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Der Mutterschafts-Test

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„Was ist denn jetzt noch?"

Ich antwortete ihm nicht. Blieb einfach sitzen und starrte ihn an. Ging nicht auf sein Spiel ein.

„Was glotzt du mich so an? Was wird das jetzt?"

Erneut blieb ich ihm eine Antwort schuldig. Er schüttelte den Kopf und versuchte, mich zu ignorieren. Das gelang ihm vielleicht fünf Minuten. Dann verging seine Spielfigur in einer Explosion. Er fluchte und legte den Controller zur Seite.

„Jetzt rede, was willst du?", fragte er mit genervtem Gesichtsausdruck.

„Schau mich an."

Er krauste seine Stirn und schaute mich direkt, und diesmal wieder etwas verunsichert an.

„Und?"

„Sehe ich alt aus? Oder wie ein Mädel aus deinem Bekanntenkreis, die du Alte nennen kannst?"

„Eh, wie bist du denn drauf? Wegen so einem Scheiß regst du dich auf?"

„Nein, ich versuche mich nicht aufzuregen. Aber ich versuche auch, eine Basis und einen Ton zu finden, mit dem wir wie normale Menschen miteinander reden können. Du bist wütend auf mich. Verstehe ich, auch wenn dich das angeblich nicht interessiert. Wenn du dich richtig auskotzen willst, mach das, wenn das notwendig ist. Aber so will ich nicht mit dir die ganze Zeit reden müssen. Ich verlange von dir nicht, dass du mir Respekt entgegenbringst, den ich in deinen Augen wahrscheinlich nicht verdiene. Aber so kann und will ich nicht mit dir reden, okay? Hast du Siggi gesagt, er solle sich verpissen? Hast du ihn Alter genannt?"

„Nein, ich habe ihn Siggi genannt. Und für das, was er war, respektiert", kam seine lauernde Antwort.

„Gut. Dann nenn mich Stefanie oder Steffi, oder wenn dir das irgendeinen perversen Kick gibt, meinetwegen auch Mama."

„Mir fallen da noch ganz viele andere Sachen ein, die ich dich nennen könnte."

„Ja, mir auch, wenn ich dich so ansehe. Wollen wir uns solche Spitzen gegenseitiger Wertschätzung erst einmal verkneifen, versuchen, wie erwachsene Menschen und so normal, wie das unter den gegebenen Umständen möglich ist, miteinander zu reden und umzugehen?"

„Eh, Alte ..."

„Okay, dann nicht. Fuck you!", brachte ich noch raus, stand auf und wollte aus dem Zimmer rennen. Nein, so nicht. So einfach kriegte er mich nicht klein. Also ging ich zur Terrassentür und riss sie breit auf. Dann schnappte ich mir alles dreckige Geschirr, was ich tragen konnte und ging damit in die Küche.

Gegen die war das Wohnzimmer direkt eine Oase von Ordnung und Sauberkeit gewesen. Puh. Erstmal durchatmen. Ich konnte ihm das nicht einmal übelnehmen. Er hatte sich gehenlassen, war alleine mit seinem Schmerz und seiner Trauer gewesen.

Das war nun vorbei. Und wenn es eben Zeit brauchte, vernünftig miteinander zu reden und umzugehen, war das eben so. Hier konnte ich konkret tätig werden. Also den Brechreiz überwinden, den die verschimmelten Essensreste und wahrscheinlich gleichfalls das Gespräch von eben auslösten und ran.

Boah, Maden im Biomüll, jetzt wurde es echt grenzwertig. Los jetzt, Augen zu und durch. Und den Dreck weggemacht, für den ich irgendwie auch verantwortlich war.

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Was machte sie jetzt? Sie fing tatsächlich an, in der Küche klar Schiff zu machen. Auch nicht schlecht. Dass es schon Samstag ist ... sonst hätte ich das versucht zumindest notdürftig aufzuräumen. Aber das brauchte sie ja nicht zu wissen. Okay, sie ist nicht mal völlig ausgerastet. Scheiße, und ich sah wirklich wie ein Penner aus, da hatte sie völlig recht.

Nein, so hatte ich sie nicht empfangen wollen. Natürlich könnten wir so nicht miteinander umgehen auf Dauer. Eigentlich hatte sie nicht versucht, die Mama raushängen zu lassen. Kein dummer Spruch über mein Bong oder meine voll gewichsten Taschentücher. Das war ihr nicht entgangen, ich hab's genau gesehen.

Fuck you. Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Na, in Irland ist das wahrscheinlich eher normal als Spruch. Und jetzt? Was sollte ich denn jetzt machen, nachdem ich mich gleich erstmal als das totale Arschloch präsentiert hatte? Okay, sie hatte ja recht. Den Schweinestall hier aufräumen, es ging ja gar nicht anders.

Vergraulen wollte ich sie schließlich nicht. Zumindest bis zu meinem einundzwanzigsten mussten wir ja irgendwie klarkommen. Was würde Siggi sagen, wenn er mich so erlebt hätte? Scheiße, die Müllbeutel waren natürlich alle in der Küche. Also gut, zeig ihr, dass du nicht immer ein kleines Arschloch bist. Oh verdammt, sie steht vor dem Bio-Eimer und würgt. Die Maden, Scheiße.

„Komm lass, das mach' ich", bot ich an und schnappte mir das Teil.

Oh fuck, die Bio-Tonne hatte ich auch schon länger nicht an die Straße gestellt, da passte das Zeug gerade noch so rein, mit Deckel drücken und quetschen ohne Ende. Wer denkt denn auch an so einen Scheiß, wenn der Vater im Sterben liegt? Die meiste Zeit wusste ich ja nicht einmal, was für ein Wochentag war. Nur daran, dass der Tag näherkam, wo er nicht mehr bei mir sein würde.

Ich ging mit dem geleerten Eimer ins Bad und versuchte, die restlichen noch an den Wänden und dem Deckel klebenden Maden mit der Duschbrause wegzukriegen. Verflucht, waren die Viecher hartnäckig. So, das ging doch jetzt. Am besten gleich einen von den großen schwarzen Müllsäcken aus der Küche geholt und im Wohnzimmer alles reinpfeffern.

In die normale Tonne kriegte man eh nichts mehr rein, zubinden und hoffen, dass die Müllabfuhr die auch so mitnimmt. Sie sah mich verblüfft an, als ich mir die Müllbeutelrolle schnappte, nickte dann nur und machte mit dem Versuch weiter, eingetrocknete Essensreste zumindest schon mal grob vom Geschirr zu kriegen.

Warum war ich gleich so abgegangen? War das ihr blöder Spruch gewesen, von wegen, Penner und so? Dafür hatte sie sich schließlich sogar entschuldigt. Scheiße, das Bong hatte ich auch schon vier Wochen nicht mehr gereinigt. Die braunen Ränder kriegte ich doch nie wieder weg. Nee, jetzt Pizza-Boxen und Reste trennen, brachte ich nicht mehr.

Das Bio-Teil war doch eh bis zum Rand voll. Tüte auf und wech damit. Die ganzen Briefe. Die hatte ich noch nicht mal angesehen. Die ersten hatte ich noch aufgemacht, da war sogar Knete drin, anstatt Blumen, wie bei einem stand. Also wohl besser nicht so weg pfeffern. Was machte man überhaupt, bedankte man sich dafür?

Das würde Steffi schon wissen. Sollte ich sie Steffi nennen, wie Siggi das immer getan hatte? Mit „Alte" hatte ich sie eigentlich nicht mal anmachen wollen, meine Kumpels nannte ich schließlich auch Alter. Aber da hatte sie recht, Siggi hatte ich nie Alter genannt. Obwohl, ihn hätte es wahrscheinlich nicht einmal gestört.

Na, das ging doch schon fast. Noch meine stinkigen Klamotten in die Wäschebox und das Bong im Bad ausgeschüttet. Oh, da war sie jetzt und spülte Essensreste im Klo runter.

„Ehm ... soll ich dir gleich beim Abwaschen helfen?"

Jetzt war sie richtig platt. Siehste, ich konnte sogar mein Muttchen überraschen. Sie schüttelte den Kopf.

„Vielleicht, wenn du im Wohnzimmer ..."

„Alles schon passiert."

„Im Ernst? Oh."

„Ich wollte das alles selber machen, bevor du ankommst", gab ich mein dunkles Geheimnis preis. Weil ich sah, dass sie sich freute, da ich nun mitmischte. „Ist ja schließlich mein Dreck."

„Das werfe ich dir nicht vor, verstehst du? Um solche Kleinigkeiten kümmert man sich nicht, wenn man vor Schmerz und Sorge außer sich ist. Das ist ganz normal."

Okay. Und jetzt? Entschuldigen?

„Nur zur Kontrolle: Du siehst alles andere als alt aus, so war das auch nicht gemeint. Du hast dich eigentlich gar nicht verändert, vom Aussehen", gab ich zu. „Steffi."

Sie lächelte mich an.

„Danke. Und du siehst deinem Vater immer ähnlicher. Mittlerweile nicht nur äußerlich. So streng gerochen hat er allerdings nie ... vielleicht springst du unter die Dusche, und ich kümmere mich unten um den Rest?"

Mir lag ein dummer Spruch auf der Zunge, aber ich verkniff ihn mir. Okay, versuchen wir es mit erwachsen miteinander umzugehen. Warum nicht. "Nicht nur äußerlich" war ein ganz besonderes Lob, das war mir klar. Das wollte ich nicht gleich wieder kaputt machen.

„Hast recht, ich stinke wie ein alter Ziegenbock. Dann mach dich jetzt vom Acker, für 'n Striptease reicht der Wiedererkennungswert noch nicht."

Sie schmunzelte und zog sich ohne weitere Sprüche in Richtung Küche zurück. Okay, läuft doch. In die Flicken würden wir uns früher oder später sowieso wieder kriegen. Bis jetzt hatte sie auch nicht ernsthaft versucht, die Mutter raushängen zu lassen.

Ich rasierte mich, duschte und suchte verzweifelt nach sauberer Wäsche. Shit, das hatte ich allerdings auch länger nicht mehr gemacht, Wäsche gewaschen. Halt, Oma hatte doch Zeug gewaschen, als ich bei ihnen gewesen war. In der Reisetasche. Gerettet.

Steffi quälte sich immer noch in der Küche rum. Befriedigt nahm sie meinen Clean-Look zur Kenntnis, als ich kurz zu ihr reinschaute.

„Jetzt siehst du wirklich wieder wie Siggi aus", meinte sie.

„Ich heiße allerdings Tim. Vergiss das bitte nie."

„Ja. Das werde ich nicht. Wie ist das, hast du heute schon was gegessen?"

„Nein, ich habe überhaupt keine Ahnung wie spät es ist."

„Schon fast sechs. Wollen wir einen Happen essen gehen? Zum einen kann mich jetzt ja mit dir wieder unter Menschen sehen lassen, zum anderen mag ich heute nicht nochmal Abwasch sehen, wenn ich hier jemals fertig werden sollte."

„Gebongt."

„Das kannst du übrigens auch bringen. Das muss einweichen, sonst kriegst du die Ränder nicht mehr weg."

Huch? Nicht nur Kippen? Das hätte ich nun nie gedacht. Na ja, Mucker, da kam das wahrscheinlich her.

„Du kennst dich aus, wa? Wildes Leben in Irland?"

Das schien ihr peinlich zu sein.

„So wild nun auch nicht. Aber ja, ich habe da auch mal Grass geraucht. Sonst rauche ich übrigens gar nicht. Nur nach der Beerdigung, da habe ich's irgendwie gebraucht. Obwohl mir speiübel danach war."

„Klar."

Sie seufzte.

„Tim ... du hast gesehen, was das Rauchen..."

„Ist mir auch klar. Ja, ich höre irgendwann auf. Nur jetzt gerade nicht. Okay?"

„Das habe ich damit gar nicht sagen wollen. Du musst wissen, was du tust. Was machst du jetzt eigentlich, müsstest du dich nicht auf dein Abi vorbereiten?"

„Das wird nichts mehr. Hab zu viel verpasst. Die Prüfungen sind schon in zwei Wochen, aber allein die Mindestanwesenheit für die Anerkennung der Kurse krieg' ich nicht mehr hin. Ich muss mir im Sommer überlegen, wie's weitergeht, ob Ehrenrunde oder ob mir das Fachabi reicht."

Sie nickte und quälte sich weiter mit einem besonders verkrusteten Topf. Das war aber schon einer der letzten.

„Okay. Noch wird's nichts mit dem aufhören. Ich geh' dann eine rauchen. Auf der Terrasse", fügte ich noch hinzu. Sie schmunzelte dankbar.

„Vergiss nicht, das Bong zu bringen. Ich fülle es mit Wasser und Spülmittel auf, das löst die Ränder dann hoffentlich über Nacht."

Na ja. Läuft doch. Das hätte nicht mal Siggi für mich gemacht.

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Ja, es war eine Erleichterung, ihn einlenken zu sehen. Aber mir war völlig klar, dass dies nur ein Waffenstillstand für den Moment war. Es war noch unglaublich viel Wut und Aggression in ihm. Das hatte er längst noch nicht alles abgelassen. Da konnte ich mich doch auf einiges gefasst machen. Aber das musste wahrscheinlich alles raus. Irgendwann.

Bella Vita, ein italienisches Restaurant. Hatte Tim vorgeschlagen, das kannte ich noch nicht, gab es wohl erst ein Jahr. Siggi sollte es geliebt haben. Mittlerweile verstand ich, warum. Das war wirklich großartig.

„Wie geht es Großmutter?", fragte Tim kauend.

Bei seiner Speisewahl hatte ich nur den Kopf schütteln können. Eine meterlange Speisekarte mit feinster italienischer Küche, und nach allem, was ich gesehen hatte, war Pizza sein Hauptnahrungsmittel in den vergangenen Wochen gewesen. Und bestellte sich natürlich eine Pizza.

„Schon viel besser, sie ist gestern Vormittag aus dem Krankenhaus raus. Großvater ist jedenfalls glücklich, dass er sie wieder bei sich hat. Obwohl sie ständig im Krankenhaus ist, ist er immer ganz verloren, wenn sie nicht da ist."

Er nannte meine Eltern Großvater und Großmutter, damit wir in Gesprächen immer gleich wussten, wer gemeint war, das hatte sich schon in seiner Kindheit so eingebürgert. Meine Eltern fanden es erst etwas eigenartig, aber gewöhnten sich dann schnell dran.

„Sie wären natürlich auch gerne zur Beerdigung gekommen. Du weißt, wie sehr sie Siggi geliebt haben."

„Ja, klar. Wir waren auch weiter in Kontakt, als du dich ... als du weg warst."

Verpisst hast. Ja. So war es ja auch. Er sah mich nachdenklich an.

„Warum bist du eigentlich zurück nach Deutschland?"

„Ich habe mich von Shawn vor zwei Jahren getrennt. Und so schön Irland auch ist, ohne ihn war es einfach nicht mehr mein Zuhause, verstehst du?"

„Dann sprichst du jetzt perfekt Englisch? Und nicht nur fuck you?"

„Nein, ein paar Wörter mehr beherrsche ich schon noch. Wieso, kann ich dir bei deinem Englisch für die Schule helfen?"

„Brauchst du nicht, das ist eins der wenigen Fächer, wo ich sogar ganz gut bin. Vielleicht kannst du mir ja ein paar Schimpfworte beibringen, die man nicht so oft hört, in Filmen und so. Ich schau' mir auf Netflix meist alles im Original an. Mit Untertiteln, wenn der Dialekt zu unverständlich ist, meist aber so."

„Das ist prima. Nur so kann man es lernen, wenn man es wirklich hört. Und spricht. Dabei könnte ich dir vielleicht helfen."

Er kaute wieder an seiner Pizza rum. Die sah allerdings auch lecker aus, zugegeben.

„Hast du da aufm Land gelebt, oder so? Soll ja schön sein."

„Ja, schon etwas außerhalb von Cork, das war eine mehr ländliche Gegend. Und es ist wunderschön, da hast du völlig recht. Wie kommst du da jetzt drauf?"

„Weiß nicht, ich dachte, vielleicht hat dich die Landluft so jung gehalten. Du siehst nicht wie Ende dreißig aus, echt. Voll die MILF."

Was? Er wollte ... Nein. Jetzt grinst er mich auch noch total an. Das meinte er als Kompliment ... oder?

„Ehm ... weißt du, was die Abkürzung bedeutet?"

„Ja, klar, eben ältere Frauen, die scharf aussehen."

„Mum I'd like to fuck. Mutter, die ich ficken will. Das meinte Siggi sicher nicht damit, dass du mich lieben sollst wie er."

Tim verschluckte sich an seinem letzten Bissen und lief rot an, spülte schnell mit seinem Bier nach.

„Fuck, das wusste ich nicht. Da habe ich ja voll in die Scheiße gegriffen. So war das nicht gemeint", presste er hervor, als er halbwegs wieder Luft bekam.

„Alles gut. Ich dachte für einen Moment, dass dein Frauenbild eventuell noch etwas querer ist, als dein Vater angedeutet hat. Dann hab ich's als das Kompliment aufgefasst, das es wohl sein sollte. Danke also. Und was meinte Siggi damit?"

Tim runzelte wieder die Stirn und sein Gesicht verfinsterte sich leicht.

„Darüber zu reden, habe ich jetzt keinen Bock. Was hast du in Deutschland dann gemacht? Wieder in deinem alten Job gearbeitet?"

„Nein, so einfach war das nicht, was zu kriegen. Ich habe bei Tante Dagmar in Bremen gewohnt, erinnerst du dich an sie? Na ja, ist schon eine Weile her, da warst du, glaube ich, sechs, als du sie das letzte Mal gesehen hast. Egal, in Bremen habe ich am Anfang nur eine Weile in einer Kneipe gekellnert, so Cash auf die Kralle, ohne Sozialversicherung und so, und zum Schluss hatte mich das Arbeitsamt für sechs Monate in ein Callcenter verfrachtet. Ich hatte ein Vorstellungsgespräch für einen Job bei einem Event Service in Hamburg, aber dazu kam es ja nicht mehr."

Er nickte und schwieg. Dachte vermutlich genau wie ich an Siggi und sein Testament.

„Es sind noch ganz viele Briefe da, mit Trauerrand, ich hab's nicht gepackt, die aufzumachen. Müssen wir uns bei den Leuten irgendwie bedanken?", fragte er nach einer Weile.

„Nein, Bernd ... dein Opa hatte das schon mit einer Dankesannonce in der Zeitung gemacht, auch in deinem Namen. Das macht man so in diesen Fällen."

„Ja, der hat alles in die Hand genommen. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie mir geschah. Sie haben mich sofort zu sich genommen."

„Das war doch auch richtig", gab ich zurück und sah ihn das Gesicht verziehen.

„Es war aber auch total nervig. Oma ist so ja schon schwer zu ertragen, aber in ihrem Zustand war das absolut grenzwertig."

Das wiederum konnte ich gut nachvollziehen. Sandra war ein Kapitel für sich. Wir waren nie richtig warmgeworden. Das würden wir jetzt erst recht nicht mehr werden.

„Dann war es bestimmt auch sie, die diesen Anzug verbrochen hat?"

Er nickte bestätigend und trank einen tiefen Schluck aus der Flasche.

„Und das war nur die Spitze des Eisbergs."

„Ich wünschte, ich wäre dagewesen und hätte dir helfen können. Es tut mir schrecklich leid, dass ich es nicht war. Auch davor ... ich will das jetzt nicht wirklich ansprechen, aber das sollst du wissen. Egal, ob du mir das glaubst oder jemals verzeihen kannst, aber ich werde mir das niemals selbst verzeihen können, dass ich nicht da war, als du mich wirklich gebraucht hast", brach es aus mir hervor.

Er sah an mir vorbei und es arbeitete in ihm, das war zu sehen. Aber antworten konnte oder wollte er mir nicht.

„Da ... verstehe ich übrigens nicht, warum Siggi ... warum dein Vater mir nicht gesagt hat, was mit ihm los war? Er hatte doch meine Telefonnummer. Hat ... hat er dir gegenüber was erwähnt?"

„Ja, das hat er. Beziehungsweise, ich war dabei, als er es erklärt hat. Opa hatte ihn gefragt, ob er dich schon informiert hat, als er die Diagnose bekommen hatte. Er hat gesagt, das ginge nicht. Er sagte wortwörtlich: Ich kann Steffi immer noch nicht leiden sehen. Und das würde sie."

Ich schloss die Augen. Tränen stiegen in mir hoch. Diesmal wehrte ich mich dagegen. Sah zum ersten Mal Mitgefühl in Tims Augen, als ich sie wieder öffnete.

„Du ... liebst ihn immer noch, nicht wahr?"

„Ja. Mehr als du dir vorstellen kannst. Was er damit auch sagen wollte ... er spielte auf deine Geburt an. Die Wehen waren sehr schmerzhaft und ich hatte auf die PDA verzichten wollen, wollte eine natürliche Geburt, möglichst sogar im Wasser. Siggi konnte es nicht ertragen, wie sehr ich mich da quälte und es nahm kein Ende. Dann ist er sogar rausgelaufen. Er war ein sehr empfindsamer Mann ... dem meine Schmerzen vielleicht mehr wehtaten als mir selbst. Eigentlich mehr seinetwegen habe ich mir dann doch die PDA geben lassen und eine der Hebammen hat ihn dann wieder reingeholt, damit er den Moment, wo du in diese Welt kamst, nicht verpassen würde."

Tim schluckte und starrte vor sich hin.

„Aber sein glückseliges Lächeln, als er dich das erste Mal in Händen hielt ... das werde ich nie vergessen ..."

Jetzt war Tim ebenfalls den Tränen nahe, das war deutlich zu sehen.

„Wollen wir vielleicht langsam nachhause? Oder möchtest du noch ein Dessert bestellen?", versuchte ich uns aus der Beklemmung und überwältigenden Trauer zu befreien.

„Nee, lass uns. Aber ist doch geil hier, oder? Dir hat es auch geschmeckt?", fing er sich tatsächlich sofort.

„Ja, ganz vorzüglich sogar. Lass mich raten: Pizza ist dein Lieblingsessen?"

„Irgendwie schon. Mir fällt auch oft einfach nichts Anderes ein, auf das ich Appetit habe."

„Na, im Haus wundert mich das nicht. Der Kühlschrank ist total leer, mal abgesehen von dem vergammelten Zeug, was ich wegschmeißen musste, war nichts drin, außer Margarine. Wovon hast du dich denn ernährt?"

„Pizza halt. Ich wollte am Samstag einkaufen gehen."

„Verstehe. Und nicht mitbekommen, dass heute Samstag ist. Egal, kriegen wir hin. Zahlen bitte", wandte ich mich an den Kellner, der nach meinem Handzeichen zu uns geeilt war. „Gibt es noch den guten Bäcker am Bahnhof, der auch sonntags aufhatte? Den Namen habe ich jetzt vergessen."