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Nóstimon Hêmar

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"Und Sie wünschen eine Verbindung für immer -- eine Ehe?"

"Ich wünsche mir das, aber ich weiß auch, daß so ein Wunsch nicht unbedingt in Erfüllung gehen muß. Ich weiß auch, daß man sich heute oft eine lange Zeit prüft, ob man zueinander paßt, daß man oft -- ja fast normalerweise -- erst einmal eine Ehe auf Probe führt, ohne Trauschein -- meine Tochter macht das ja auch gerade -- und mein nicht angeheirateter Schwiegersohn ist ein ganz lieber Kerl -- wir verstehen uns blendend -- also, kurz gesagt, ich bin für alles offen und für jede menschliche Nähe dankbar."

"Es soll aber auch die Intimität nicht fehlen?"

"Wir sind doch erwachsene Menschen --"

"Das sag ich sonst immer!"

"Sehen Sie! Und als erwachsene Menschen wissen wir doch, daß sich in jeder Beziehung unter erwachsenen Menschen recht bald die Frage der Intimität stellt -- und daß diese Frage meist mit ,ja` beantwortet wird. Ja: Ich wünsche mir auch nach einer angemessenen Prüfungszeit eine zarte Intimität, wie ich es ja auch in der Anzeige geschrieben habe -- nicht nur intime Zärtlichkeit -- wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Danke dafür, wie Sie mir das erklärt haben -- jetzt ist mir klar, warum Sie ,zarte Intimität` und nicht ,intime Zärtlichkeit` geschrieben haben. -- Wollen Sie mir noch etwas von Ihrer Frau erzählen -- ich sollte ja wissen, an wem ich gemessen werde."

"Ich erzähle Ihnen gern von meiner Frau -- aber ich habe nicht vor, eine etwaige Partnerin an meiner Frau zu messen -- ich weiß auch, daß alle Menschen verschieden sind -- ich bin jetzt auch verschieden von dem Waldemar Schröder vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren."

"Sie suchen also menschliche Nähe, möglichst mit einem weiblichen Wesen, das auch zu ,zarter Intimität` geneigt ist, und Sie suchen kein kurzes Abenteuer."

"So könnte man das ausdrücken. -- Ich hoffe, ich trete ihnen mit diesen Wünschen nicht zu nahe."

"Nein, das tun Sie nicht, Herr Schröder! -- Genehmigen wir uns noch ein Stück Kuchen?"

"Gern!"

"Dann bringen Sie uns noch ein Éclair", sagte ich zur Kellnerin, "und auch noch eine Crèmeschnitte -- Sie auch, Herr Schröder?"

"Ja, bitte für mich dasselbe! -- Wollen Sie nicht auch etwas mehr von sich erzählen, Frau Knaack? Was suchen Sie?"

"Ich -- ich such eigentlich auch -- wie jeder Mensch -- mein ganzes Leben lang menschliche Nähe. Und hab sie bisher auch nur selten vermissen müssen. Allerdings war ich nicht sehr stetig in meinen Beziehungen -- und ich hatte viele Beziehungen. Das ist meine Vergangenheit, daran kann ich nichts ändern. Würde Sie das stören?"

"Nein, das würde mich nicht stören!"

"Bestimmt nicht?"

"Nein, Frau Knaack: bestimmt nicht. Ich habe nicht das Recht, über Ihr Leben zu urteilen, auch dann nicht, wenn wir uns näher kennenlernen sollten -- was ich sehr hoffe. Wenn da Punkte in Ihrem Leben sein sollten, bei denen ich versucht wäre zu sagen, das hätten Sie nicht machen sollen -- dann haben Sie es sich sicher schon selber gesagt."

"Da haben Sie sicher recht."

"Wollen Sie nicht ein bißchen erzählen, was Sie damit meinen -- ,viele Beziehungen`? Sie sollen mir keine Einzelheiten erzählen -- nur ganz summarisch, wie Sie Ihre Beziehungskisten aufeinandergestapelt haben."

"Das haben Sie schön gesagt! -- Aber nur, wenn Sie dasselbe auch von sich erzählen."

"Natürlich tue ich das! Soll ich anfangen?"

"Ja -- aber ich fang schon an. Ich hab meine Beziehungskisten wirklich teilweise aufeinander gestapelt und nicht einfach nebeneinander gestellt und nacheinander aufgemacht. -- Mit zwanzig hab ich geheiratet --"

"Also praktisch von der Schulbank weg?"

"Nach dem zweiten Semester. Und sechs Jahre später begann mein unstetes Leben, als ich gemerkt hatte, daß sich mein Mann Freundinnen hält. Den ersten außerehelichen Freund hab ich selbst verführt -- aus Rache -- bei den nächsten Beziehungen hab ich nicht ,nein` gesagt, als es sich zu Intimitäten entwickelte, und allmählich wurde es zur Gewohnheit, daß ich Freunde hatte, mit denen ich fremdging --"

"Und Ihr Mann hat nichts gemerkt?"

"Ich weiß bis heute nicht, wann mein Mann etwas gemerkt hat -- geredet darüber hat er erst, als wir uns scheiden ließen, und da auch ohne Vorwürfe. Scheiden lassen haben wir uns auch nicht wegen unserer ehelichen Verfehlungen, sondern weil mein Mann nach Sachsen versetzt wurde und ich meine Stelle behalten wollte. Wir haben uns, wie man so sagt, in Freundschaft getrennt. Und danach habe ich meine Freiheit genossen, aber um genau zu sein: Es war nicht viel anders als während der letzten Jahre meiner Ehe. -- Ich hab übrigens angefangen, damit ich mir selbst darüber klar werde, wie das alles gekommen ist, Erinnerungen über mein Liebesleben aufzuschreiben. Wenn wir uns näher kennenlernen, geb ich es Ihnen mal zu lesen. -- Das war's in großen Zügen, und wie war's bei Ihnen?"

"Ach, ich hatte kein ganz so bewegtes leben -- aber ein Mönch war ich auch nicht! Ich hab mit vierundzwanzig -- im letzten Studienjahr -- geheiratet, ein Jahr darauf kam unsere Tochter. Im fünften Jahr meine Ehe hatte ich eine heftige Affäre mit einer jungen, auch verheirateten Frau -- wie das kam, kann ich auch einmal erzählen -- meine Frau hat es gemerkt und still gelitten, wie sie später sagte, in der Gewißheit, daß ich bald zurückkommen würde -- und so war es: Nach eineinhalb Monaten, nach der zweiten Zwangspause wegen der Tage meiner Freundin, haben wir uns zwar noch getroffen, aber nicht mehr intim -- die Vernunft siegt doch manchmal -- und sonst war ich manchmal auf Dienstreisen in einem Club, aber nicht sehr oft -- und auch, nachdem ich verwitwet war, hatte ich einmal gedacht, ich hätte eine passende Partnerin gefunden und eine wiederum heftige Affäre mit ihr, aber das ist dann auch auseinandergegangen --"

"Und Clubs?"

"Nachdem meine Frau gestorben ist, manchmal -- genauer gesagt: ziemlich oft -- man hat ja als Mann --"

" -- so seine Bedürfnisse. Das hab ich schon oft gehört -- aber so ist es ja auch. Da erhebt sich natürlich die Frage, wie Sie sich in unserem Alter eine Partnerschaft vorstellen -- ich könnte zum Beispiel eigentlich noch ein Kind bekommen, hab das aber eigentlich nicht mehr geplant -- es soll ja auch bei Frauen meines Alters oft zu behinderten Kindern kommen."

"Ich hab eigentlich auch nicht mehr an Kinder gedacht -- und eine Partnerschaft -- also, schwören, daß ich nie mehr das Prickeln einer, sagen wir, Kurzaffäre erleben möchte, das könnte ich nicht -- also eine gewisse Offenheit --"

"-- eine gewisse Offenheit -- männliche Bedürfnisse -- Clubbesuche -- ich, gerade ich, hab eigentlich keinen Grund, allzu sehr dagegen zu sein --"

"Ich war ja auch meiner Frau im Großen und ganzen treu -- würde ich sagen --"

"Ich auch -- jedenfalls treuer als ich."

"Und wie würden Sie sich ein Leben zusammen vorstellen?"

"Ich würde wohl auf meine alten Tage das Fremdgehen und die Zahl meiner Liebhaber sehr einschränken -- allerdings wäre da eines --"

"Und das wäre?"

"-- um was ich meinen Lebenspartner doch bitten würde: mein Jugendfreund Peter, mit dem ich bis vor meiner Heirat zusammen war -- der hat mich in den zwanzig Jahren danach noch dreimal besucht, einmal -- nein: zweimal --, als ich noch verheiratet war -- und beide Male haben haben wir schöne Tage -- und das dritte Mal auch Nächte -- zusammen verbracht. Da würde ich meinen Lebenspartner bitten, zu gestatten, daß ich bei zukünftigen Besuchen auch wieder einige Nächte mit ihm verbringen darf --"

"Sie haben aber Wünsche --"

"Ist das so ungewöhnlich? Ich will auch in einer neuen Partnerschaft nicht mit meinem ganzen Vorleben brechen! -- Und wie ist es bei Ihnen mit Jugendfreundschaften?"

"Ja, da ist meine erste große Liebe -- noch aus der Schulzeit -- gerade als wir --"

"-- als Sie sich nähergekommen sind?"

"Ja", antwortet Herr Schröder kaum hörbar.

"Haben Sie mal versucht, mit der Dame wieder Kontakt aufzunehmen?"

"Nein, das hab ich nie."

"Dann suchen Sie sie doch mal, zum Beispiel im Internet. Auch ich hab da noch einem Jugendfreund, mit dem es auch nichts geworden ist -- den müßte ich auch mal wieder ausfindig machen. Das sind doch unsere schönsten Erinnerungen!"

"Sie würden mir also erlauben, wieder Kontakt mit Conny -- so heißt meine Jugendfreundin -- aufzunehmen?"

"Wenn Sie mir erlauben, wieder Kontakt mit Rolf aufzunehmen, mit Peter auch -- ich sagte es ja schon."

"Natürlich -- Sie sind sehr großzügig."

"Das muß man doch -- wir waren uns doch einig: Wir sind doch erwachsene Menschen -- und so auseinandergegangene Jugendlieben -- das beschäftigt einen doch das ganze Leben -- das kenne ich doch auch. -- Und nun, glaube ich, haben wir erst einmal genug über die ,zarte Intimität` geredet, kommen wir mal zur Musik. Ich hab da einen Vorschlag: Treffen wir uns nicht am Freitag in der Wellingsbütteler Kirche, da wird die Kunst der Fuge gespielt mit verschiedenen Besetzungen -- hätten Sie Lust?"

"Ja, das ist eine gute Idee! Und ich muß Ihnen noch einmal sehr für Ihre Offenheit danken --"

"Ich Ihnen auch, Herr Schröder -- und da ist noch etwas, was ich Ihnen gleich sagen sollte -- vielleicht ist es dann ja auch gleich wieder aus zwischen uns."

"Und was sollte das sein, Frau Knaack?"

"Ich habe das eigentlich nie so am Anfang einer Bekanntschaft gesagt, aber das letzte Mal bin ich damit böse reingefallen. Also: Ich hatte nicht nur recht viele Liebhaber, sondern hab auch einmal fast fünf Monate in einer Sauna gearbeitet."

"Als Animierdame -- oder --"

"Genau: Es war ein als Saunaclub getarnter Edelpuff -- wirklich edel -- und ich war in diesen fünf Monaten für drei Tage in der Woche eine der Mädchen, die die Kunden sich aussuchen konnten."

"Haben Sie das aus Not getan?"

"Nicht eigentlich -- ich bin für meine Cousine eingesprungen, die sich den Fuß gebrochen hatte und ihrerseits das aus Not machte -- und, ehrlich gesagt, ich war auch etwas neugierig -- meinen Freunden mußte ich ja jedes Wort über das Gewerbe einzeln aus der Nase ziehen."

"Und fühlten Sie sich da nicht als Sexobjekt mißbraucht?"

"Ein bißchen schon, aber ich glaube, ich habe keine dauerhaften Schäden davongetragen, weder psychisch noch physisch. Schlimmer war das mit dem Nur-Objekt-Sein bei einem Segeltörn, an dem ich nach der Sauna teilgenommen habe -- eigentlich eine vierzehntägige Dauerorgie mit vier Männern und fünf Frauen -- ich hatte mir das so dauergeil nicht vorgestellt und mitgemacht, weil ich nach der Sauna auf einen Segelurlaub hoffte. Ist es aber nicht so, Herr Schröder, daß wir Frauen in unserer Gesellschaft in fast jeder kurzen oder langen Beziehung auch Sexobjekt sind -- mal sind wir Subjekt, sehr oft sind wir Objekt, auch in einer guten Partnerschaft -- wer will das auseinanderhalten -- ich kann damit leben."

"Und ich kann stolz sein, wenn wir zueinander finden, daß Sie mich unter Ihren vielen Liebhabern und ich weiß nicht wievielen Saunakunden als Partner wählen -- wenn --"

"Ich finde das schön, wie Sie mir das sagen -- so schön hat mir das noch kein Freund nach meiner Saunazeit gesagt, auch Peter nicht. -- Wollen wir nicht noch das Glas Samos bestellen?"

"Ja, tun wir das!"

Als der Samos serviert worden war, stieß ich mit Herrn Schröder an und sagte:

"Auf unsere Freundschaft!"

"-- unsere Freundschaft?"

"Ja, Herr Schröder: Wir haben hier und heute den ersten Tag einer Freundschaft erlebt -- wir sind doch keine Feinde, oder? Und es sieht mir nicht so aus, als ob dies der einzige solche Tag bleiben würde -- zumindest zu einem zweiten haben wir uns ja schon verabredet -- nächstens in Wellingsbüttel bei der Kunst der Fuge!"

Nachdem wir den Wein ausgetrunken hatten, verabschiedeten wir uns züchtig und wünschten uns alles Gute bis Wellingsbüttel.

Zu Hause angekommen rief ich gleich Trudi an. Ich erzähle lieber dann, wenn mir danach ist, als daß ich ausgefragt werde.

"Wie war es? Wie war er?", fragte Trudi gleich.

"Es ist ein sympathischer Herr von neunundvierzig Jahren, wie ich richtig geschätzt habe, und wir haben uns in großen Zügen unser Leben erzählt."

"Auch Intimes?"

"Andeutungsweise -- das heißt doch ziemlich ausführlich -- ich hab auch die Sauna erwähnt --"

"Bist du wahnsinnig? Glaubst du, der Bach-Freund will mit einer Sauna-Dame anbandeln?"

"Dieser Bach-Freund hat mir diesen Teil meines Vorlebens mit noch netteren Worten verziehen als zum Beispiel Peter. Ich wollte nicht wieder so was erleben wie mit Martin -- darum hab ich mir vorgenommen, das allen etwaigen Freunden schon gleich am Anfang zu sagen."

"Na, ich weiß nicht -- aber wenn es diesmal gutgegangen ist. Habt ihr euch wieder verabredet?"

"Ja, Freitag in der Wellingsbütteler Kirche bei der Kunst der Fuge."

"Willst du nicht noch ein wenig zu mir kommen, dann können wir noch etwas weiterschnacken?"

"Nein, laß mal heute, ich will nach diesem Treffen etwas allein sein -- ein andermal!"

"Es ist nämlich wieder --"

"Na, was denn, Trudi?"

"Bernd ist noch nicht zurück -- ich glaub, er hat wieder was mit einem seiner Modelle."

"Das kennen wir doch bei ihm -- und er ist doch immer wieder zu dir zurückgekommen -- er ist doch noch nie eine ganze Nacht weggeblieben?"

"Nein, das ist er nie."

"Na, dann wird er auch an diesem Abend nach Hause kommen -- siehst du -- hörst du -- ich höre es ja bis hier -- da geht die Tür bei dir! -- Also dann: tschüs!"

Die zwei Tage bis Freitag waren wieder einmal von der Art, wo ich mich nur mühsam auf meinen Dienst und das allernötigste Einkaufen konzentrieren konnte. Eine Einladung von meiner Mutter zu einem Kaffee mit Tante Klara konnte ich abwimmeln. Am Freitag kam ich gerade noch rechtzeitig zu dem Konzert und sah gleich: kein weißer Mercedes auf dem Parkplatz. Hatte mich Herr Schröder schon bei der zweiten Verabredung hängen lassen?

Nein, er hatte nicht! Er wartete hinter dem Eingang auf mich, und während wir einen Platz suchten und uns setzten, erklärte er mir:

"Ich bin heute mit meinen kleinen Auto hier, der große ist ein Firmenwagen, den ich auch privat nutzen darf, aber deswegen muß ich jeden Kilometer aufschreiben -- nicht gerade ,Treffen mit Frau Knaack`, aber trotzdem. Außerdem ist der kleine leichter zu parken."

Bei den letzten Worten begann schon die Musik, eine Aufführung der Kunst der Fuge mit verschiedenen Instrumenten und Gruppierungen: Cembalo oder Orgel solo, Streichquartett, auch einige Fugen gemischt mit Cembalo und Orgel, je zwei Stimmen auf jedem Instrument. Wie immer, wenn ich gute Musik höre, besonders Bach, kamen mir die Tränen, vor allem im Choral "Wenn wir in höchsten Nöten sein", der meist nach der unvollendeten letzten Fuge gespielt wird, obwohl er eigentlich nicht zur Kunst der Fuge gehört. Beim zweiten Mal, als Herr Schröder das merkte, nahm er zart meine Hand in seine.

Nach dem Konzert fragte Herr Schröder:

"Setzen wir uns noch etwas zusammen, zum Beispiel bei Remmel?"

"Ja, sehr schön -- Sie wissen, wo das ist?"

"Ja, natürlich! Wir treffen uns dann gleich da auf dem Parkplatz."

Bei Remmel bestellten wir uns etwas Leichtes zum Essen und sprachen über das Konzert. Uns beiden hatte die Kombination des Cembalos mit der Orgel nicht gut gefallen, denn die Orgel übertönte das Cembalo völlig, so daß man eigentlich nur zwei Stimmen hörte: den Alt und den Baß, was ja dann sehr unvollständig klingt.

"Ihnen geht diese Musik sehr nahe", fragte Herr Schröder schließlich.

"Ja, seit ich zum ersten Mal den Klavierauszug der Kunst der Fuge entziffert habe, kommen mir bei diesem letzten Werk noch immer die Tränen. Und da ist noch etwas: Als mein Vater gestorben ist, hab ich mich mit unserem Pastor gestritten: Ich wollte unbedingt, daß dieser letzte Choral gesungen wird, und zwar mit dem anderen Text: "Vor deinen Thron tret ich hiermit", aber der Pastor sagte, das gehe nicht, das Lied stehe nicht mehr im Gesangbuch. Ich hab mich aber durchgesetzt, hatte auch den Organisten auf meiner Seite, und so haben wir auf der Beerdigung dieses Lied gesungen, und der Organist hat dieses Choralvorspiel gespielt. Es paßt ja auch hierher, denn Bach hat es auch in seinen letzten Tagen komponiert."

"Das ist eine schöne Idee, auf die Sie da gekommen sind -- darauf hätte ich bei der Beerdigung meiner Frau auch kommen können."

"Haben Sie in jedem Fall Dank, daß Sie mir die Hand gehalten haben", und ich fuhr in dieser weichen Stimmung fort: "Sie sind zwar der etwas ältere, aber ich bin eine Frau -- wollen wir uns nicht über Bachs letztem Choral duzen?"

"Das würde mich sehr freuen, Frau Knaack -- Melanie -- vielen, vielen Dank --"

"Im Sinne von menschlicher Nähe, wie Du sagtest! Mit was wollen wir anstoßen?"

"Das ist doch eine heidnische Sitte und paßt jetzt nicht hierher. Ich meine, wir als ,erwachsene Menschen` können uns doch auch ohne Alkohol duzen."

"Aber mir wäre es jetzt nach einem Gläschen, sagen wir Kaiserstühler -- machst du nicht mit?"

"Mit einem Gläschen, ja!", sagte Waldemar und bestellte uns die Gläser Ihringer.

"Ich muß Dir übrigens bei dieser Gelegenheit beichten: Ich hab mich mit falschem Namen vorgestellt: Ich heiße gar nicht Melanie, sondern eigentlich Kerstin -- aber seit meinen Schülerinnentagen, seit wir das Wort ,melas` ,schwarz` gelernt haben, nennen mich alle Melanie außer meiner Mutter, wenn es ernst wird."

"So was gibt es doch in jeder Familie: Ich hab einen Vetter, der heißt Peter, wird aber, seit ich denken kann, Jens genannt -- ich glaube, niemand weiß mehr warum!"

Nachdem wir auf das "Du" angestoßen hatten, fragte ich Waldemar:

"Wie hast du eigentlich deine Frau verloren, oder willst du nicht darüber sprechen?"

"Durch einen Unfall. Sie ist unachtsam auf die Straße getreten, und der Audifahrer hat beim Abbiegen nicht auf sie geachtet und sie so unglücklich angefahren, daß sie noch am Abend an inneren Blutungen gestorben ist."

"Konntest du noch mit ihr sprechen?"

"Ja und nein. Sie war bei Bewußtsein und eigentlich auch in guter Stimmung, aber sehr schwach -- ich hab nicht alles verstanden, was sie gesagt hat, aber unter anderem das: ,Es wird schon wieder!`"

Jetzt kamen Waldemar die Tränen. Ich nahm seine Hand und sagte:

"Du mußt nicht weiter reden. Wir können ja auch ein andermal mehr über deine Frau sprechen."

Wir tranken schweigend unseren Wein, und schließlich fragte Waldemar:

"Und wo gehen wir das nächste Mal hin?"

"Ich schlage vor: Am Sonntag ist in der katholischen Kirche auf Sankt Georg ein Bach-Orgelkonzert."

"Und ich weiß, daß in Jork im Alten Land ein Kirchenkonzert mit verschiedenen alten und moderneren Komponisten gegeben wird. Ich schlage vor: Bei gutem Wetter Jork, bei schlechtem Sankt Georg! In Jork können wir auch davor oder danach unter den Obstbäumen spazieren."

"Okay, Waldemar -- telephonieren wir vorher?"

"Ja, aber sollen wir uns nicht vorher treffen und mit nur einem Auto fahren?"

"Ich weiß nicht, ob das klappt, ich müßte zum Mittagessen meine Mutter besuchen, und ich weiß nicht, wie lange das dauert. Ich geb dir ihre Nummer, dann kannst du auch da anrufen, und wir können das Weitere besprechen."

Eigentlich war das aber eine Notlüge. Ich hätte wirklich mit meiner Mutter zu Mittag essen sollen, aber ich wollte es in diesem frühen Zustand meiner Beziehung zu Waldemar nicht provozieren, daß einer den anderen nach Hause fährt und es dann schon nach weniger als einer Woche zu einem Wohnungsbesuch kommt. Wie bei allen meinen wichtigen Beziehungen, wie zum Beispiel mit Dieter, zögerte ich die Schritte des Kennenlernens eher hinaus. Ich hätte mich, gleich nachdem ich das Waldemar gesagt hatte, dafür ohrfeigen mögen.

Aber so trafen wir uns am Sonntag nachmittag an der Jorker Kirche, denn es war strahlendes Wetter. Das Konzert war nicht sehr doll, viel schöner der Spaziergang danach. Wir gingen auf dem weichen Gras unter den Obstbäumen einer Bauernfamilie, die ich kannte und von der ich immer wieder Obst kaufte, ich hatte ein luftiges Sommerkleid an, Waldemar einen eleganten hellen Anzug, und nach gar nicht langer Zeit fanden sich unsere Hände, und wir gingen händchenhaltend weiter. Wir sprachen wieder über unser Vorleben, und irgendwann sagte Waldemar:

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