Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Institut für Tiefenerziehung 02

ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

Nur die breiten, schwarzen Bänder aus kräftigem Nylongewebe, die sich über Jonas' Schulter und um seine Brust spannten, wollten nicht recht ins Bild passen. Er musste sich leicht vorbeugen, als sich Mariah an genau diesem Geschirr zu schaffen machte. Kurz darauf war ein deutliches Klicken zu vernehmen, und dann streifte sie ihm die Gurte von den Armen, die er dazu folgsam in die Höhe reckte.

»Oh ja, viel besser!« bedankte Jonas sich artig, bevor er sich wieder Mia zuwandte. »Wow, also, willkommen in unserer Klasse!« Er strahlte dabei über seine glatten und leicht geröteten Wangen, und die offen gezeigte Fröhlichkeit gab ihm etwas Kindliches. Gewiss trug auch seine Kleidung zu diesem Eindruck bei, und vielleicht auch die Tatsache, dass er ein wenig dicklich war, auch wenn er sicherlich noch nicht als übergewichtig gelten musste. Nur wirkten seine Züge und Körperformen irgendwie weich.

»Danke«, gab Mia zurück, »sind das denn nur wir drei?«

»Genau«, begann Jonas zu erklären, »und bis gestern waren wir noch zu zweit! Aber das Institut ist ja nicht so groß, und da fällt es natürlich schon schwer, überhaupt Klassen zu bilden.«

»Wie funktioniert das überhaupt?« wollte Mia nun wissen, »studiert ihr dann auch Soziologie? Und fangt ihr auch gerade erst an, oder wie?«

Weil Mia noch keinen Berufsabschluss hatte, war sie nach der Institutsordnung dazu verpflichtet, entweder eine Ausbildung zu beginnen oder ein Studium aufzunehmen. Dies war ihr aber in all der Aufregung der letzten Wochen wie ein unbedeutender Nebenaspekt vorgekommen, und so hatte sie sich relativ spontan für ein Fach entschieden, das wenigstens keine besonderen mathematischen Vorkenntnisse oder Fremdsprachen erfordert hatte. Ein wenig hatte sie sich für das Thema sogar in der Schule interessiert. Viele Gedanken über ihr Studium hatte sie sich allerdings nicht gemacht.

»Nee, gar nicht«, beantwortete Jonas ihre Frage. »Anastasia studiert Philosophie, und ich werde Historiker.«

Mia sah ihn verständnislos an, sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte.

»Das funktioniert über Projektarbeit«, brachte sich nun Anastasia ein. Sie hatte sich rittlings auf ein Kissen gesetzt. Ihre Windel zeichnete sich zwischen den leicht gespreizten Beinen unübersehbar durch den Stoff ihres Strampelanzugs ab, aber das schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Mit leiser, aber fester Stimme fuhr sie fort: »Die Fächer liegen dicht genug beieinander, um in einer kleinen Gruppe an einem gemeinsamen Thema zu arbeiten. Das heißt natürlich, dass unsere Professoren sich untereinander abstimmen müssen. Aber bisher hat das gut funktioniert, und das Institut hat eine Vertrauensprofessorin an der Universität, die das organisiert.«

»Kommen unsere Professoren denn hierher?« fragte Mia nach.

»Nein, normalerweise nicht. Formal gesehen sind wir ja Fernstudierende an der Uni München, aber da fahren wir nur selten hin, zu Prüfungen zum Beispiel oder wenn wir unbedingt eine Sprechstunde besuchen müssen. Und hier haben wir einen Lehrer, der sich mit unseren Profs. abspricht.«

Mia sah sie zweifelnd an: »Hoffentlich klappt es auch, wenn ich jetzt neu dazukommen soll«, meinte sie.

»Gerade du musst dir da gar keine Sorgen machen«, beruhigte Anastasia sie, »die Vertrauensprofessorin ist Soziologin und betreut dich im ersten Semester selbst.«

»Und in der Praxis läuft das ohnehin alles ganz einfach«, freute sich Jonas. »Anastasia schreibt hier ihre Doktorarbeit, und wir beide hängen uns da mit dran.«

»Wie weit bist du denn?« fragte Mia überrascht ihre Mitbewohnerin.

»Weit genug, dass Jonas manchmal glaubt, er könne sich einen lauen Lenz machen«, kam die Antwort unerwartet von der Eingangstür. Ein hochgewachsener Mann, vielleicht Anfang 40, in einem altmodischen Tweedanzug hatte den Raum betreten.

»Das muss dann wohl unser Lehrer sein«, schoss es Mia durch den Kopf, während sie wie gebannt auf den Neuankömmling starrte, der mit zügigen Schritten auf das kleine Grüppchen im Laufstall zueilte. Seine Sohlen klackten dabei laut auf den Marmorfliesen des Bodens.

Am Gitter angekommen, ging er in die Hocke, um sich die braunen Lederschuhe auszuziehen und sie akkurat nebeneinander an den Rand zu stellen. Die beiden Erzieherinnen, die während des Gesprächs der drei Schüler außerhalb des Ställchens gewartet hatten, nutzen die Gelegenheit, um sich von ihren Schützlingen zu verabschieden. Als Mariah Mias flehenden Blick bemerkte, hockte sie sich noch einmal hin und versprach ihr mit leiser Stimme, schon in zwei Stunden zur Pause wiederzukommen. Dann aber richtete auch sie sich auf und verließ mit Angela zusammen den Raum.

»Du bist also endlich zu uns gestoßen«, hörte Mia ihren Lehrer sagen, während er nacheinander seine Beine über die Absperrung schwang. Er setzte sich auf das letzte freie Kissen und sah sie interessiert durch zwei ovale Brillengläser an. »Mein Name ist Arthur, willkommen in meiner Klasse«, stellte er sich vor. Den Namen hatte er englisch ausgesprochen, aber ein Akzent war in seiner Stimme nicht zu hören.

Mia nannte schüchtern ihren Namen und fügte noch: »ich bin das Mädchen von Mariah«, hinzu.

»Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte Arthur. »Ich habe heute Morgen auch noch einmal mit deiner Professorin gesprochen. Wir können dich problemlos in unser kleines Seminarprojekt einbinden, und ansonsten hat sie mir einen ziemlich langen Lektürekatalog für dich mitgegeben.« Er klang entschlossen und tatendurstig. Mia konnte sich unter dem, was er erzählte, allerdings kaum etwas vorstellen. Doch falls Arthur ihre Unsicherheit bemerkte, ging er nicht darauf ein.

Stattdessen wandte er sich nun an alle drei seiner Schüler zugleich: »Jedenfalls wünsche ich euch allen einen guten Morgen und hoffe, dass wir vier gut miteinander klarkommen werden. Jonas und Anastasia, ich denke, wir sollten Mia erst einmal erklären, woran ihr arbeitet. Dann bekommt sie eine Vorstellung davon, wie ihre eigene Aufgabe aussehen kann, und für euch ist es bestimmt auch gut, einmal zu reflektieren, was ihr hier macht.«

Jonas gefiel der Plan offenbar, er sah so aus, als wolle er sofort zu erzählen beginnen. Arthur hob jedoch abwehrend die Hand und ergänzte: »Anastasia, fang du bitte an!«

»Gerne«, begann diese, »du weißt bestimmt, dass die Menschen immer weniger Kinder bekommen und die Bevölkerungszahlen weltweit zurückgehen, oder?«

Sie hatte Mia angesprochen, die stumm nickte.

»Das hat schleichend angefangen, Mitte des 21. Jahrhunderts, aber irgendwann vor vielleicht 50 Jahren hat es eine neue Dimension bekommen. Mittlerweile verzichten die meisten Menschen freiwillig auf Nachkommen, nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung. ›Antinatalismus‹ nennt man das.« Anastasia saß nun völlig entspannt und wirkte viel sicherer als zuvor, offenbar war sie in ihrem Element. Sie hatte die Stimme ein wenig gehoben und die Begeisterung für das Thema war ihr deutlich anzuhören.

»Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Lebenserwartung so sehr gestiegen ist«, mischte sich Jonas ein.

»Ja«, stimmte Anastasia ihm zu, »wir können noch gar nicht absehen, wie alt wir einmal werden... wir sind quasi schon unsterblich! Also gibt es kaum noch Kinder, aber das Bedürfnis, für ein Kind zu sorgen, verschwindet deshalb natürlich nicht ohne Weiteres. Und das hat in den letzten Jahrzehnten zu einer ganzen Reihe interessanter Veränderungen geführt.«

»Und das ist mein Thema!« platzte ihr wieder Jonas dazwischen. »Die Menschen suchen sich einen Ausgleich, soziale Aufgaben und so, irgendwas, wo sie sich um andere kümmern dürfen. Aber das ist gar nicht so leicht. Überleg mal, früher gab es alle möglichen Krankheiten und Gebrechen, Alter, Armut, was weiß ich! Aber jetzt, wenn alle gesund und zufrieden sind, wer braucht denn dann noch Hilfe?« Er klang fast triumphierend, offenbar mochte er den Gedanken.

»Das wirkt sich auf alle menschlichen Beziehungen aus, etwa auf Ehen oder auf Arbeitsverhältnisse, und das hat auch seine Schattenseiten«, übernahm wieder Anastasia. »›Für jemanden sorgen‹ und ›Macht über jemanden ausüben‹ gehen in der Praxis ja oft ineinander über. Von einem bestimmten Standpunkt aus kann man sogar behaupten, dass beides in Wahrheit ein und dasselbe ist.«

»Wir beschäftigen uns hier also mit dem Spannungsfeld zwischen Fürsorge, Machtausübung und Elternrolle«, fasste Arthur zusammen. Er hatte unterdessen sein Jackett abgelegt, trug aber immer noch eine Weste über dem Hemd. »Das Interesse an unserer Fragestellung kommt aus der Gegenwart, aber es lohnt sich trotzdem, auch vergangene Zeiten unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Das macht Anastasia, und zwar aus philosophischem Blickwinkel für das alte Rom. Jonas will in seiner Arbeit herausfinden, wie sich konkrete Institutionen in den letzten 30 Jahren unter diesen Bedingungen verändert haben. Und du kannst dich zumindest im ersten Semester erst einmal in die soziologischen Schriften zum Thema einarbeiten. Dann können wir in einigen Monaten darüber nachdenken, in welche Richtung du weitermachen möchtest.«

»Ich hoffe, ich kann das«, meinte Mia unsicher. Das klang alles furchtbar kompliziert.

»Das lernst du«, ermunterte Arthur sie. »Du liest einfach das, was ich dir gebe. Dann schreibst du auf, was du verstehst, und anschließend besprechen wir das gemeinsam und suchen neue Literatur für dich aus. In vielen Dingen können dir bestimmt auch deine Mitschüler weiterhelfen, die kennen sich nämlich schon ganz gut aus.«

Arthur ließ nun Jonas das Thema seiner Arbeit genauer vorstellen. Der ließ sich nicht lange bitten und plauderte fröhlich drauflos. Zuvor war er unruhig auf seinem Sitzkissen hin- und hergerutscht, offenbar hatte er es kaum erwarten können, endlich zu erzählen. Einiges von dem, was er nun vortrug, erinnerte Mia allerdings schmerzhaft an ihre Erlebnisse in den letzten Wochen. Offenbar hatte das Bedürfnis, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, für die Heerscharen von Sozialarbeitern, Psychologen und Vertrauenspersonen im Strafvollzug gesorgt, denen sie seit ihrer Verhaftung begegnet war. Dennoch klang es für Mia so, als habe sie Glück gehabt, Mitte des 22. Jahrhunderts zu leben. Nur dunkel konnte sie erahnen, was ihr wohl geblüht hätte, wenn sie einige Jahrzehnte früher geboren worden wäre.

* * *

Gelegentlich musste Arthur den Jungen zwar unterbrechen und korrigieren, aber seinem Erzähldrang tat das keinen Abbruch, und so brachte ihn erst ein sanfter Klingelton zum Verstummen. Arthur zog eine Taschenuhr aus seiner Westentasche und sah darauf. Beiläufig fiel Mia dabei seine drahtige Armmuskulatur auf.

»Wie schnell doch zwei Stunden vergehen«, sagte er mit leichter Verwunderung in der Stimme. »Das soll aber fürs Erste genügen. Jetzt machen wir erst einmal Pause, und danach steht eine Lesephase an.«

Mit diesen Worten erhob er sich, und die anderen folgten seinem Beispiel. Als auch Mia sich regte, bemerkte sie einen gewissen Druck, der sich in ihrer Blase aufgebaut hatte. Noch war er gering, aber er würde unaufhaltsam wachsen, das war ihr klar. Und sie wusste natürlich ganz genau, dass sie niemals bis zum Abend durchhalten könnte. Dennoch stand sie auf, ohne sich etwas anmerken zu lassen, und strich rasch ihren Rock glatt.

Jonas war bereits an ihr vorbeigegangen und über die kleine Absperrung geklettert. »Komm, wir haben doch lange genug gesessen«, forderte er sie lächelnd auf, ihm zu folgen.

Mia versuchte, zurückzulächeln, und stieg ebenfalls über das Gitter. »Dürfen wir denn in der Pause den Raum verlassen?«

»Klar«, meinte Jonas, der sich bereits hingehockt hatte, um sich seine Sandalen anzuziehen, die ihren eigenen nicht unähnlich waren. »Deine Erzieherin wartet bestimmt schon auf dich. Willst du mitkommen?«

Auch Mia schlüpfte wieder in ihr Schuhwerk. »Gerne... aber lass uns noch kurz auf Anastasia warten.«

Kurz darauf traten sie zu dritt aus dem Klassenraum in die offene Vorhalle. Sie waren nicht alleine, mehr als ein Dutzend Menschen hielten sich in dem Säulengang und auf dem Innenhof auf, die meisten saßen auf den Stufen.

»Hey, hier sind wir!«

Mia drehte den Kopf nach links und sah Mariah wenige Meter von sich entfernt stehen. Sie hatte sich offenbar umgezogen, denn sie trug nun ein frisches Top und eine erdfarbene Cargohose. Neben ihr stand eine andere Frau, und Mia fiel erst auf den zweiten Blick auf, dass es nicht Angela war, weil auch die Fremde rote Haare hatte. Der Farbton war jedoch etwas weniger leuchtend als bei Angela, das Gesicht etwas rundlicher, die Haut eine Kleinigkeit dunkler und ohne Sommersprossen. Sie trug einen olivfarbenen Hoseneinteiler ohne Ärmel und, darunter, wie man an den Armen sehen konnte, ein rosafarben geblümtes Oberteil aus eng anliegendem Stoff. Es stach gegenüber dem praktischen und etwas derb wirkenden Overall deutlich hervor.

Beide Frauen trugen an breiten Riemen große Taschen um die Schultern, die ein wenig an überdimensionierte Laptoptaschen erinnerten. Mariahs war lavendelfarben, die der Fremden blau. Mit wenigen Schritten waren die beiden bei den Schülerinnen.

»Mia, das ist Svenja, die Erzieherin von Jonas«, stellte Mariah die Neue vor.

Diese winkte Mia zu und sagte: »Ich sehe, ihr habt euch schon bekannt gemacht, schön!« Dann nahm sie Jonas in den Arm.

»Angela hat heute ihren freien Vormittag«, erklärte Mariah kurz in Richtung Anastasia und Mia, »also kümmere ich mich um euch beide.«

Jonas schien Svenja etwas ins Ohr zu flüstern, woraufhin diese sich zu den anderen umdrehte. »Bleibt ihr hier in der Nähe? Wir sind sofort wieder da!«

»Klar«, gab Mariah ihrer Kollegin zurück, die sich daraufhin ohne weitere Erklärung mit ihrem Schützling an der Hand entfernte. Mariah dagegen führte ihre beiden Mädchen zu den Treppenstufen, wo sich alle drei setzten. »War es denn schön heute? Hast du dich gut eingefunden?«

»Naja, es war schon interessant, und alle waren nett zu mir«, begann Mia zögerlich, »aber bisher habe ich kaum etwas verstanden, und es ist schon alles ganz schön neu.« Ihr fiel dabei auf, dass sie ähnliche Dinge schon öfter seit ihrer Ankunft gesagt hatte. Diesmal ging es aber wenigstens um etwas ziemlich Normales, den Anfang ihres Studiums.

»Ich bin mir sicher, da wirst du schon nach und nach reinfinden«, beruhigte Mariah sie. »Hauptsache, du warst artig und hast schön aufgepasst!«

»Das hat sie«, sprang nun Anastasia ungewöhnlich forsch ihrer Mitschülerin bei. »Übrigens ist es ganz normal, wenn du noch nicht wirklich etwas verstehst,« -- das galt offenbar Mia selbst -- »man muss sich halt einarbeiten, aber das kommt mit der Zeit.«

Mariah hatte überrascht zu Anastasia gesehen, offenbar hatte auch sie nicht damit gerechnet, dass diese sich einmischen würde. »Das weiß ich doch, ich wollte Mia nur ein bisschen necken. Natürlich hat sie gut aufgepasst, davon bin ich ausgegangen!«

Mia fand das nicht so selbstverständlich, eigentlich wunderte sie sich über sich selbst. Sie hatte sich in der Klasse tatsächlich recht gut benommen, aber sie war auch die ganze Zeit unter Aufsicht gewesen. Außerdem war ihr das Thema irgendwie wichtig vorgekommen, vielleicht, weil sie es mit ihren eigenen Erlebnissen verbinden konnte.

»Ich habe uns jedenfalls einen kleinen Snack mitgebracht«, leitete nun Mariah zu etwas anderem über. Sie öffnete ein Außenfach ihrer großen Tasche und förderte eine Plastikdose, eine Isolierflasche aus Metall, einen normalen Becher und einen Trinklernbecher hervor. Zuletzt folgte eine gepolsterte Rolle, die -- nachdem Mariah einen Reißverschluss geöffnet und den Deckel aufgeklappt hatte -- ein Babyfläschchen mit einer weißen, undurchsichtigen Flüssigkeit freigab. Sehr zu Mias Erleichterung reichte ihre Erzieherin diese Flasche an Anastasia weiter.

»Mia, magst du dir und mir Tee einschenken?« fragte sie, während sie den Deckel der Dose öffnete und das kleingeschnittene Obst darin freigab. Sofort stieg Mia der süße Duft davon in die Nase.

»Gerne«, antwortete sie und hantierte an der Thermosflasche herum, um dann Tee in die beiden Becher zu füllen.

»Du kannst auch gerne schon zugreifen«, erlaubte ihr die Erzieherin.

Anastasia hatte unterdessen ihr Fläschchen geöffnet und die kleine Plastikscheibe entfernt, die es auf dem Transportweg abgedichtet hatte. Sie war gerade dabei, es wieder zuzuschrauben, als Mariah sie noch einmal ansprach: »Wenn du magst, kannst du dich auf meinen Schoß legen.« Sie benutzte dabei dieselbe sanfte Stimmlage, in der sie gestern Abend und heute Morgen auch immer wieder mit Mia gesprochen hatte, besonders, wenn diese ängstlich oder unsicher gewesen war.

Anastasia nickte dankbar, drehte sich mit dem Rücken zu Mariah und lehnte sich zurück, bis sie halb auf den Oberschenkeln und halb auf dem Unterleib der anderen Frau ruhte; ihren Kopf legte sie in Mariahs Armbeuge. Dabei ließ sie sich das Fläschchen von der Erzieherin aus der Hand nehmen und an ihren Mund führen. Sie schloss die Augen, legte die Lippen um den gelblichen Gummisauger und begann, in langsamen und gleichmäßigen Zügen zu trinken. Mia beobachtete wie hypnotisiert, wie die Wangen ihrer Mitschülerin sich in einem ruhigen Rhythmus zusammenzogen und entspannten, wie diese in regelmäßigen Abständen schluckte, wie der Flüssigkeit in der durchsichtigen Flasche langsam weniger wurde und kleine Blasen in ihr aufstiegen.

Anastasia wirkte losgelöst und glücklich, und die gesamte Szene war von einer Aura der Ruhe und Unschuld umgeben, die Mia fast den Atem verschlug. Und doch stieg ein Gefühl der Empörung in ihr auf, dass sie sich nicht recht erklären konnte. Sie selbst hätte sich niemals das Fläschchen geben lassen, und sie hatte bisher wachsam darauf geachtet, von Mariah ja nicht wie ein Kleinkind behandelt zu werden. Sie hatte nur wenige Ausnahmen akzeptiert, und umgekehrt hatte Mariah ihre Grenzen sorgfältig beachtet. Jetzt mit anzusehen, wie Anastasia genau die Art von Zuwendung genoss, die sie selbst zurückwies, war überraschend schmerzhaft.

»Hey, da sind wir wieder«, riss Jonas sie aus ihren Gedanken.

»Oh, hi«, antwortete sie und drehte sich nach ihm und Svenja um. Dankbar für die Ablenkung, sah sie dabei zu, wie sie sich setzten und Svenja einen ähnlichen Imbiss auspackte, wie Mariah ihn für sie und sich selbst mitgebracht hatte. Als alles bereitlag, begannen die beiden zu essen, und auch Mia nahm sich nun ein Stück Apfel aus der Dose, die noch immer zwischen ihr und Mariah stand.

Diese hatte unterdessen die leere Nuckelflasche aus der Hand gelegt, und bedeutete nun Anastasia, die immer noch auf ihrem Schoß lag, sich aufzurichten, indem sie sie sanft mit der einen Hand am Bauch fasste und mit der anderen unter der Schulter nach oben drückte. Das Mädchen setzte sich langsam auf und wirkte noch etwas entrückt, drehte sich aber zu den anderen.

Auch Mariah aß jetzt etwas, und für den Moment entspannte sich Mia und genoss so etwas wie ein ganz normales Picknick. Dass sie ihren Pfefferminztee aus einem Kinderbecher trank, nahm sie dabei nicht einmal mehr als peinlich war. Ihr Blick fiel einmal mehr auf Jonas' Brusttasche mit der Giraffe. Dasselbe Motiv hatte sie gestern an einer der Türen im Institut gesehen. Ob das zu bedeuten hatte, dass Jonas genauso behandelt wurde wie sie, schoss es ihr durch den Kopf.

»Wohnst du... auch im Institut?« fragte sie ihn und zeigte unsicher auf die kleine Verzierung.

»Na klar«, antwortete dieser gut gelaunt, »wir sind doch insgesamt vier Gruppen! Hast du denn bisher nur die Bienchen kennengelernt?«

»Ja, aber ich bin auch erst seit gestern hier«, gab Mia zurück.

»Aber vielleicht können unsere Gruppen bald mal etwas zusammen machen?« fragte Jonas begeistert, eher an Mariah und Svenja als an Mia gerichtet.

»Vielleicht am Wochenende«, überlegte Mariah. »Heute und morgen haben wir in der Bienchengruppe schon etwas vor, und ihr habt bestimmt auch schon Pläne gemacht.«