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Der Mutterschafts-Test

Geschichte Info
Ein besonderes Vermächtnis für Mutter und Sohn.
61.1k Wörter
34.9k
29
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Hinweis: Auch dies ist eine ältere Geschichte, die ich wahrscheinlich unter dem Namen postpartem, vielleicht aber auch noch als plusquamperfekt veröffentlicht habe, ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Viel Spaß damit.

In die erste Reihe? War das wirklich ein Platz, der mir zustand?

Bernd blieb hartnäckig. Mein Schwiegervater. Sandra, seine Frau, saß dort schon. Nur ein kurzer, böser Blick aus ihren verweinten Augen, dann starrte sie wieder geradeaus. Und da saß Tim, regungslos wie eine Statue. Bernd bedeutete mir, mich neben Tim zu setzen.

Mein Sohn. Neunzehn jetzt. Mit neunzehn sollte man seinen über alles geliebten Vater nicht verlieren. Meinen Versuch, ihn zu umarmen, wehrte er sofort ab. Schob mich weg, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen.

Ich verstand ihn ja. Neun Jahre hatten wir uns jetzt nicht mehr gesehen. Dabei war ich schon zwei Jahre wieder in Deutschland. Und hatte vor einem Jahr Sigurd kontaktiert, um endlich wieder meinen Sohn sehen zu können. Sigurd, der nun tot in dem Eichensarg lag, dessen Witwe ich nun war, weil wir uns nie scheiden ließen.

Siggi hatte sich gefreut und sofort Tim gefragt, aber der wollte mich nicht sehen. Und so kam es nicht zu meiner Teilnahme am achtzehnten Geburtstag, den ich für meine Kontaktaufnahme zum Anlass genommen hatte. Er wollte nicht einmal mit mir sprechen. Siggi hatte verstanden, wie traurig mich das machte und versucht, mich am Telefon zu trösten. Das machte alles fast noch schlimmer.

Er hatte mir verziehen, dass ich ihn und Tim verlassen hatte, als Tim gerade mal zehn Jahre alt war. Hatte schon damals wie immer volles Verständnis für mich gehabt. Und jetzt war er tot. Mit einundvierzig an Krebs gestorben. Sein verdammtes Rauchen. Wie oft hatte ich ihn gebeten, damit aufzuhören?

Man gönnt sich ja sonst nichts, hatte er immer wieder gesagt. Und zu leben? Warum hatte er sich das nicht gegönnt? Oh nein, Tim roch auch nach Rauch. Hatte Siggi bei meinem Anruf schon gewusst, dass er Krebs hatte? Oder es vielleicht geahnt?

Ich hatte völlig den Kontakt verloren. Meine sieben Jahre in Irland mit Shawn sorgten dafür, dass ich alles, was ich zurückgelassen hatte, wie ein anderes, nicht verknüpftes Leben für mich abgeschlossen hatte. Ich hatte Tim nicht einmal Geburtstagskarten geschickt. Ihn völlig aus meinen Gedanken und Herzen verbannt, wie Siggi auch. Ja, er hatte allen Grund mich abzulehnen, mich vielleicht sogar zu hassen.

Er sah ihm ähnlicher als jemals zuvor. So hatte Sigurd ausgesehen, als ich mich in ihn verliebt hatte. Als ich mit achtzehn von ihm schwanger wurde. Und mit neunzehn Tim zur Welt brachte. Selbst noch ein Kind, das selbst noch kein eigenes Leben geführt hatte, noch bei meinen Eltern gewohnt hatte. Die angefangene Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin dann abgebrochen.

Als Tim zur Schule kam, kriegte ich eine Umschulung zur Event-Managerin. Hatte zwei Jahre bei einer der größten deutschen Agenturen gearbeitet und traf dann auf einer Party zum Tournee-Abschluss Shawn. Verliebte mich auf den ersten Blick in ihn. Verlor den Kopf und für einen Moment alle Traurigkeit, weil er meine Liebe erwiderte.

Die einsetzende schwere, getragene Musik und das unterdrückte Schluchzen, das damit einherging, holten mich in die Gegenwart zurück. Orgelmusik, ein Pastor machte sich zum Beginn des Trauergottesdienstes bereit. Pinguine hatte Sigurd sie immer genannt. Was für eine Farce. Sigurd hatte nicht an Gott geglaubt. Er war Marxist, gottverdammt. Opium fürs Volk. Und nicht mal in guter Qualität, hatte er immer gesagt.

Das hatten seine Eltern nie akzeptiert. Ihnen zuliebe war er nie ausgetreten. Ihnen zuliebe hatten wir Tim taufen lassen. Jetzt hatten sie sich sogar im Tode über seine klare Überzeugung hinweggesetzt. Das war bestimmt Sandras Einfluss gewesen. Bernd hätte wahrscheinlich die Wünsche seines Sohns respektiert. Wer war ich, dass ich über Elternverhalten den Stab brechen wollte?

Ich war die Letzte, die ein Recht dazu hatte. Hatte für immer und ewig jedes Recht dazu verwirkt. Die Worte des Pastors, die nun einsetzten, drangen nur in Fetzen in mein Bewusstsein. Alles hatte ich verwirkt, mein Recht, mich als Mutter zu fühlen, als Ehefrau des großartigen Mannes, der nun nie wieder die Welt mit seinen außergewöhnlichen und einzigartigen Gedanken beglücken würde.

Mit seinen Worten, die uns allen Trost und Halt in einer immer kälter werdenden Welt gespendet hatten. Es war kein Wunder, dass die Friedhofs-Kapelle bis zum letzten Platz gefüllt war und draußen noch weitere Trauernde warteten, um Abschied zu nehmen. Hier wurde ein großer und einzigartiger Mann zu Grabe getragen.

Mein Mann, mein Siggi. Der diese Worte nicht nur geschrieben, sondern auch gelebt hatte. Der es mir immer leichtgemacht hatte. Selbst ihn und Tim zu verlassen. Vielleicht auch zu ihm zurückzukehren. Es war immer eine Möglichkeit gewesen, das hatte ich genau gewusst und gefühlt. Er hatte es in dem Telefonat nicht ausgesprochen. Wohl aber in seinem letzten Buch.

Vorbei. Eine Chance, ein Leben, verwirkt. Jetzt brachen die Tränen aus mir hervor, spülten den Schmerz mit aller Macht wie einen Sturzbach hervor, brach ich zusammen. Fühlte Nicoles Hand auf meiner Schulter, die eine Reihe hinter mir Platz genommen hatte. Und zum ersten Mal Tims scheuen Blick.

Fühlte, wie Bernd meine Hand nahm und ganz fest drückte. Bernd, der mich immer geliebt hatte, und mich trotz allem immer noch liebte. Wie eine Tochter, eine verlorene Tochter. In seiner Kanzlei hatte ich meine Ausbildung damals begonnen. Und dort Siggi kennengelernt. Der lange gebraucht hatte, um mich anzusprechen. Deshalb jeden zweiten Tag seinen Vater besuchte. Um mich zu sehen.

Eigentlich alles andere als schüchtern, aber zum ersten Mal total verliebt. Ich nahm ihn wahr, aber viel mehr auch nicht. Bis ich dann eine Rose auf meinem Schreibtisch fand, als ich von meiner Mittagspause zurückkam. Und mein verwirrter, suchender Blick seine strahlenden Augen und spitzbübisches Grinsen fanden.

Seine warmen, liebevollen Augen. Er brauchte nicht einmal seine Geheimwaffe, Worte, einzusetzen. Er tat dies einfach mit seinem Sein, eroberte mich in diesem Moment im Handstreich, mit dem, was in diesem Blick lag. Dieser unfassbar tiefen Liebe, die für ihn eine Richtung gefunden hatte. Mich.

Erschütterte mich mit dieser simplen Geste. Hatte fortan leichtes Spiel, ich verliebte mich binnen weniger Tage in ihn. Hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, trotz Shawn, trotzdem ich ihn verlassen hatte. Hatte selbst den Traum, mit ihm noch einmal mit ihm zusammenzukommen, nie aufgegeben. Der nun endgültig zerplatzt war.

Was der Pastor dort noch erzählte, nahm ich nicht mehr wahr. Wohl aber, dass auch Tim zwischenzeitlich zu weinen begann. Wieder fühlte ich den Impuls, ihn in den Arm zu nehmen, aber ich spürte, dass er mich erneut abweisen würde. Ich sah ihn nur an. Zeigte ihm nur meine Bereitschaft, für ihn da zu sein, wenn er das wollte. Mehr konnte ich nicht tun.

Während die Trauergemeinde tränenerstickte Hymnen anstimmte, huschten Szenen aus unserer gemeinsamen Zeit vor meinem geistigen Auge vorbei. Die kirchliche Trauung, auf der wiederum Sandra bestanden hatte, da war ich schon im sechsten Monat schwanger.

Unsere erste kleine gemeinsame Wohnung, bei deren Renovierung ich nicht helfen konnte. Weil ich mich nicht mehr anstrengen sollte, da schon im achten Monat. Siggi, der beim Decke streichen von oben bis unten mit Farbe bekleckst „die Glocke" rezitierte. Beim Streichen der Wände dann Marx und Bloch.

Tims Geburt, wo Siggi zwischendurch rausmusste, weil er es nicht ertrug, was für Schmerzen ich erleiden musste. Und dann dieses glückselige Lächeln in seinem aschfahlen Gesicht, als er seinen Sohn das erste Mal in den Händen hielt.

Der schreckliche Tod seiner Großeltern auf der Autobahn, die er fast noch mehr als seine Eltern geliebt hatte. Dieser schaurige, langsame Marsch hinter den Sargträgern her, den wir jetzt ebenfalls antraten, nur, dass sie dort jeweils zwei getragen hatten und diese hier jetzt eine Art Wagen schoben. Wo ich ihn kurz vor dem Zusammenbruch hatte stützen müssen.

Und dann Bernd, der uns sein Erbe überließ, das Haus seiner Eltern in Falkensee. Siggi, der vielleicht nur deshalb sein Jura-Studium bis zum Ende durchzog. Aber nie vorgehabt hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Und das nicht brauchte. Das Erscheinen seines ersten Buches, das er mit demselben glückseligen Lächeln quittierte wie Tims Geburt.

Erfolg. Finanzielle und zeitliche Unabhängigkeit, die mir ermöglichte, wieder berufstätig zu werden. Tim brauchte nie in den Hort, Siggi war für ihn da, wenn er aus der Schule kam. Siggi war immer für ihn da. Ich war nur noch da. Freute mich für Siggi, dass er für Tim sein Ein und Alles wurde.

Begann zu arbeiten, unter Menschen zu kommen, lernte von meinen Kolleginnen und Kollegen, dass es da draußen ein Leben jenseits von Verantwortung und Verpflichtung gab. An dem ich nie hatte teilnehmen können. Entwickelte eine Schwermut, die Siggi ängstigte, weil er der einzige war, dem ich sie wirklich zeigte.

Ich hatte einen großartigen Ehemann, einen lieben und wohlgeratenen Sohn, einen Job, der mir Spaß machte und in dem ich gut war. Durch Siggis Erfolg bald mehr Geld, als wir ausgeben konnten. Und hätte glücklich sein müssen.

Doch ich war es nicht. Ich trauerte. Um ein Leben, das ich nicht kannte, nie erleben durfte. Eine Jugend, die mir nicht gestattet wurde. Eine Freiheit, die ich nie kennengelernt hatte.

Shawn war mein Weg in diese Freiheit. Der Drummer einer sehr populären irischen Band, aber das interessierte mich nicht. Mich interessierten der Mensch und die Ungebundenheit, die Verantwortungslosigkeit, die Selbstbestimmung, die er für mich verkörperte.

Das Schlimme war, dass Siggi mich verstand. Mir keine Steine in den Weg legte. Mich so sehr liebte, und mir vertraute, dass ich das für mich Richtige tat. Als ich ihn und meinen Sohn verließ, der mich nicht einmal mehr zu brauchen schien. Warum musste er mir das so verdammt leichtmachen, warum? Warum hatte er nicht um mich gekämpft?

Jetzt standen wir vor dem Loch in der Erde und dem Loch in unseren Herzen und unseren Leben, als Siggi dort hineingelassen wurde. Wir am Ende jeder eine Schaufel Sand auf den Sarg klatschen ließen, mit unseren letzten Gedanken des Abschieds an diesen geliebten und geschätzten Mann. Der uns alle immer an Menschlichkeit und Statur überragt hatte. Nicht nur in seinen Werken. In seinem ganzen Sein.

Mir wurde schwindelig und Nicole musste mich stützen. Auch sie hatte ich erst vor einigen Tagen wiedergesehen, obwohl sie früher meine beste Freundin gewesen war. Ich übernachtete bei ihr, da meine Eltern nach der Versetzung meines Vaters in Freiburg lebten. Ich war mir nicht sicher, ob ich die anschließende Trauerfeier noch durchstehen würde.

Eigentlich wollte ich nur noch weg. Zurück nach Bremen, wo ich seit meiner Rückkehr bei meiner Lieblingstante lebte. Aber irgendetwas hielt mich zurück. War es Tim, trotz seiner Ablehnung? Er hatte Bernd und Sandra, die ihm helfen würden, da war ich mir ganz sicher, aber brauchte er mich jetzt nicht doch? Auch wenn er das selbst nicht wusste und nicht wollte?

Wie verloren er aussah, entweder bemüht, tapfer zu sein oder so leer und von seinen Emotionen gleichzeitig so zerrüttet, dass er wieder wie eine Statue dort stand. Nicht weinte, nicht zitterte, nur dastand, mit demselben aschfahlen Gesicht, das sein Vater bei seiner Geburt gehabt hatte.

„Willst du bei uns mitfahren oder seid ihr mit dem Auto da? Ihr wisst, wo der Gemeindesaal ist?", riss mich Bernds Stimme aus meinen Gedanken.

Sandra stand abseits und wurde von einer nicht enden wollenden Reihe von Kondolenz-Gebern umarmt und gedrückt. Mühsam richtete ich meinen Blick auf Bernd.

„Ich weiß nicht, Bernd ... versteh mich bitte ... ich gehöre da nicht hin ... nicht mehr ..."

„Rede doch keinen Unsinn. Du bist Sigurds Frau, das heißt jetzt seine Witwe. Und wichtiger noch: Du bist Tims Mutter. Er braucht dich jetzt, das verstehst du doch hoffentlich?"

„Er hat mich in der ganzen Zeit nicht einmal ansehen können", gab ich den Tränen nahe zurück.

„Ich weiß. Gib ihm Zeit. Gib euch Zeit. Es ist auch Sigurds Wille. Er wollte, dass ihr wieder zusammenfindet."

„Was meinst du?"

„Ich will da nicht vorgreifen, aber es gibt ein Testament, das die Zukunft für euch beide eröffnen und sichern soll. Komm bitte mit, bleib jetzt bei uns. Hallo Nicole, wir haben uns ja auch lange nicht mehr gesehen."

„Hallo, Herr Sykowski, ja, das stimmt. Mein Beileid. Es muss ... furchtbar sein, seinen Sohn zu verlieren. Ich kann ... mir nicht einmal vorstellen, wie schlimm das für sie sein muss. Wir sind übrigens mit meinem Auto hier. Ich bleibe bei Steffi, keine Sorge. Wenn sie zur Feier mitwill, fahre ich sie dorthin."

Die Schlange der Anteilnehmenden bewegte sich nun auf uns zu, band uns in ihr Mitgefühl ein, wurde auch meine Hand gedrückt und ich in den Arm genommen von denen, die mich kannten oder erkannten. Versteinerte Mienen waren auch dabei, Familienangehörige, die meine Flucht aus der Ehe weder verstanden noch gebilligt hatten.

„Wie geht es deiner Mutter?", sprach mich Bernd in einer kleinen Pause wieder an.

„Besser, sie hat die Operation gut überstanden. Ich habe heute Morgen noch mit meinem Vater telefoniert."

Sonst wären meine Eltern ebenfalls hier gewesen, aber meine Mutter war gerade an der Schilddrüse operiert worden. Sie hatten Siggi geliebt, und ihnen war von allen vielleicht am schwersten gefallen, zu verstehen, dass ich mich von ihm trennen konnte. Mein Kind im Stich lassen konnte. Das für sie Undenkbare getan hatte.

Mein Kind. Der sich etwas zurückgezogen hatte, nicht in das Ritual mit einbezogen werden wollte. Wie gut ich ihn verstehen konnte. Unsere Blicke begegneten sich für einen Moment. Dann steckte er seine Hände in die Hosentaschen und drehte sich weg.

Die Trauerfeier war wie ein schlechter Traum. Ich war da und doch meilenweit weg. Verstand, dass meine Anwesenheit notwendig war und erwartet wurde, und hatte gleichzeitig das Gefühl, dass mich außer Bernd niemand dort sehen wollte. Betäubt und gelähmt von Trauer, Schmerz, Scham und Schuld.

Ich musste an die frische Luft, schüttelte den Kopf, als Nicole mich besorgt fragte, ob sie mitkommen sollte. Und da stand Tim. Natürlich, das hätte ich mir denken können. Da war er ganz der Vater. Der auch immer einfach plötzlich verschwunden war, und meist dann vor einer Tür stand und rauchte. Er bemerkte mich, sah mich kurz mit verschlossenem Gesicht an und starrte dann wieder geradeaus.

„Gibst du mir auch eine?", hörte ich mich fragen. Ich hatte nie wirklich geraucht, eigentlich nur Joints mit Shawn, davon in einer Phase aber nicht gerade wenige, da auch oft allein. Und trotz allem, was mit Siggi passiert war, hatte ich nun wirklich das Gefühl, eine Zigarette zu brauchen.

Tim runzelte die Stirn, schüttelte andeutungsweise seinen Kopf, griff dann aber in die Innentasche seines Jacketts. Das ihm nicht gut stand, nicht von der Größe her, sondern insgesamt eher wie eine Verkleidung wirkte. Er gehörte da nicht hinein, ein so junger Mann sollte noch keinen schwarzen Trauer-Anzug tragen müssen. Seine Hand zitterte leicht, als er mir die Schachtel hinhielt.

Ich bediente mich und ließ mir Feuer geben. Musste leicht husten, weil es nun schon Jahre zurücklag, dass ich irgendetwas geraucht hatte. Er wirkte verunsichert, wartete wohl darauf, dass ich ihn in ein Gespräch ziehen wollte. Und fürchtete sich davor. Wie ich mich auch.

„Keine Angst, ich will jetzt kein Gespräch mit dir anfangen. Wir reden, wenn wir es beide wollen und dazu in der Lage sind. Ich musste nur einfach da raus."

Er runzelte wieder die Stirn, sah andeutungsweise zu mir herüber und nickte dann. Wir rauchten und schwiegen uns an. Mir wurde leicht übel von der Zigarette. Zwei weitere der Gäste kamen zum Rauchen heraus, Christian, ein Cousin von Siggi und seine Frau, Anette. Anette trat sofort an Tim heran und strich ihm über den Rücken.

„Bist du okay? Du siehst blass aus", sprach sie ihn an.

„Nein, ich bin nicht okay. Lass mich verdammt nochmal in Ruhe", kam seine rüde, aber wohl verständliche Antwort.

Anette zuckte zurück, bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick und zog sich mit Christian etwas weiter von uns zurück. Der hatte mir nur kurz zugenickt, aber entgegen vielen anderen schon mit einem Hauch von Mitgefühl und Anteilnahme.

„Wollen wir ein paar Schritte laufen?", schlug ich vor, als die Tür hinter uns sich erneut öffnete.

Es arbeitete kurz hinter seiner Stirn, aber dann nickte er und wir brachten uns vor den Neuankömmlingen in Sicherheit. Das Gemeindehaus lag an der Rückseite eines kleinen Parkstücks, auf das wir uns zubewegten, am Parkplatz vorbei.

Wir redeten kein Wort, gingen einfach nur nebeneinander her. Beide in unsere eigenen Gedanken versunken. Beide nur im Entfernen von der Situation, zu der wir doch wieder zurückkehren mussten. Beide damit zufrieden, nicht allein zu sein, ohne hier etwas teilen zu wollen oder zu können. Es ging hier noch nicht um unsere Geschichte.

Es ging darum, dass wir gerade Siggi zu Grabe getragen hatten. Was das für uns bedeutete, was das in uns auslöste. Welcher Verlust uns da in aller Finalität bewusstwurde. Warum hatte mich vorher nie einer kontaktiert, als klar wurde, was mit Siggi los war und passieren würde? Bernd hatte doch ohne weiteres meine Adresse und Telefonnummer herausgefunden.

Trotzdem hatte ich zunächst durch Nicole von seinem Tod erfahren. Wir hatten uns zwar zuvor nicht gesehen, aber einige Male seit meiner Rückkehr miteinander telefoniert. Oder hatte Siggi das nicht gewollt? Vielleicht wusste Tim das, und ich hoffte, dass wir irgendwann tatsächlich wieder miteinander sprechen konnten.

In seinen ersten vier Lebensjahren war er eigentlich total auf mich fixiert gewesen. Wie viele Kleinkinder. Aber dann wurde sein Papa immer wichtiger, der mit ihm Fußball spielte, mit seiner Eisenbahn, mit ihm Modelle bastelte, Drachen steigen ließ. Ihn glücklich machte. Mit ihm wieder selbst Kind sein konnte.

Lob von mir mit genau diesem Stirnrunzeln, was er vorhin gezeigt hatte, hingenommen hatte. Von Siggi mit glückseligem Lächeln. Mit ihm einfach mehr anfangen konnte. Sich wohler mit ihm fühlte. Worum ich gar nicht so böse war und was ich als natürlich empfunden hatte. Ich seufzte bei diesem Gedanken. Tim schaute mich fragend an.

„Ich denke nur gerade an deinen Vater", erklärte ich. Damit brach ich unser stilles Einvernehmen nicht. Ich wollte damit nicht ins Gespräch einsteigen und das schien er zu verstehen, denn er nickte nur.

„Ich auch", gab er dennoch nach einer Weile zurück. Und hielt mir erneut die Zigarettenschachtel hin. Ich überlegte kurz und nahm dann tatsächlich noch eine, obwohl mich der widerliche Geschmack im Mund und die leichte Übelkeit eigentlich nicht wirklich begeisterten.

Wir hatten den kleinen Park nun einmal umrundet, schauten uns kurz an und machten uns ohne verbale Absprache auf die nächste Runde. Zumindest auf dieser Ebene verstanden wir uns also ganz gut. Das würde sicher deutlich schwerer werden, wenn Worte hinzukamen. Also fielen keine.

Wir beendeten unsere Runde und wussten beide, dass man uns allmählich vermissen würde und wir uns zurückbegeben mussten. In der Tat wirkte Nicole erleichtert, als wir wieder drinnen auftauchten. Bernd wirkte hingegen zufrieden, weil wir gemeinsam zurückkehrten.

Und stellte uns beiden wortlos einen Schnaps hin. Das endlose Kaffeetrinken hatte offenbar nun ein Ende gefunden. Die Sitzordnung war mittlerweile ebenfalls aufgebrochen worden. Automatisch hatten wir uns nebeneinandergesetzt, neben Bernd, obwohl ich zuvor ihnen gegenüber gesessen hatte. Der Schnaps brannte in der Kehle, aber tat für einen Moment gut.

„Du hast doch wohl hoffentlich noch kein Rückreiseticket oder ähnliches?", fragte mich Bernd nach einer Weile.