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Der Mutterschafts-Test

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„Nein. Nicole wollte, dass ich ein paar Tage bleibe, wir haben uns ja auch Ewigkeiten nicht mehr gesehen."

„Gut, dann können wir nächste Woche die Testamentseröffnung beginnen. Oder hast du berufliche Verpflichtungen, dass du vorher zurückmusst?"

„Nicht direkt, Ende nächster Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch, ich bin seit drei Monaten arbeitslos. Siggi hat ein Testament gemacht?"

„Ja, zehn Tage vor seinem Tode. Ich habe es aufgenommen und Karl-Heinz beglaubigt. Ich kenne also dessen Inhalt. Du bist selbstverständlich eine der Begünstigten."

„Reicht es nicht, wenn ich gleich jetzt sage, dass ich, was auch immer er mir als Erbe zugedacht hatte, ausschlage?"

Bernd sah mich fest an.

„Vom Prozedere schon, beziehungsweise, das müsste schriftlich festgehalten werden, aber ich finde, du solltest wissen, was du da ausschlagen würdest und vor allem seine Begründung und Beweggründe kennen."

Jetzt runzelte ich wohl meine Stirn. Hatte Tim das von mir? Eine der wenigen Sachen, die er von mir hatte?

„Vertrau mir, es ist wichtig. Für alle Beteiligten", meinte Bernd eindringlich und schaute Tim an, der weiterhin in sich gekehrt und verschlossen wirkte, aber dem Gespräch doch aufmerksam gefolgt war.

„In Ordnung."

„Ich bin erst Montag wieder in der Kanzlei. Deine Handynummer habe ich ja, ich rufe dich dann an und nenne dir den genauen Termin."

„Gut. Möchtest du meine Nummer vielleicht auch haben, Tim?", wagte ich einen kleinen Vorstoß in Richtung meines Sohnes.

„Was soll ich denn damit?", fragte er unterkühlt, gereizt und mit stechendem Blick. Immerhin der längste Satz, den er bisher mit mir gewechselt hatte.

„Mich erreichen können. Wann immer du willst", gab ich zurück. Er krauste die Stirn und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich zusehends.

„Jetzt hast du sie", mischte Bernd sich ein und man hörte das Empfangssignal einer Nachricht von Tims Handy. Welches wie das Öffnen einer Bierflasche klang, wie ich seit unserem kleinen Spaziergang wusste, wo er eine empfangen und sofort darauf reagiert hatte.

Wieder das Stirnrunzeln, diesmal in Bernds Richtung, aber keine weitere Äußerung. Ein weiterer Cousin von Siggi setzte sich an unseren Tisch, Jakob, der in Polen lebte, wie ich wusste. Bedachte mich mit einem mitleidigen Blick und zog die Aufmerksamkeit aller auf sich.

Tim sah mich nicht einmal mehr an. Ich hatte Kopfschmerzen, die sich immer mehr zu steigern schienen. Nach kurzer Abstimmung mit Nicole verabschiedeten wir uns kurze Zeit später.

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Opas Kanzlei. Es war das erste Mal, dass ich dort war. Komisch, hier wirkte er ganz anders. Sonst war er immer ganz locker, ein Bär von einem Mann, gutmütig, stark, aber knuddelig und jederzeit ansprechbar. Jetzt wirkte er professionell, distanziert, offiziell. Lange würde er nicht mehr arbeiten, hatte er mir vor kurzem offenbart. Er war ja auch schon Mitte sechzig.

Hier hatte Siggi Stefanie kennengelernt, das hatten mir die beiden mal erzählt. Weiß gar nicht mehr, wer von ihnen. Testamentseröffnung. Was für ein Scheiß. Na, wenigstens würde damit endlich der ganze Dreck ein Ende nehmen, man mich endlich in Ruhe lassen. Bernd unterhielt sich mit dem anderen Anwalt und wir warteten auf Stefanie.

Oma war zum Glück nicht da. Sie meinte es sicher gut, aber sie ging mir echt auf den Zeiger mittlerweile. Hatte darauf bestanden, dass ich bei ihnen blieb und nicht in das leere Haus zurückkehrte, bis nach der Beerdigung. Hatte mir erst nach dem Wochenende erlaubt, mich abzuseilen.

Opa hatte alle Begünstigten, wie er das nannte, vorgeladen, und bis auf Jakob, der schon wieder zurück in Polen war, waren sie ausnahmslos auch anwesend. Bis auf Stefanie jedenfalls, meine sogenannte Mutter. Als wäre der ganze Scheiß nicht schon ätzend genug gewesen, dann musste ich auch noch mit ihr wieder zusammentreffen.

Da war sie wieder. Komisch, sie hatte sich kaum verändert. Sah noch genauso aus, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Vielleicht ein paar Falten mehr, an den Augen. Wirkte verunsichert, wie sie jetzt den letzten freien Platz neben mir ansteuerte.

Sie wollte genauso wenig hier sein wie ich. Na, wenigstens das hatten wir gemeinsam. Dass uns der ganze Schmadder auf den Sender ging. Das war ja auf der Beerdigung schon so gewesen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sie nicht mal mit dem Arsch anzugucken, nach dem, was sie uns angetan hatte. Was sie Siggi angetan hatte.

Sich einfach verpisst, als Groupie irgendeinem Scheiß-Rockstar hinterher gereist, sich nach Irland abgesetzt. Und mich und Siggi fallengelassen, wie zwei zu heiße Kartoffeln. Egal, was Siggi mir zu erklären versuchte, als ich älter war, da hatte er mich nie erreicht, mit seiner Vergeben- und Vergessen-Nummer.

Bernd gab irgendeine Einleitung, und dann begann der Notar mit der Verlesung. Na, bei den meisten hier war's schon vorbei mit der Trauer, da funkelten gleich die Äuglein. Hier gab's was umsonst, das hebt die Stimmung. Nur bei Stefanie nicht, der schien das genauso egal zu sein wie mir. Die hatte ja von vornherein alles ausschlagen wollen, das hatte sie nach der Beerdigung so gesagt. Wenn ich ihr sicher einiges vorwerfen konnte, geldgeil war sie nicht.

Na schau mal, wie einigen da die Fresse glänzte, nachdem Siggi ihnen mit seinem Tod wenigstens den nächsten Mallorca-Urlaub finanziert hatte. Lohnte sich doch, einen berühmten Schriftsteller in der Familie zu haben, oder als Freund. Widerliches Pack. Er ist tot, versteht ihr? Tot. Das Lächeln hat sich damit aus der Welt verabschiedet. Das Herz der Welt hat aufgehört zu schlagen, ihr Wichser.

„Meinem geliebten Sohn Tim und meiner geliebten Frau Stefanie ...", las der Notar vor und lenkte damit jetzt meine Aufmerksamkeit auf sich. Ja, er hatte sie immer noch geliebt. Trotz allem. Und sie? So wie sie neben mir in der Kapelle zusammengebrochen war ...

„... will ich mehr als nur materielle Güter hinterlassen, aus denen ihr euch beide nichts macht. Jetzt hört zu, ihr beiden, jetzt ist es Zeit, dass ihr Zuhören und Verstehen lernt."

Die anderen Anwesenden sahen sich schon verblüfft an, die hatten damit genauso wenig gerechnet wie ich. Und Stefanie bestimmt auch nicht. Ja, so war Siggi gewesen, erst mit Konventionalität einlullen und dann kam der Hammer.

„Tim. Mein Sohn. Dir soll es an nichts mangeln. Darum zuerst die Info: Es gibt eine Welt außerhalb der Xbox und des Internets. Da du jetzt ohnehin keinen ernstzunehmenden Gegner mehr hast, wird es Zeit, die zu erkunden. Du bist volljährig, aber du bist noch ein Kind. Das ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung. Diese Welt, von der ich rede, ist in etwa zur Hälfte von Frauen bevölkert. Und die sind nicht nur als Wichsvorlage zu begreifen, wie du das offenbar tust. Jetzt hör auf, mit den Augen zu rollen und mir zu."

Du Scheiße. Oh Siggi, ja klar, mach mich nur lächerlich vor dieser ganzen verdammten Aasgeier-Bande.

„Du hattest noch keine Gelegenheit zu erfahren, warum diese grandiose Aufteilung die Welt so viel schöner und interessanter macht. Warum erst die Liebe einer Frau das Leben eines Mannes erfüllt. Du hast alle meine Bücher gelesen, aber du hast keins davon verstanden. Auch das werfe ich dir nicht vor. Du hattest keine echte Gelegenheit, die Frau, auf der all meine Protagonistinnen basieren, die großartigste und schönste Frau dieser Welt, jemals richtig kennenzulernen. Oder die Liebe dieser Frau. Deiner Mutter."

Fuck. Siggi ...

„Stefanie. Ja, das ist deine Schuld, ich weiß, dass du das jetzt denkst. Und nicht nur mir, sondern den verpassten Chancen nachtrauerst. Mach das, das ist dein gutes Recht. Aber du hast gleichfalls noch eine Pflicht. Stell dich ihr endlich. Sei endlich die Mutter, die Tim jetzt braucht. Rück das quere Frauenbild gerade, das er hat. Ich konnte vieles für ihn sein, aber eine Mutter nicht. Hilf ihm, erwachsen zu werden. Hilf ihm, die Welt als Ganzes zu begreifen. Hilf ihm, dich zu lieben, wie ich dich geliebt habe. Dich zu verstehen und dir zu vertrauen, wie ich das getan habe. Das bist du ihm und mir schuldig."

Stefanie hatte die Augen geschlossen und schien kurz vorm Heulen. Alter ...

„So ihr zwei. Ihr seid lange genug voreinander weggelaufen. Jetzt wird es Zeit, zusammenzukommen. Daher verfüge ich Folgendes: Das Haus überlasse ich euch zu gleichen Teilen. Alles angesparte Kapital, Geldvermögen und Anlagen, was nicht zuvor anderen als Zuwendung überlassen wurde, erbt Tim und wird an seinem einundzwanzigsten. Geburtstag zu seiner freien Verfügung stehen. Wenn er und ihr die nachfolgenden Bedingungen erfüllt: Das Einkommen aus dem fortlaufenden Verkauf meiner Bücher erhält Stefanie. Das sollte zum sorgenfreien Leben reichen, aber wie ich dich kenne, wirst du trotzdem arbeiten wollen. Die daran geknüpfte Bedingung ist, dass ihr zwei in dem Haus in Falkensee bis zu Tims einundzwanzigsten Geburtstag zusammenlebt. Geht ihr auf diese Bedingung nicht ein, kriegt ihr gar nichts. Null. Nada. Niente. Außer der Gewissheit, dass ihr beide eine weitere Chance verpasst habt und beide nicht erwachsen geworden seid. In diesem Falle geht das gesamte Vermögen an Brot für die Welt, einschließlich des Erlöses des dann zu verkaufenden Hauses. Papa wird euch erzählen, dass ihr selbstverständlich das Testament anfechten und euren Pflichtteil einklagen könntet, und wie das abzulaufen hätte. Das steht euch natürlich frei, ist vom Gesetzgeber als Option vorgesehen. Ich kenne euch aber beide gut genug, um zu wissen, dass ihr das niemals tun würdet."

Oh Siggi, verflucht ...

„Ja, euch beide muss man leider zu eurem Glück zwingen. Das hätte ich niemals zu Lebzeiten gekonnt. Das wisst ihr ganz genau. So hat selbst mein Ableben noch etwas Gutes. Tim. Ich habe dir nie vorschreiben wollen, was du aus dir und aus deinem Leben machst. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Ich schreibe es dir deshalb nicht vor, sondern bitte dich darum. Bitte tu mir den Gefallen und verschließe dich nicht dieser einen und einzigartigen Chance. Du hast mir gesagt, du hast keine Mutter. Du bist ein Vollidiot, Junge. Du hast eine, und was für eine. Finde es heraus. Mach den Mutterschafts-Test. Stefanie. Hör auf, dir Asche aufs Haupt für deine Verfehlungen zu streuen und sei endlich für deinen Sohn da. Der dich jetzt braucht. Den du jetzt brauchst. Es spielt keine Rolle mehr, was vorher war. Jetzt bist du gefragt. Jetzt. Ich liebe dich, habe niemals aufgehört dich zu lieben. Das weißt du, aber du sollst es wenigstens noch einmal hören. Dass ich mich nun absetze, bevor wir eine zweite Chance bekommen können, ist dumm, aber nicht mehr zu ändern. Ihr zwei habt eine, begreift es, versteht es, nehmt sie an. Das schuldet ihr mir und euch. Das ist das Erbe, das ihr antreten müsst. Ob ihr es wollt, oder nicht. Ich werde immer bei euch sein. Wagt ja nicht, mich zu vergessen. Lebt wohl, aber tut das gefälligst zusammen. In diesem Sinne ... gezeichnet: Sigurd der Schreckliche."

Fuck!

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Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mehr oder minder jeder in der Runde war völlig entgeistert. Ganz ehrlich, ich war es nicht. Mit so etwas in der Art hatte ich fast gerechnet, aufgrund der Andeutungen, die Bernd gemacht hatte. Obwohl natürlich nicht in dieser Form und in diesem Ausmaß. Das war Siggi, wie er leibte. Und nun leider nicht mehr lebte. Die Stimme der Liebe. Über seinen Tod hinaus.

Bernd sah mich schmunzelnd und mit der ihm typischen Wärme an und wusste selbstverständlich bereits meine Antwort. Und Tim ... wich meinem Blick nicht aus. Wirkte verwirrt und erschossen, von dieser ultimativen Forderung seines über alles geliebten Erzeugers. Der er sich nicht verschließen konnte. Obwohl alles in ihm jetzt Kakao schreien musste.

„Braucht irgendjemand hier Bedenkzeit, ob er sein Erbe antreten möchte?", fragte Bernd, der natürlich genau wusste, wie sauber uns Siggi in genau die Situation bugsiert hatte, in der er uns haben wollte.

Selbst wenn ich für mich hätte zurückschrecken wollen, das konnte ich alleine schon aus dem Grunde nicht, weil das für Tim ebenfalls bedeutet hätte, dass er leer ausging. Tim stand unter ähnlichem Druck, was mich anging, obwohl es ihm als Rache für den Schmerz, den ich ihm und auch seinem Vater zugefügt hatte, wahrscheinlich durchaus nicht unrecht gewesen wäre.

Zusätzlichen Druck bekam er aber durch das Haus. Denn wenn er sich nicht darauf einließ, stand er praktisch auf der Straße. Das alles hatte er sich mal wieder wunderbar ausgedacht. Siggi. Sigurd der Schreckliche. So hatte er sich immer genannt, wenn er mit Tim Piraten gespielt hatte.

Tim sah mich nachdenklich an, verzog das Gesicht und meldete sich tatsächlich als erster zu Wort.

„Als ob er mir irgendeine Möglichkeit zum Ablehnen gelassen hätte. Natürlich, nehme ich an", presste er hervor. Da steckte eine ordentliche Portion Wut in ihm. Nicht nur wegen dieser Geschichte jetzt.

Und brachte mich damit unter Zugzwang, der wie gesagt, auch für mich keiner war.

„Ich natürlich auch."

Von den anderen hatte ebenfalls niemand einen Grund abzulehnen, oder das Testament anzufechten. Tim sah mich lange an und krauste die Stirn. Er wollte wohl etwas sagen, aber er traute sich nicht, entweder wegen der anderen Leute, oder weil ich es ohnehin früh genug erfahren würde.

Er brauchte es gar nicht auszusprechen. Er würde sich den äußeren Vorgaben unterwerfen. Alles andere war von außen nicht nachvollziehbar. Er konnte auch mit mir zusammenleben und weiter nichts mit mir zu tun haben. Zu tun haben wollen. Seinen Widerstand, seine Wut und seine Ablehnung konnten Siggis Worte nicht brechen, nicht vom Tisch fegen.

Ich nickte ihm verstehend zu. Ohne Worte verstanden wir uns. Ohne Worte würden wir miteinander auskommen können. Angst hatten wir aber beide genug vor dem notwendigen Dialog.

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Für mich gab es in den folgenden Tagen nicht viel zu tun, um nach Falkensee zurückzukehren. Ummelden würde ich mich dort, einen Umzug als solchen gab es nicht, da meine paar Habseligkeiten, die ich aus Irland mitgebracht hatte, in den zwei Jahren in Deutschland nur unwesentlich mehr geworden waren.

Und doch blieb ich noch eine weitere Woche in Bremen. Wollte Tim und mir etwas Zeit geben, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir bald wieder unter einem Dach zusammenleben würden. Ehrlich gesagt hatte ich auch etwas Angst. Eigentlich sogar gehörige Angst. Nun die Folgen von dem zu erleben, was ich angerichtet hatte.

Bei meiner Tante Dagmar hatte ich in ihrem Gästezimmer gewohnt. Meine Siebensachen passten alle in meinen klapprigen Fiat. Beim Arbeitsamt konnte ich mich schriftlich abmelden. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen oder Beziehungen, von denen ich mich lösen musste.

Nur eine tiefe Dankbarkeit für Tante Dagmar, die mir nicht nur ein Zimmer, sondern auch ihre ganze Liebe, Kraft und Zuversicht in den dunklen Tagen nach meiner Rückkehr zur Verfügung gestellt hatte. Auch sie hatte Siggi gemocht, der sie immer zum Lachen gebracht und dessen Bücher sie allesamt mehrmals gelesen hatte.

Dieses Testament, meinte sie noch lächelnd beim Abschied, war allerdings sein absolutes Meisterwerk. So sicher war ich mir da noch nicht. Es war der Anfang einer Geschichte, aber keineswegs war der Verlauf oder das Ende abzusehen.

So stand ich mit einigem Herzklopfen vor der Tür des Hauses, das schon einmal und für lange Zeit mein Zuhause gewesen war. Ich hatte sogar noch einen Schlüssel, weil ich ihn einfach vergessen hatte abzugeben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Siggi die Schlösser ausgetauscht hatte.

Trotzdem klingelte ich. Es dauerte eine ganze Weile, bevor die Tür aufging und Tim sichtbar wurde. Mit Bartstoppeln, ungekämmten Haar, Fettflecken auf seinem T-Shirt und in einer Jogging-Hose, die auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Waren das Spermaflecken da drauf? Eine Wolke von Schweißgeruch wehte mir entgegen. Na klasse.

„Wolltest du nicht erst morgen kommen?", meinte er mit verschlossenem Gesichtsausdruck.

„Nein. Samstag. Heute ist Samstag. Darf ich reinkommen, oder störe ich eine Penner-Party?"

„Was? Alte ... ist doch auch dein Scheiß-Haus, was fragst du denn so blöd?"

Und machte mir Platz. Na, das war ja ein Empfang. Lugte kurz nach draußen, wohl um zu schauen, ob ich mit einem Transporter oder ähnliches gekommen war.

„Wo issen dein ganzes Zeuch?"

„In meinem Auto, so viel ist das nicht. Wieso, willst du mir beim Reintragen helfen?"

„Quatsch, wenn das nur Kleinkram ist, kannst du das schön alleine machen."

„Manieren hat dir dein geliebter Vater nicht beigebracht, oder?"

„Wat?"

„Wie man sich benimmt. Was sich gehört."

„Dass man zum Beispiel nicht seinen Mann und sein Kind einfach so mir nichts, dir nichts verlassen sollte? Das brauchte er nicht. Das weiß man einfach so. Die meisten jedenfalls."

„Kannst du vielleicht noch damit warten, bis ich mein Zeug reingebracht habe, bevor du mir deshalb an die Gurgel gehst?"

„Mach doch, was du willst, Alte. Lass mich einfach in Ruhe und halt dein Maul. Dann kommen wir wunderbar klar. Capice?"

Nicht aufregen. Nicht gleich auf seine Aggressionen einsteigen. Das konnte ja nur schiefgehen. Ging ich ihm gerade auf den Leim? Wollte er mich provozieren? War er da wie sein Vater? Bei dem wäre so eine Show nämlich genau das gewesen. Nur so aggressiv wäre er niemals mit mir umgegangen. Tim ging ins Wohnzimmer, ließ mich einfach stehen.

Eigentlich hatte ich ja angefangen. Und ihn gleich indirekt einen Penner genannt. Verdammt, diese Anspannung ... das ging ihm sicher nicht anders als mir. Ärgerlich über mich selbst schleppte ich meine Taschen und Koffer in unser Schlafzimmer. Hier hatte sich nicht viel verändert.

Mal abgesehen von der Unordnung, den offenen Schränken und der zahlreichen Medikamente auf dem Nachtschrank. Für die Unordnung war sicher nicht Siggi verantwortlich. Wahrscheinlich hatte Tim nach Sachen für das Krankenhaus gesucht. So sah es nämlich aus.

Erschlagen von dem ersten Gespräch und den ersten Eindrücken, setzte ich mich aufs Bett. Am liebsten hätte ich jetzt einfach die Tür zugemacht und geheult. Danach war mir jedenfalls. Aber das ging nicht. Das war jetzt mein Leben. Meine Situation. Damit musste ich umgehen. Jetzt.

Das Wohnzimmer sah keineswegs besser aus. Pizza-Boxen, zum Teil offen und mit angebissenen Stücken, ein überquellender Aschenbecher und ein Bong mit vom Rauch bräunlich gefärbtem Wasser. Wahrscheinlich voll gewichste Taschentücher und Dreckwäsche auf dem Sofa und der Erde. Irgendwo dazwischen ungeöffnete Briefe, viele mit einem Trauerrand.

Teller, Bierflaschen und Dosen. Ein Kochtopf mit Resten von Ravioli. Und mitten drin mein Sohn, einen Gamecontroller oder wie man die Dinger nannte in der Hand, eine Kippe in den Mundwinkeln und die Augen starr auf irgendein Ballerspiel gerichtet, das auf dem großen Flachbildfernseher zu sehen war. Der war neu, sonst sah es von den Möbeln fast noch genauso aus, wie ich es kannte.

„Kannst du mal auf Pause gehen?"

„Nicht jetzt. Sag an. Was willst du?"

„Mit dir reden."

„Machst du doch. Ich kann Multitasking."

Ganz ruhig. Also gut.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte nicht gleich so einen dummen Spruch machen dürfen, weil du ... etwas ungepflegt aussiehst."

„Geschenkt."

„Ich verstehe, dass dich das alles anstinkt, die Situation, und ..."

„Interessiert mich nicht, was du verstehst. Lass mich einfach in Ruhe."

„Wenn du das möchtest, tue ich das. In diesem Gestank möchte ich eh nicht bleiben. Schon mal was von Lüften gehört? Siggi hatte doch nie in der Wohnung geraucht?"

„Stimmt. Und jetzt ist er tot. Es zwingt dich niemand, hierzubleiben. Es gibt noch andere Zimmer. Verpiss dich, Alte."

Okay. So wird das nichts.

Ich fegte ein paar von seinen Klamotten vom Sofa und setzte mich hin.