bestimmte, war außer der Zuneigung, die ich sicher für sie hatte, auch und gerade die Tatsache, dass sie vieles von dem verkörperte, was ich als wünschenswerte Charakterzüge und Zeichen menschlicher Größe sah.

Selbstlosigkeit, eine unfassbare Härte sich selbst gegenüber, ein disziplinierter und rigoroser Umgang mit Alltag und Verpflichtungen, eine strukturierte und klare Handlungsweise, jederzeit durch ihre Regelmäßigkeit nachvollziehbar. Die einzige Frau in meinem Leben, die ich also nicht hundertprozentig verstand, aber mit der ich gefahrlos und sicher umgehen konnte.

Also, ein Untermieter. Es hieß, mehr als nur das Zimmer zu vermieten, und die anderen Räume wie Küche und Bad, aber vermutlich auch das Wohnzimmer mit einer fremden Person zu teilen. Gemeinschaftliches Leben war mir schließlich von der Bundeswehr alles andere als fremd. Hier aber hieß es, der anderen Person einen direkten Zugang zu meinem privatesten, tatsächlichen Leben zu gewähren.

Standen vielleicht Kompromisse wie die Wahl der gemeinsam zu schauenden Fernsehsendungen, unter Umständen gemeinsame Mahlzeiten an, ein logistisches Vakuum, das es zu füllen galt, würde entstehen. Mit einem Mann konnte ich mich sicher arrangieren. Die Idee begann mich zu elektrisieren.

Vielleicht bekam ich einen weisen alten Mann als Hausgenossen, mit dem ich über Philosophie und Kunst diskutieren konnte, oder über Fußball, oder Literatur? Oder sogar Frauen? Nicht nur Bücher sind aus zweiter Hand wertvoll, auch und gerade die Erfahrungen anderer.

Ja, und wo und wie fand man solch ideale Zeit- und Hausgenossen? Nach kurzer Überlegung entschied ich mich, die kostengünstige Herangehensweise anderer zu kopieren und einen Aushang mit abreißbaren Kontaktinfos zu verfassen. So weit, dass ich diesen an Verkehrsschilder und Litfaßsäulen platzierte wie manche, wollte ich allerdings nicht gehen.

Mein Antiquariat und der nahe Supermarkt erschienen mir als ausreichende und erfolgversprechendste Standorte für mein Angebot, also bereitete ich zwei entsprechende Zettel vor.

Hängte einen davon unverzüglich bei meiner Arbeitsaufnahme auf, ohne dass er an diesem ersten Tag auch nur von irgendjemandem wahrgenommen wurde, und begab mich nach Ladenschluss zum Supermarkt, da ich dort ohnehin einkaufen musste.

Nachdem ich meine Einkäufe in den mitgebrachten Taschen verstaut hatte, wollte ich den Zettel aufhängen. Und stellte fest, dass es mit meinem logistischen Genie, was mir manche unterstellten, wohl doch nicht so weit her war, denn ich hatte nicht daran gedacht, wie ich es an der dort dafür vorgesehenen Kunststoff-Pinwand anbringen könnte.

Im Laden hatte ich selbstverständlich Klebeband zur Verfügung gehabt. Was nun? Noch einmal zurück mit all den Einkäufen, um dort solches käuflich zu erwerben, oder vielleicht eine der Kassiererinnen ansprechen und um Hilfe bitten? Nein, es war wie immer nach Feierabend voll und sie sahen gestresst aus. So nicht, lieber noch einmal reingehen.

Und die ganzen Tüten und Taschen? Ausgerechnet an diesem Tag wollte ich den Aushang mit einem überfälligen Großeinkauf verbinden. Die Frau, die ihren Wagen ebenfalls richtig gefüllt hatte und neben mir fahrig und unschlüssig einpackte, würde sicher noch eine Weile damit beschäftigt sein. Also sprach ich sie an.

"Entschuldigen Sie bitte... Ich wollte hier einen Aushang loswerden und habe gerade festgestellt, dass es mir an Tesa fehlt... Wären Sie vielleicht so nett, einen Augenblick auf meine Taschen zu achten, während ich schnell noch einmal reinlaufe?"

Die Frau schaute mich zum ersten Mal direkt und unverwandt an. Ich schätzte sie im ersten Eindruck auf Anfang dreißig, mit seltsam ungeordnet wirkender Frisur und leicht geröteten Augen, die mich nichtsdestotrotz ausdrucksstark fixierten.

"Natürlich, kein Problem. Was wollen Sie denn loswerden?", fragte sie mit mildem Interesse und holte sich die Antwort selbst mit einem raschen Blick auf den Aushang, den ich neben meinen Tüten ablegte.

"Ein Zimmer in meiner Wohnung", erklärte ich trotzdem. "Das ist sehr nett von Ihnen und es wird auch bestimmt nicht lange dauern, sofern die langen Schlangen an der Kasse mir da nicht einen Strich durch die Rechnung machen."

Und wollte los eilen.

"Warten Sie, das brauchen Sie nicht. Ich nehme es."

Ich fror buchstäblich in meiner Bewegung ein. Indigniert nahm ich zur Kenntnis, dass mein unterstrichener Satz "männliche Mitbewohner bevorzugt", den ich eigentlich nur so formuliert hatte, um nicht vollends misogyn zu wirken, ihr offenbar entgangen war, oder sie ihn zu ignorieren gedachte. Bevor ich mich davon vollständig erholt hatte, setzte sie zu weiteren Erklärungen an.

"Ich bin verzweifelt auf der Suche. Ich... befinde mich in einer echten Notsituation... ich trenne mich gerade... schmerzhaft... von meinem Ehemann... bitte, hören Sie mich an", würgte sie meinen Versuch zur Erwiderung ab.

"Ich gehe kaputt mit ihm in der Wohnung... und Ihr Zimmer, das ist ideal, bis ich mich sortiert habe, vom Preis und von der Lage... wie eine Fügung des Schicksals, dass ich hier auf Sie treffe, verstehen Sie?"

Die ehrliche Antwort wäre ein klares "Nein" gewesen, denn zum einen war mir dieses Konzept zwar bekannt, aber im höchsten Maße suspekt, zum anderen hatte ich von Trennungen nicht den mindesten Schimmer.

Und auch die Tatsache, dass sie dabei völlig außer Acht ließ, dass ich eventuell nicht nur nicht an Frauen, sondern generell an Durchreisenden nicht interessiert sein könnte, völlig überging, machte mich für einen Moment sprachlos.

"Ehm... das tut mir sehr leid... aber...", setzte ich nach kurzem Räuspern an.

Oh mein Gott, jetzt brach sie auch noch in Tränen aus. So viel zu logischen Argumenten, die nun hätten angebracht werden können. Wie in einem Sprudelglas stiegen Gedanken in meinem Bewusstsein als kleine Blasen nach oben, um dann sofort zu zerplatzen. Dann kam die letztmöglich rettende Idee.

"Beruhigen Sie sich doch bitte. Ehm... ich werde Sie natürlich selbstverständlich in Betracht ziehen. Sie müssten sich doch allerdings erst einmal einen Einblick von dem Zimmer und der daran hängenden Wohnsituation verschaffen, finden Sie nicht? Bevor Sie eine solche Zusage erteilen können?"

"Da haben Sie natürlich Recht. Kann ich es sehen?"

Ah, das beruhigte und deeskalierte für den Moment die Situation.

"Selbstverständlich. Wenn Sie nun wie versprochen kurz auf meine Tüten aufpassen, können wir sicher danach einen Termin vereinbaren", versuchte ich meinen Widerstand aufrechtzuerhalten und zudem an das gegebene Versprechen zu erinnern.

Dass jeder Vermieter die Verlässlichkeit von getroffenen Vereinbarungen schätzt, musste ihr ja selbst in diesem unzweifelhaft desolaten Zustand, in dem sie sich befand, aufgehen.

"Wann, wenn nicht jetzt?", kam ihre schnelle Antwort, während sie sich mit dem Jackenärmel ihre Tränen abwischte. Christa Wolf, wenn das kein Zufallsprodukt war. Und der Knock-Out in der ersten Runde. Verflucht. Frauen.

"Ich bin Claudia", sagte sie dann zu allem Überfluss noch und reichte mir ihre zitternde Hand.

Aha. Die nächste Trägerin dieses Namens, die mir meine schöne Zukunftsplanung mit einem weisen Sinnspruch zerschoss. Nur, dass ich mich diesmal nicht wie ein verwundetes Tier in meine geistigen Höhlen zurückziehen konnte. Diesmal wurde eine direkte, physische Reaktion erwartet.

Zögernd nahm ich ihre Hand.

"Immanuel, lachen Sie bitte nicht. Mein Vater war ein großer Bewunderer dieser Geistesgröße. In meinem Freundeskreis hat sich allerdings Manni eingebürgert."

Die Referenz zu Kant würde sie wahrscheinlich nicht einmal verstehen. Oder sie interessierte sie nicht.

"Gut. Manni, gib mir eine Minute, dann habe ich das Zeug hier verpackt und wir können los."

Völlig überfahren von der Situation konstatierte ich mit innerlicher Weinerlichkeit, dass sie nicht nur meinen Versuch, mit dem Sie eine gewisse Distanz weiterhin aufrechtzuerhalten, wie auch meinen Wunsch, das Zimmer anderen prospektiven Kandidaten anzubieten, völlig ignorierte.

Sah ihr hilflos zu, wie sie binnen Sekunden die zuvor fahrig und chaotisch wirkende Verpackungsaktion nun methodisch und sicher fortsetzte, und tatsächlich blitzschnell damit fertig wurde. Ich fand mich also mit meiner vorläufigen Niederlage ab und verstaute den Aushang in einer meiner Taschen.

Gut, dann eben beim nächsten Versuch, den es doch hoffentlich noch geben würde. Dann konnte ich Tesa vom Laden oder von zuhause mitbringen. Wenigstens ein vernünftiger Ausgang des Geschehens.

"So, dann lass uns", wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Also gut, eine Rückkehr zum formellen Sie war nun nicht mehr möglich. Worüber sollte ich mich auf dem Weg zur Wohnung mit dieser wildfremden Person unterhalten? Sie hatte da bereits ihre Ideen.

"Wie groß ist die Wohnung insgesamt?", wollte sie wissen.

"Dreieinhalb Zimmer, wobei ich in dem halben eine kleine Bibliothek einrichten wollte. Knapp hundert Quadratmeter. Das Zimmer, um das es geht, wurde bis vor kurzem von meiner verstorbenen Mutter bewohnt."

"Das tut mir schrecklich leid. Dann sitzen wir in einem Boot, weil sich unser beider Leben so radikal verändert hat und können uns aneinander aufrichten."

Oh Gott, nicht das. Für einen Moment hoffte ich, dass sich das Zimmer in meiner Abwesenheit radikal verändert hatte, denn diese Claudia würde nichts anderes mehr abschrecken können.

Und wenn ich ihr erzählte, ich freute mich über einen weiblichen Zuwachs, weil meine allwöchentlichen satanischen Orgien ein wenig frisches Blut durchaus gebrauchen könnten?

"Ehm... ja, es war ein trauriger Verlust, vor allem, weil er überraschend kam. Nun, Hintergrund für die Vermietung ist, dass ich ohne ihre Rente finanziell nur schwerlich über die Runden komme. Ich habe zwar mein eigenes Geschäft, aber das wirft momentan alles andere als reichlich ab und wird es auch wohl in absehbarer Zukunft nicht mehr tun."

"Geld ist doch bei allen knapp. Deshalb kann ich auch keine eigene Wohnung aus dem Stehgreif finanzieren. In einer WG habe ich seit meiner Uni-Zeit nicht mehr gewohnt. Es wird bei uns beiden bleiben, oder willst du noch ein weiteres Zimmer vermieten?"

Ich hatte das Gefühl mit jedem ihrer Sätze immer mehr an eine Situation gefesselt zu werden, die eigentlich mein Einverständnis voraussetzte, aber wo mir offenbar jedes Stimmrecht genommen war. Wie machte sie das?

"Nein, es bleibt bei dem einen Zimmer. Da sind wir schon. Es ist im dritten Stock. Soll ich dir vielleicht welche von deinen Tüten abnehmen?"

"Ein Kavalier der alten Schule, na wunderbar. Nein danke, so schwer sind sie nicht und wie wir festgestellt haben, haben wir beide unsere Päckchen zu tragen. Was für ein Geschäft betreibst du?"

"Ein Antiquariat. Und hier eine Bibliothek einzurichten bedeutet in diesem Fall nicht Arbeit mit nach Hause zu nehmen, sondern meine Passion."

Zum ersten Mal zeigte ihr Gesicht so etwas wie den Ansatz zu einem Lächeln. Was mochte sie gerade durchmachen oder bereits durchgemacht haben? Bloß nicht dran rühren.

"Dann solltest du ein paar Regalbretter für mich mit einplanen, ich lese ebenfalls leidenschaftlich gern."

Nein, auf so billige Anbiederungsversuche fiel ich nicht herein. Ich seufzte innerlich und dann betraten wir meine Wohnung. Ich zeigte ihr zunächst das Zimmer.

"Die Möbel sind alt, aber aus einer Zeit, in der noch stabil gebaut und gründlich gearbeitet wurde. Nur das Bett ist relativ neu, es ist im Grunde ein Pflegebett, was sich motorisiert in der Höhe verstellen lässt. Meine Mutter hat nicht viel Gelegenheit bekommen, sich daran zu erfreuen. Vermutlich ist dies keine Möblierung, in der sich eine junge Frau wie du wohlfühlen könnte?", testete ich meine geheime Hoffnung sofort.

"Es ist wunderschön, ich werde es wahrscheinlich etwas umbauen, aber mit den Möbeln selbst komme ich gut zurecht. Den großen Sessel da kann ich nicht gebrauchen, könntest du ihn irgendwo anders lagern? Er nimmt ziemlich viel Platz weg."

Alles beschlossene Sache? Schauen wir mal.

"Natürlich. Ich zeige dir jetzt den Rest der Wohnung. Bei Tage ist es natürlich ein gänzlich anderer Anblick, es ist eine sehr helle Wohnung...", gab ich zu allem Überfluss preis und biss mich dabei selbst ertappend auf meine Lippe. "Ehm... das ist das Wohnzimmer, wiederum von meinen Eltern möbliert, aber ich habe weder die Mittel noch die Energie, sie nach meinen Wünschen zu gestalten. Wobei ich mir nicht sicher wäre, wie diese aussehen würden."

Irritiert bemerkte ich, dass sie dem Ambiente überhaupt keine Beachtung schenkte und sich stattdessen einem Bild von mir und einigen Kameraden widmete, dass ich meiner Mutter einmal zu Weihnachten geschenkt hatte.

"Du warst Soldat?"

"Ja, zwanzig Jahre lang Berufssoldat, im Stab, Planung und Logistik. Das Foto stammt aus meiner Zeit in Afghanistan."

"Oh mein Gott, das muss furchtbar gewesen sein."

Das war es in der Tat gewesen, aber woher wollte sie das wissen? Langsam dämmerte in mir die Erkenntnis, dass anstatt von anregenden Gesprächen über das, was die Welt im Innersten zusammenhält, mir vermutlich grausame Fragestunden über mich und mein persönliches Leben ins Haus standen. Die Art, wie sie aufblühte, war kein gutes Zeichen.

"Das ist das Bad, wie du siehst, kann man in der Badewanne auch stehend duschen", gab ich bekannt und verfluchte mich, weil ich den Toilettendeckel runtergemacht hatte. Der Patienten-Lift, der meiner Mutter und mir beim Absetzen in der Wanne geholfen hatte, war von der Krankenkasse bereits wieder abgeholt worden.

"Wundervoll. Und alles so makellos sauber... hast du extra wegen der Führungen geputzt, oder..."

"Ich bin ein sehr reinlicher Mensch. Hygiene ist wichtig. Ordnung ist das halbe Leben", gab ich zum Besten, was mir in Kindheit und Ausbildung eingebläut worden war.

Jetzt lächelte sie sogar.

"Die Küche. Auch nicht die modernsten Geräte, aber sie sind alle funktionstüchtig. Gasherd, Backofen, eine kleine Mikrowelle, Waschmaschine und Kühl- Gefrierkombi. Die Wäsche kann man im Sommer auf dem Balkon aufhängen, da steht nur im Moment ein wenig Gerümpel, das ich noch nicht zu entsorgen kam. Im Winter gibt es einen Trockenraum im Keller, den alle Mietparteien gemeinsam nutzen."

"Sehr schön, zeigst du mir auch dein Zimmer?"

Warum? Was ging sie das an? Sollte ich ein Chaos vortäuschen und sagen, dass ich mich deshalb schämen würde? Nein, sie war durchtrieben genug, um das im Ansatz sofort zu erkennen.

"Nun, das ist hier. Dann siehst du gleich, warum ich das halbe Zimmer in eine Bibliothek umwandeln möchte", gab ich nach und gewährte ihr einen kurzen Blick in mein Reich, was eindeutig von den überquellenden Bücherwänden dominiert wurde. Und wieder war ihr Fokus ein anderer.

"Eine Schreibmaschine? Oder ist das ein Decoder für irgendwelche Geheimnachrichten, wie es die im zweiten Weltkrieg gab? Sammelst du solche Stücke?"

Ich räusperte mich missbilligend.

"Es ist eine ordinäre Schreibmaschine, elektrisch, nicht besonders laut. Ich sammele so etwas nicht, ich nutze sie. Ich schreibe manchmal", gab ich ihr den wahren Sachverhalt bekannt. Hm, könnte sie meine Rückständigkeit abschrecken?

"Ich habe keinen Computer und nebenbei keine Internetverbindung. Es gibt eine Festnetz-Telefonleitung, die ist meines Wissens aber sogar noch analog", setzte ich sie ins Bild.

"Das ist kein Problem, hier in der Gegend gibt es Kabel, das ist schnell verbunden und von allem das Stabilste. Haben wir seit Jahren", war die lakonische Antwort.

"Ich mache mir nichts aus Fernsehen, schaue höchstens mal Sport...", setzte ich erneut an.

"Da sind wir schon zwei. Mal ein schöner Film, aber den lieber im Kino. Berieselung ist nichts für mich. Ich brauche die Stille, um mich allen Energien zu öffnen", entgegnete sie, während ich ihr das halbe als letztes Zimmer vorführte.

Oh Gott, war sie eine von diesen New-Age Tanten? Das war jetzt auf die Schnelle nicht zu eruieren, aber im Lichte dieses Verdachts sahen ihre Klamotten gefährlich alternativ aus. Ich konnte die Räucherstäbchen und Duftkissen förmlich schon riechen, sah unsere Küche bereits mit Körnern und Samen aufgefüllt. Unsere Küche? Verdammt.

"Ich glaube, wir werden wunderbar miteinander klarkommen", gab sie ihre wohl abschließende Rückmeldung, wie sie sich die nähere Zukunft vorstellte. "Und einander heilen."

Ein Satz, der Vollalarm-Sirenen in meinem Kopf ausgelöst haben würde, wenn sie nicht in diesem Augenblick ein weiteres Mal schrecklich traurig und verloren gewirkt hätte. Sie würde doch nicht wieder zu weinen anfangen?

"Ehm... du hast also eine schlimme Zeit hinter dir? Eine... schmerzhafte Trennung, sagtest du?", versuchte ich Mitgefühl zu zeigen, wohl wissend, dass ich mir damit die letzten Zentimeter in meinem figurativen Grab schaufelte.

"Ja. Ich war acht Jahre verheiratet, um dann herauszufinden, dass mein Mann seit vier Jahren eine Affäre hat."

Das kommt vor, habe ich mir sagen lassen. Die Literatur ist voll davon. Als Betroffene sah man das allerdings wahrscheinlich nicht als den Stoff, aus dem gute Dramen geschneidert wurden.

"Mit meiner jüngeren Schwester", gab sie zusätzlichen Einblick in den Hintergrund und die Tiefe ihrer Verzweiflung.

Damit war natürlich die Rückzugsmöglichkeit an den Busen der Familie, die man als Alternative hätte anbringen können, ausgefallen. Verdammt. Ich konnte nicht mehr ablehnen, ohne dabei auch vor mir selbst als Neandertaler zu erscheinen.

"Das ist... ich verstehe. Das musst du erst einmal verarbeiten", hörte ich mich sagen. "Dann verstehe ich auch, warum deine augenblickliche Wohnsituation so unerträglich ist. Gut... wie... denkst du jetzt über die Wohnung und das Zimmer? Ist... der Mietpreis fair? Ich habe überhaupt kein Gefühl dafür, was man so verlangt."

"Total. Wann kann ich einziehen?"

Ein klares, strukturiertes Leben, frei von jeder Unregelmäßigkeit. Verlässlich in seiner Routine. Wegen einer "Fügung des Schicksals" binnen Minuten auf den Kopf gestellt. Nun hatte ich eine Hausgenossin. Und was für eine.

Hausgenossen