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Thao II - Teil 01

Geschichte Info
Thao geht es nicht gut...
22.9k Wörter
4.71
11k
1

Teil 28 der 48 teiligen Serie

Aktualisiert 06/09/2023
Erstellt 09/23/2019
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Auf der Straße

„Hey, haste mal ne Kippe?"

Die Punkerin nickte, griff in ihre Lederjacke und reichte dem jungen Straßenschläfer ihre angebrochene Zigarettenschachtel.

Weit entfernt, hinter den Docks, hörte man das dumpf dröhnende Horn eines Schiffes.

„Feuer?"

Das Mädchen grinste, kramte in ihren Taschen und blickte auf den zerlumpten jungen Mann hinab, der vor ihr, ausgestreckt auf ein paar Zeitungen, bis vor Kurzem noch fest geschlafen hatte. Heute Nacht würde es empfindlich kalt werden, die Temperatur wahrscheinlich sogar unter den Gefrierpunkt fallen.

„Pennst hier aber nicht, oder? Am Hafen unten ist gestern einer erfroren."

„Woher weißte das denn?"

Das Mädchen deutete in eine Richtung.

„Caritas, die Schwester Petra von der Küche hat es mir erzählt. Kennst die? Wie heißt denn überhaupt?"

„Dimitri. Du?"

Das Punkermädchen lachte.

„Nenn mich Jule."

Der Junge sah misstrauisch zu ihr auf, die Tusse kam ihm nicht ganz koscher vor.

„Legst dich zu mir? Ich hätte es dann ein wenig wärmer."

„Stinkst du sehr?"

Der Junge roch an sich.

„Nee, es geht."

„Aber nur kurz zum Aufwärmen, okay? Und lass deine Griffel bei dir, sonst richte ich dir deine Kauleiste aus."

Er nickte, das Mädel schien es ernst zu meinen.

„Besteck haste nicht irgendwo, oder?"

„Hey! Sehe ich aus wie ein Junkie?"

Das Mädchen besah sich den Typen genauer. Tatsächlich konnte sie keine Anzeichen feststellen, die darauf hingedeutet hätten.

Sie schloss den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis oben, zog das dicke, schwarze Stofftuch um ihren Hals fester und drückte ihren Hut tiefer ins Gesicht.

„Komm schon her. Du zitterst ja."

Tatsächlich fror der junge Obdachlose, außer einem löchrigen Schlafsack, der kaum noch Futter in sich trug, hatte er nichts, womit er sich vor der Kälte schützen konnte.

Sie schob ihren Arm unter seinen Kopf und drückte ihren Körper an den seinen. Der erste große Schritt war getan.

„Wo sind deine Freunde? Hängst doch nicht allein hier ab, oder?"

Dimitri runzelte die Stirn, nahm einen Zug aus der Zigarette und drückte sich fester an ihren Körper. Er spürte den Druck ihrer Brüste durch ihre Jacke hindurch, doch hatte er, neben ihrer Drohung, noch ganz andere Sorgen im Kopf. Vor allem hatte er nichts zu essen und auch keine Idee, wo er sich etwas Essbares beschaffen konnte.

„Wo schläfst du?"

Die Punkerin blickte auf ihn herunter.

„Drüben im Heim, zumindest die nächsten Tage. Wenn es wärmer wird, bin ich wieder draußen."

„Die klauen mir da alles. Und schlagen tun sie da einen auch."

Die Punkerin wusste genau, was er meinte.

„Besser das, als hier draußen in der Kälte zu krepieren."

„Wie viele sind denn in deiner Bude?"

„Gestern waren es vier. Heute weiß ich es nicht, war noch nicht da."

„Gibt's Essen?"

Die Punkerin schien genervt.

„Kannst mal den Rand halten? Sonst häng ich woanders ab."

„Hey, sorry", lenkte er ein.

Sie schwiegen und bewegten sich nicht, nur der Dampf ihres Atems stieg über ihnen auf und wurde vom Wind verweht.

„Was wolltest du eigentlich hier?"

„Ich habe einen Kumpel gesucht, ihn aber nicht gefunden. Er hat mir gesagt, dass er jemanden kennt, der eine Adresse hat. Vielleicht wäre es was gewesen."

Dimitri schwieg, hinter den Containern auf dem großen Parkplatz wurde ein Motor angelassen.

„Woher kommst du?"

Dimirti schien die Frage nicht zu kapieren.

„Na, von hier. Leb schon drei Jahre auf der Straße."

Sie stieß mit ihrer, von einem Halbhandschuh bedeckten, flachen Hand gegen seine dreckige Stirn.

„Ursprünglich. Hör doch an deinem Akzent, dass du Russe bist."

„Warum interessiert Dich das alles, verdammt?"

Die Punkerin grinste.

„Na ich bin ein Weib und will mir genau angucken, mit wem ich die Zeitung teile."

Dimitri lachte, verschluckte sich und hustete ab.

Das Mädchen aber wurde sofort blass im Gesicht.

„Geht's Dir nicht gut?"

„Ach Scheiße, nur verschluckt."

„Meine Eltern sind aus Odessa gekommen, irgendwann hab ich´s daheim nicht mehr ausgehalten. Mein Vater kommt hier in Deutschland nicht klar und trinkt noch mehr als früher. Und wenn es besonders schlimm ist, haut er meiner Mutter wieder nen Zahn aus. Dabei hat sie kaum noch welche."

Als er lachte, fiel dem Mädchen auf, dass ihm selbst zwei Backenzähne fehlten.

„Und du?"

„Ach Scheiße, mein Stecher hat mich für eine andere entsorgt. Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll."

Für Dimitri schien die Lösung einfach.

„Suchst dir halt einen Neuen, ich wäre frei."

Das Mädchen ließ wieder ihre Hand auf seine Stirn klatschen.

„Solch ein Spaken? Nee, das lasse ich mal lieber."

Dimitri war kein hässlicher Junge, doch das Leben auf der Straße hatte ihn schon deutlich gezeichnet.

„Wollen wir uns was zu trinken holen? Ich habe vorhin vierzig Cent geschnorrt, mit deinen Pfandflaschen könnte es gehen."

„Nee, ich hab Hunger. Ich gehe rüber in die Einrichtung. Kannst ja hier bleiben und erfrieren, mir macht das keinen Spaß mehr."

Sie erhob sich mühselig und zog dabei den verdreckten Schlafsack von sich runter.

„Vielleicht bis irgendwann mal", meinte sie im Aufstehen. Sie winkte ihm zu und griff nach der Plastiktüte mit dem Leergut.

„Hey! Warte doch mal! Meinst, die haben noch einen Platz?"

Thao hob ihre Schultern.

„Wenn es hart kommt, pennst eben bei jemand anderem im Bett."

Er grinste breit.

„Nee! Nicht in meinem."

Sie lachte.

„Kennst dich doch aus, gemischtes Mett gibt es da nicht."

Sie ging einfach los, wohl wissend, dass er längst angebissen hatte.

„Jule! Fuck, Du blöde Kuh. Bleib stehen! Ich komm mit."

Er raffte seine Sachen zusammen und stopfte sie in einem großen, blauen Plastiksack.

„Das muss ich irgendwo verstecken. Hast eine Idee?"

Thao blickte sich suchend um, unterbreitete mehrere Vorschläge, doch kein Platz war Dimitri sicher genug.

Schließlich wurde es der Punkerin zu blöd.

„Nimm es mit! Ich kenne jemanden, der hebt es für dich auf."

„Wen kennst du dort?" Der Junge wurde sofort wieder misstrauisch.

„Ach Scheiße, ich gehe jetzt. Du gehst mir echt am Arsch vorbei, Du Idiot!"

Feierabend

„Wie war es, Thao?"

Die Punkerin stellte ihre Tasche auf den Ablagetisch und ließ sich in den Bürostuhl fallen. Sie schien ziemlich mitgenommen zu sein.

Herbert arbeitete schon seit siebzehn Jahren als Streetworker bei der Stadt, eine Kollegin wie Thao hatte er dabei allerdings nie kennengelernt. Sie war erst letztes Jahr zu ihnen gestoßen, besaß einen summa cum laude Abschluss in Psychologie und hätte sicher viele, für sie erfolgversprechendere Wege einschlagen können, als den einer Sozialarbeiterin.

„Vier habe ich in die Unterbringung bekommen, drei andere wollten partout nicht. Ich habe ihre Liegeplätze eingezeichnet. Vielleicht können Rike und Tarik nach ihnen sehen?"

Herbert nickte, blickte der jungen Frau ins Gesicht, die sich durch nichts von ihrer Klientel zu unterscheiden schien. Zerlumpte Klamotten, die verschlissene Lederjacke, kniehohe Schnürstiefel mit roten Schnürsenkeln, das so gothiclike geschminkte Gesicht. Sie war hübsch, hatte üppige Proportionen und ein lebhaftes, rastloses Temperament, ständig in Bewegung, immer am Arbeiten, sich unentwegt um ihre Jungs und Mädchen sorgend. Ungeachtet dessen, ob diese nun zwanzig Jahre älter oder fünf Jahre jünger als sie selbst waren, nahm sie sich all dieser Menschen aufopferungsvoll an.

Herbert erinnerte sich an seinen eigenen Werdegang. Man stumpfte mit der Zeit ab, gewöhnte sich an die zum Teil schrecklichen Schicksale und fühlte sich irgendwann nicht mehr interessiert. Man konnte nur hoffen, dass Thao ihr Engagement so lange wie möglich durchhalten würde.

„Rufst Du Wenzel an? Ich habe bei ihm im Schuppen einen blauen Müllsack untergestellt. Er soll ihn bitte nicht wegschmeißen, okay? Wenn er nicht mehr dort steht, hat ihn jemand für mich abgeholt."

Herbert griff nach dem Telefon, wählte aber noch nicht die Durchwahl.

„Thao!"

Das Punkermädchen sah fragend zu ihm auf, sie hatte gerade nach einem Berichtsprotokoll gegriffen.

„Morgen! Du hast jetzt Feierabend."

Sie wollte etwas erwidern, doch Herbert schüttelte den Kopf und blickte demonstrativ zur Tür.

„Morgen."

Thao nickte, stand auf und griff nach ihren Sachen. Vielleicht hatte er recht, sie war wirklich kaputt.

„Okay. Wenn was sein sollte, rufst mich an, ja?!"

Herbert versprach es ihr.

„Wird aber nichts sein. Komm gut nach Hause, min Deern."

Thao drückte sich noch ein wenig im Büro herum, dann nahm sie die Hintertür nach draußen zum Hinterhof. Auf dem kleinen Parkplatz stand die einzige größere Anschaffung, die sie sich in den letzten Jahren gegönnt hatte, ein kleiner schwarzer VW Lupo, der für sie ein großes Stück Freiheit bedeutete.

Sie stellte erleichtert fest, dass die Nähe zum Gebäude eine Vereisung der Scheiben verhindert hatte, entriegelte mit der Fernbedienung die Türen und setzte sich hinters Steuer. Die ersten Flocken schwebten auf die Frontscheibe, wenige Augenblicke später setzte richtiger Schneefall ein. Ihre Gedanken schweiften kurz zu Dimitri. Auch dieser Junge würde jetzt froh sein, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Für den Weg von der Innenstadt zu ihr nach Hause würde sie etwa zwanzig Minuten benötigen, wie immer zu dieser Tageszeit, wo die Brücken noch nicht vom Berufsverkehr verstopft waren. Thao versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Zwar fuhr sie jetzt schon einige Zeit mit dem Auto, doch in besonderen Situationen, wie eben bei Schneefall oder Straßenglätte, bekam sie es mit der Angst zu tun und wurde übervorsichtig. Wild hupend und gestikulierend überholten sie andere Verkehrsteilnehmer, doch der Punkerin war dies völlig egal, vielmehr zog sie ihren linken Mittelfinger blank und hielt ihn für alle sichtbar vor ihr Gesicht. Eine halbe Stunde später parkte sie direkt vor einem kleinen, dreistöckigen Plattenbau, in dem sechs Mietparteien ihr Zuhause gefunden hatten.

„Aneliese!?"

Sie klopfte gegen die erste Tür im Erdgeschoß auf der rechten Seite. Hundegebell wurde laut, das mühelos die leise Popmusik übertönte, die durch die Wohnungstür drang. Es ging in lautes Winseln über, dann bellte das Tier wieder.

Thao stieg die Treppe weiter hinauf, bis sie endlich im zweiten Stock vor ihrer Wohnungstür angekommen war.

„Nguyen."

Das Türschild schien sie immer wieder aufs Neue zu verhöhnen und konfrontierte sie mit dem Verlust, den sie vor einem Jahr hatte erleiden müssen. Wieder einmal.

Sie zögerte kurz, dann drehte sie den Schlüssel im Schloss. Irgendwann würde sie darüber hinwegkommen, es ging ihr ja schon besser damit, als noch vor einigen Monaten.

„THAO!"

Das Punkermädchen ging zurück in den Hausflur und blickte über das Stiegengeländer in die Tiefe.

„Ja! Bin wieder da."

Ein Frauenkopf mit pechschwarzen Haaren und dunkler Hautfarbe tauchte unten auf. Aneliese, die Tochter ihres Vermieters.

„Soll ich rauf kommen?"

Thao war nicht gerne allein, Aneliese war sich dessen bewusst.

„Klar! Frag mich eh, wo du bleibst."

Sie hörte die Schritte ihrer Freundin im Treppenhaus widerhallen, ging in die Wohnung und hängte ihre Tasche an der kleinen Garderobe auf. Diese Kleiderablage war eines der wenigen Dinge, die sie an ihrem alten Platz belassen hatte. Sie blickte sich in der Wohnung um. Egal, wie oft sie noch umräumte, helfen würde es ihr nicht. Er war noch da, überall!

Ein kleiner Hund tapste schwanzwedelnd in die Wohnung, sprang an Thaos Beinen hoch und bellte freudig. Die Punkerin ging in die Knie, streichelte dem Hündchen über den Rücken, nahm es auf den Arm und drückte es an sich.

„Hey, Ashna! Geht es Dir gut, mein Freund?"

Thao lachte und hatte sichtlich Mühe, der flinken Hundezunge mit ihrem Gesicht zu entkommen.

„Und ich? Was ist mit mir?"

Das Punkermädchen umarmte die kleine, untersetzte Freundin mit der viel zu breiten Hüfte und den übergroßen Brüsten. Sie wirkte ein wenig wie eine Mutter-Erde-Figur, ein Vergleich, für den Thao sich schämte.

„Ich gehe duschen, im Kühlschrank habe ich dir was von dem Eis übriggelassen, dass du so magst."

Aneliese schien mit sich zu kämpfen. Zwar war sie nicht dick, wirkte aber eben auch nicht wirklich schlank. Dadurch, dass sie nur einen Meter fünfzig maß und relativ breit gebaut war, wurde dieser Eindruck noch verstärkt. Sie grämte sich oft wegen ihrem Äußeren, fand ihre Hautfarbe schmutzig im Vergleich zu jener der Deutschen und konnte ihre kleine, gedrungene Figur auf den Tod nicht ausstehen.

„Wie war´s auf der Arbeit?"

Thao hatte die Badezimmertür offengelassen, sie hatte nie ein Problem mit ihrer Nacktheit gehabt und Aneliese oft damit konfrontiert. Sie konnte sich noch gut an das erste Mal erinnern, wo die junge Inderin, fassungslos ob ihres Anblickes, beinahe in Ohnmacht gefallen wäre.

„Ich habe ein paar Straßenschläfer dazu überreden können, in die Unterkunft zu gehen. Nach den anderen sieht die Nachtschicht. Ich hoffe, es erwischt keinen. Es soll heute Nacht minus zehn Grad kalt werden."

Thao genoss den warmen Regen in ihrem Gesicht. Die Wohnung war nicht wirklich gut geheizt, umso mehr nahm sie die Wärme jetzt gefangen. Sie hatte früher mit ihm oft unter der Dusche gestanden, seinen Körper gefühlt, seinen Worten gelauscht. Ihr wurde immer noch flau im Magen, wenn sie an ihn dachte oder an ihn erinnert wurde. Der Schmerz immer noch gegenwärtig.

„Soll ich dir etwas übrig lassen?"

„Nee! Passt schon. Was war bei dir heut los?"

Thao schloss ihre Augen. Hoffentlich wusste die Freundin etwas zu erzählen.

„Ich? War bei Tarik und habe ihm geholfen, seine Bude zu streichen. Scheiße sahen die Wände aus. Der Vormieter hat dreißig Jahre lang darin geraucht. Das war gar kein eidottergelb. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, da hat er aus dem Baumarkt Feinstaubmasken geholt. Wenigstens war alles tapeziert, sonst hätte man noch den Putz herunterschlagen müssen. Die Bude ist die reinste Gifthöhle gewesen, sage ich Dir."

Thao stieg aus der Kabine, sie fröstelte. Mit kräftigen, schnellen Bewegungen rieb sie ihren Körper mit einem Handtuch trocken und hängte es dann, feucht, über den Wäschehalter.

„Finde ich cool, dass Du ihm geholfen hast. Kann immer noch nicht verstehen, was der an dieser schrägen Fotze findet. Die ist egoistisch, eingebildet und eitel ohne Ende. Die hätte keinen Finger für ihren „Freund" krumm gemacht heute."

Aneliese stimmte ihr zu. Tarik war ihre heimliche Liebe. Doch sie war von ihrem Vater versprochen worden und wartete darauf, im nächsten Jahr verheiratet zu werden.

„So schlimm ist sie nun auch nicht. Gönne ihm doch sein Glück. Sie ist halt hübsch und er liebt sie sehr."

„Hübsch? Scheißdreck, wie lange zählt so etwas? In einer Beziehung kann man sich nichts davon kaufen und irgendwann sieht man das nicht mehr. Was übrig bleibt, sind der Charakter und die Persönlichkeit, mehr nicht. Und davon hat diese Kuh nicht viel."

Aneliese beobachtete die Punkerin, die nackt aus dem Badezimmer gelaufen kam und im Schlafzimmer verschwand. Es ging ihr nach wie vor nicht gut. Vielleicht sollte sie sich wirklich eine neue Wohnung nehmen? Eine, die nicht voller Erinnerungen an ihren Ex-Freund steckte?

„Du hast nur zwei Schubladen in deinem Schrank, zumindest, wenn es dich persönlich betrifft. Menschen, mit denen du dich verstehst, und Menschen, die du nicht magst, dazwischen gibt es bei dir nichts. Nur schwarz und weiß."

Thao lugte hinter der Tür hervor und sah Aneliese fragend an.

„Und? Was ist daran falsch? Ich mag mich einfach nicht mit irgendwelchen Leuten umgeben, die Wischiwaschi sind. Ich möchte schon wissen, woran ich bin."

Aneliese zeigte sich nicht einverstanden.

„Thao! Du bist Psychologin! Du müsstest doch längst kapiert haben, dass es so einfach nicht gehen kann. So etwas geht selbst über Jahre nicht, das weißt du doch selbst."

Das Punkermädchen legte sich einen BH um und zog ein schwarzes Top darüber. Sie wirkte jetzt wesentlich eleganter und gepflegter, als in ihren Arbeitsklamotten.

„Du meinst jetzt Karl, richtig?"

Aneliese schüttelte den Kopf. Sie war ganz froh gewesen, dass das Gespräch nicht sofort diese Richtung genommen hatte. Dabei war Thao noch ständig in Gedanken bei ihrer großen Liebe. Sie konnte die Freundin verstehen, Karl war wirklich ein lieber Mensch, klug, nicht hässlich, einfach eine gute Partie. Man hatte sich mit ihm über alles unterhalten können, ohne Einschränkung, selbst über Dinge, die er verurteilte und nicht verstand. Ihre Zwangsverheiratung zum Beispiel.

„Warum hat er mich verlassen, Aneliese?"

Thao kam aus dem Schlafzimmer, die Augen voller Tränen. Diese Ausbrüche waren weniger geworden, aber sie überkamen das Punkermädchen immer noch in regelmäßigen Abständen.

„Weil du dich geirrt hast, Thao. Darüber haben wir schon so oft gesprochen. Ihr habt einfach nicht so gut zusammengepasst, wie du geglaubt und gehofft hast."

Thao blickte die Tochter ihres Vermieters an und biss sich dabei auf ihre Unterlippe. Es fiel ihr so schwer, Aneliese recht zu geben. Sie hatten doch eigentlich alles gehabt. Gemeinsame Interessen, ein ausgeprägtes Sexualleben, Freunde, Hobbys ... Sie traute sich nicht, an die zwei Buchstaben zu denken.

„Wenn ich aufgehört hätte, meinst du, er wäre dann bei mir geblieben?"

Aneliese verneinte bestimmt.

„Vielleicht wäre ihm seine Entscheidung nur schwerer gefallen, Thao. Du bist nur dir selbst und deiner Persönlichkeit treu geblieben. Um so zu werden, wie Karl sich dich gewünscht hat, hättest du dich zum großen Teil selbst aufgeben müssen. Und dafür bist du einfach nicht der Mensch."

„Weißt du, hätte ich Ella damals nicht mitgebracht, dann wären wir jetzt noch zusammen."

Aneliese war sich dessen nicht sicher.

„Das kannst du nicht wissen, Thao. Eure Defizite hatten mit Ella nichts zu tun, die bestanden auch so."

Thao und Aneliese hatten schon hunderte Male darüber gesprochen, ihre Beziehung zu Karl auseinandergenommen, wieder zusammengesetzt, um sie gleich darauf, unter einem anderen Gesichtspunkt, wieder zu zerreden.

Karl hatte sich einfach verändert. Je länger er studiert hatte, je näher er seinem Ziel gekommen war, desto mehr war ihm Thao zur Last geworden. Sie war einfach nicht damit klargekommen, dass er zusehends reifer geworden war, andere Interessen entwickelt, sich mit Kommilitonen und Leuten vom Lehrstuhl getroffen hatte, die bei ihr nur Ekel und Abscheu ausgelöst hatten. Er schien in ihrem Beisein zum Spießer geworden zu sein, ohne dass sie diese Entwicklung hätte aufhalten können und das Schlimmste für sie war gewesen, dass sie ihm immer mehr zur Last geworden war und dies auch gespürt hatte.

Hatte sie deshalb Ella mitgebracht? Hatte sie ihm zu beweisen versucht, dass auch sie Freunde hatte, mit denen man sich normal unterhalten konnte? Ella war eine ernste, zurückhaltende Frau gewesen, sehr intelligent, in allem, was sie tat, überaus bedacht, freundlich, wenn auch sehr wertend. Thao hatte sich gar nicht so ungern mit ihr unterhalten, denn Ella verstand es, die Welt aus einem besonderen Blickwinkel heraus zu betrachten, der weniger rational, sondern eher philosophisch war.

Vier Wochen hatte es gedauert, vom Kennenlernen bis zu seinem Umzug in ihre Wohnung. Sie war ganz froh gewesen, dass die beiden weggezogen waren. Wenn er je zu ihr zurückkehren wollte, würde die Entfernung keine Rolle spielen. Hielt sie vielleicht deshalb an der Wohnung fest? Oder war wirklich nur Aneliese der Grund dafür?

Thao blickte hinüber zu der E-Gitarre an der Wand. Er hatte ihr das Instrument vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt, ihr alles beigebracht, oft mit ihr zusammen gespielt, bis sie das Instrument, nach gerade einem halben Jahr, besser beherrscht hatte als er selbst nach vielen Jahren. War auch das ein Grund gewesen? Sie hatte sich nie zurückgehalten, wenn es darum ging, ihn vorzuführen.

„Du denkst wieder an ihn, richtig?"

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