Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Thao II - Teil 01

ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

„Mir und meiner Frau. Haben auch mal auf der Straße gelebt. Ist zwar ne Umstellung, hat aber seine Vorteile."

Er bot dem Jungen seine Hand, doch überging dieser die Geste.

Dimitri schien sich nicht wohlzufühlen. Er wandte sich an seine Begleiterin und zeigte ihr einen gequälten Gesichtsausdruck.

„Du, ich hau wieder ab. Ist doch nicht meins, glaub ich."

Thao hob ihre Schultern, es schien ihr egal zu sein.

„Wie du meinst, ich hätte dir sonst noch mein Zimmer gezeigt."

Dimitri schien mit sich zu kämpfen, er mochte das Mädchen. Er zögerte.

„Ich kann später ja immer noch gehen, oder?"

Thao verzog das Gesicht.

„Ey, das ist mir doch völlig Wurst, was du machst. Das ist kein Knast hier."

„Wir haben sonst auch noch ein Zimmer für dich, Junge. Auch wenn es erst einmal nur für die Nacht ist. Musst es halt so hinterlassen, wie du es vorgefunden hast."

Dimitri musterte den Typen ausgiebig.

„Du warst im Jail, richtig?"

Der Mann nickte.

„Zehn Jahre, mit einigen Unterbrechungen."

„Und was, wenn ich das Zimmer verwüste oder etwas klaue?"

Der Mann blieb ruhig.

„Dann schläfst du nie wieder hier."

Dimitri wandte sich an Thao.

„Du wolltest mir dein Zimmer zeigen, Jule."

Die Punkerin blickte zur Decke, verdrehte die Augen und rümpfte die Nase.

„Dusch vorher! Draußen an der Luft hat es mir nichts ausgemacht, aber du stinkst jetzt ziemlich Scheiße."

Dimitri lachte lauthals.

„Ist wahrscheinlich welche."

Der Mann schien das bei weitem nicht so lustig zu finden.

„Du kannst mich Tom nennen. Dort drüben ist euer Bad, ich bringe dir saubere Klamotten. Waschmaschine ist vorhanden, Waschmittel ebenso. Kannst beides benutzen, wenn du willst."

Dimitri blickte der Punkerin hinterher, die in einem der Zimmer verschwand.

„Schläft sie oft hier?"

Tom nickte.

„Ja. Ein paar Mal in der Woche schon."

„Weißt du etwas über sie?"

Der Mann runzelte die Stirn.

„Sag mal, was soll das? Würde es dir gefallen, wenn mich jemand so über dich ausfragt? Jetzt komm mit, ich zeige dir alles."

Dimitri wusste nicht mehr, wann er zuletzt unter einer Dusche gestanden hatte. In der Unterkunft hatte er es nicht gewagt, schon in der ersten Nacht hatte man dort seine Sachen durchsucht, in der Hoffnung etwas zu finden, das man zu Geld machen konnte. Alkoholiker, Junkies, ein rumänischer Stricherjunge und andere fragwürdige Gestalten waren seine Zimmerkameraden gewesen. Das hier hingegen schien beinahe das Paradies zu sein.

Tom hatte ihm einen Trainingsanzug ins Badezimmer gebracht. Leihweise, wie er meinte. Klar, der Typ hatte wohl irgendeinen Vertrag mit einer Stiftung oder dergleichen, umsonst half man jedenfalls keinem. Egal! Seine Klamotten lagen in der Waschmaschine, doch lange würde deren neu erlangte Sauberkeit wohl nicht anhalten.

Dimitri blickte hinab auf seinen Schwanz. Das Weib war schon geil. Ob sie ihn mal ranlassen würde, wenn sie sich erst besser kannten? Vielleicht, wenn er auf Gummis sparte, das hatte ihm schon öfters den Weg geebnet, Wenn man nichts zum Saufen, Rauchen oder Fressen hatte, blieb eigentlich nur noch das Ficken übrig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stieg er aus der Kabine, stellte sich vor den Spiegel und strich sich durch sein langes Haar. Es reichte ihm mittlerweile bis auf seinen Rücken hinunter. Er öffnete den Spiegelschrank und wühlte darin, bis er endlich eine Schere fand, dann war auch schon eine lange Strähne abgeschnitten.

Eine halbe Stunde später trat er aus dem Bad heraus und wäre beinahe mit dem Hausherren zusammengestoßen. Der blickte an dem schmächtigen Jungen vorbei und sofort wandelten sich seine entspannten Gesichtszüge hin zur Wut.

„Was hast Du hier für ne Sauerei angerichtet? Räum das gefälligst auf!"

Dimirti versuchte sich an dem bulligen Mann vorbei zu schieben, doch der verstellte ihm in der Badezimmertür den Weg.

„Ey, Alter. Das mache ich später, okay? Ich will nur schnell Jule was sagen."

Ein Stoß vor seine Schulter brachte Dimitri ins Taumeln. In letzter Sekunde stützte er sich am Waschbecken ab und konnte so gerade noch einen Sturz verhindern.

„Erst machst du das Bad sauber! Vorher kommst du hier nicht raus! Verstanden?"

Dimitri versuchte sich zu beherrschen. Das war genau die Scheiße, die er so satthatte. Ein tiefer Groll breitete sich in seiner Magengrube aus, der Gedanke an die Punkerin ließ ihn aber schließlich kuschen.

Annäherungsversuch

„Na! Wie sehe ich aus?"

Das Mädchen saß an einem Schreibtisch über ein Blatt Papier gebeugt. Sie hatte mit einem Kugelschreiber etwas gezeichnet, verbarg es aber sofort vor ihm.

„Geht so. Auf jeden Fall stinkst du jetzt nicht mehr so."

Sie sah ihn verwundert an.

„Was hast Du mit Deinen Haaren gemacht?"

Dimitri strich sich über die Zotteln, die keinerlei Symmetrie, geschweige denn einen Schnitt aufwiesen.

„Abgeschnitten. Ich wollte gut aussehen für dich."

Die Punkerin grinste, wurde dann aber ernst.

„Ich hab aber kein Interesse, okay? Suchst dir lieber ne andere Bitch."

Dimitri überhörte ihren Einwand.

„Was hast da gemalt?"

Thao seuftze.

„Geht Dich nichts an. Außerdem malt man mit Farben, ich aber habe gezeichnet."

„Und warum zeigst du es mir nicht?"

„Einfach, weil es dich nen Scheiß angeht. Darum!"

Dimitri versuchte, möglichst gelangweilt zu wirken.

„Hast du eigentlich jemanden, der dich fickt?"

Thao hob die Augenbrauen.

„Nee, im Moment nicht. Mein Freund sitzt im Knast."

Der Junge schien für einen Moment verunsichert zu sein. Dann aber erinnerte er sich.

„Und ich dachte, dein Stecher hat dich wegen einer anderen Kuh verlassen?"

„Da habe ich gelogen."

Dimitri sah sie verwundert an.

„Weswegen hockt er denn?"

Thao grinste.

„Körperverletzung. Jemand hat versucht, mich anzumachen."

Dimitri kam ihr näher und stellte sich neben sie.

In Thao schrillten augenblicklich die Alarmsirenen.

„Geh jetzt!"

Der Junge aber dachte nicht daran und legte ihr vielmehr seine rechte Hand auf die Schulter.

„Nur ein bisschen knutschen. Ich habe mir extra die Zähne geputzt."

Die Punkerin sprang auf und stieß ihn mit aller Gewalt von sich.

„Kapierst du es nicht, du Arschloch? Ich will nichts von dir!"

Dimitri taumelte nach hinten, stürzte und schlug hart mit dem Kopf auf den Boden. Leicht benommen und laut stöhnend rappelte er sich langsam wieder auf, zutiefst erschrocken über diese heftige Reaktion.

„Und warum hilfst du mir dann?", schimpfte er zurück.

„Weil ich vielleicht nicht so ein Arschloch sein will, wie alle anderen? So eins wie du es bist?"

Sie zeigte ihm einen Fucker.

„Ach weißt du was? Schwirr einfach ab! Wenn du nur ein Loch brauchst, bin ich die Falsche."

Dimitri grinste plötzlich.

„Du hilfst mir, weil du dafür bezahlt wirst, richtig?"

Thao starrte ihn erstaunt an.

„Wie kommst du denn darauf?"

Der Junge zeigte auf seine Stirn.

„Hast doch vorhin selbst gesagt, Klugscheißer."

Thao musste sich verraten haben, war sie vielleicht zu forsch vorgegangen bei dem Jungen?

„Und du hast vergessen, deinen Schlüsselbund wegzupacken. Ziemlich viel dran für eine Obdachlose."

Das Punkermädchen starrte auf den Schlüsselbund, der neben ihr auf dem Schreibtisch lag. Normalerweise war er in ihrer großen Umhängetasche verstaut, die sie während ihrer Arbeitszeit im Büro verwahrte.

„Was für ein Auto hast Du denn?"

Bevor sie reagieren konnte, hatte er auch schon danach gegriffen.

„Ein VW? Ui."

„Gib ihn mir wieder!"

„Und was, wenn nicht? Vielleicht dreh ich mal eine Runde."

Eher er noch reagieren konnte, hatte sie ihm auch schon eine gewaltige Ohrfeige verpasst. Dann riss sie ihm den Schlüsselbund aus den Händen.

„Hey! Was schlägst du mich, du Fotze? Das darfst du doch gar nicht!"

Thao ließ sich zu keinem weiteren Ausbruch mehr hinreißen, lediglich ihre Miene war hart und teilnahmslos.

„Na und? Ich sage einfach, dass du mich vergewaltigen wolltest."

In ruhigem, doch bestimmendem Tonfall setzte sie fort.

„Und jetzt geh, Dimitri. Ich habe mich in dir getäuscht."

Der Junge drehte sich um und ging tatsächlich zur Tür. Er hatte schon längst keinen Bock mehr auf diese Scheiße, doch so einfach konnte er nicht abhauen. Seine Wäsche war noch in der Waschmaschine.

„Worin hast Du Dich getäuscht?", blieb er in der geöffneten Zimmertür stehen.

Thao ignorierte die Frage.

„Hey?! Hörst du mich nicht? Worin hast du dich getäuscht?"

Sie wandte sich langsam zu ihm um.

„Dass man dir helfen könnte."

„Mir helfen? Wobei denn? Mir ging es gut, zumindest bis ich dich Gestörte getroffen habe."

Sie nickte nur, antwortete aber nicht. Ihm war es egal, eine mehr, die es nur gut mit ihm gemeint hatte. Sollte sie in ihrem Volkswägelchen wieder nach Hause fahren, vielleicht hatte sie ja einen Kerl, dem sie genauso etwas vorlügen konnte wie ihm.

„Also, Jule. Ciao! Danke für nichts!"

Die letzten drei Worte hatte er regelrecht ausgespuckt. Sie aber blieb regungslos sitzen und reagierte nicht. Es war nicht das erste Mal und es würde auch nicht das letzte Mal sein, dass sie einen Rückschlag hinnehmen musste.

Mit einem lauten Knall krachte die Tür ins Schloss. Die Punkerin stand von ihrem Stuhl auf, durchquerte den schmalen Raum und legte sich auf das einfache Bettgestell. Die Matratze war um einiges zu weich, dennoch würde sie jetzt für eine Stunde die Augen schließen. Sie war frustriert, fühlte sich ausgepowert, müde und leer. Es schien einfach nichts, rein gar nichts gut zu laufen im Moment.

Tom hatte nur noch das Zuschlagen der Eingangstür wahrgenommen, als Dimitri grußlos aus der Wohngruppe verschwand. Der Junge hatte nicht einmal abgewartet, bis seine Wäsche fertig geschleudert war. Dass er dort draußen nur mit einem Trainingsanzug bekleidet unterwegs sein würde, hinterließ ein ungutes Gefühl bei dem Betreuer.

Thao selbst war in ihrem Zimmer geblieben, anscheinend hatte sie bei dem Jungen keinen Erfolg gehabt. Eigentlich ungewöhnlich, zumal sie es vortrefflich verstand, sich in die Jugendlichen auf der Straße hinein zu fühlen und ihre Sprache anzunehmen.

„Thao? Ist alles okay?", klopfte er an die Zimmertür.

Nach einem kurzen Moment vernahm er Schritte hinter der Tür, die sich kurz darauf öffnete. Die Punkerin verlor kein Wort, kehrte zur Liegestatt zurück und legte sich wieder hinein.

„Was ist los? Hat er dich angefasst?", zeigte sich Tom besorgt.

Mittlerweile kannte er Thaos melancholische Stimmungen, doch heute schien es besonders schlimm zu sein. Er schob ihre heutige Verfassung dem Jungen zu.

„Sag schon. Hat er Dir etwas getan?"

Thao schüttelte den Kopf und starrte zur Decke.

Tom betrachtete sie nachdenklich. Ihr Misserfolg schien ihr ziemlich nahezugehen.

„Soll ich Herbert benachrichtigen oder willst du es nochmal bei dem Jungen versuchen?"

Obgleich sie seine Worte wahrscheinlich vernommen hatte, hegte Tom dennoch erhebliche Zweifel, dass sie ihm antworten würde. Sie schien an einem Punkt angelangt zu sein, an dem Frustration und Aussichtslosigkeit Oberhand gewannen. Vielleicht resignierte sie auch, wie schon so viele Kollegen vor ihr? Es wäre nur verständlich, selbst er hatte solche Momente schon durchlitten. Dieser Job brachte eben auch beträchtliche psychische Belastungen mit sich.

„Ich werd versuchen, ihn morgen nochmal zu finden."

Der stämmige Mann nickte.

„Ich lass dich jetzt wieder allein, Thao. Bring mir nachher bitte den Zimmerschlüssel, wenn du gehst, okay!?!"

Sie blickte zu ihm auf und nickte.

„Mach ich. Danke, Tom."

Leise fiel die Zimmertür hinter dem Betreuer ins Schloss, dann war die Punkerin wieder mit sich und ihrer Welt allein. Ihre Arbeit hatte sie bislang immer wieder aufgerichtet, abgelenkt und ihr vermittelt, dass sie das Schicksal anderer Menschen erleichtern konnte und wichtig war, nicht nur als Sozialarbeiterin, sondern auch bei den wenigen Terminen, während denen sie immer noch als Domina tätig war.

Wenn auch das nicht mehr gegen ihren inneren Schmerz half, was blieb ihr dann noch? Sollte sie sich in Therapie begeben? Einen Kollegen konsultieren, der ihr all jene Fragen stellen würde, mit denen sie sich selbst schon unzählige Male auseinandergesetzt hatte? Oder sich etwa Antidepressiva verschreiben lassen? Möglichkeiten boten sich durchaus, das wusste sie selbst.

„Ach Scheiße, Karl, wenn Du nur wüsstest, wie beschissen es mir ohne Dich geht", flüsterte sie.

Tränen lösten sich aus ihren dunklen Augen und liefen über ihre Wangen. Sie brauchte unbedingt Hilfe, jemanden, der wirklich nachvollziehen konnte, wie es ihr jetzt, in dieser Situation ging. Jemanden, der nicht nur hohle Phrasen drosch und zu trösten versuchte, sondern ihr einen Weg aufzeigte, der sie aus ihrer Tristesse herausführen würde. Thao befiel ein Anflug schlechten Gewissens. Musste sie sich nicht selbst helfen können? Schließlich hatte sie doch Psychologie studiert und war als Sozialarbeiterin tätig.

Stimme aus der Vergangenheit

„Thao? THAO!"

Die Punkerin war gerade im Begriff, ihre Wohnungstür aufzuschließen, als Anelieses Stimme durchs Treppenhaus hallte.

Widerwillig drehte sich die Angerufene um und blickte durch die Streben des Geländers in die Tiefe.

„Soll ich rauf kommen?"

Thao suchte, sich zu beherrschen. Wieder flackerte der Wunsch nach Gesellschaft in ihr auf, doch dieses Mal wollte sie es allein schaffen, sich den eigenen Gedanken stellen und diese verarbeiten, anstatt sie zu verdrängen.

„Heute nicht Aneliese, okay? Ich würde gerne alleine sein."

Das Gesicht ihrer Freundin spiegelte deren Sorge wider.

„Bist du sicher? Geht es dir gut?"

Thao atmete tief durch, dann nickte sie.

„Morgen wieder, okay? Gib Ashna einen Kuss von mir."

Der Name des Hündchens genügte, um es zum Bellen zu bringen.

„Mach ich. Ruf mich, wenn was ist."

Thao nötigte sich ein Lächeln ab und winkte zum Abschied.

„Okay, werd ich machen. Danke!"

Sie schloss die Wohnungstür hinter sich und hängte ihre Lederjacke und die schwere Tasche an die Garderobe. Sie dachte an Katja und Harald. Die beiden waren es gewesen, die ihnen das vertraute Mobiliar damals beim Einzug in die gemeinsame Wohnung geschenkt hatten. Es sollte sie beide an „ihr" Zuhause erinnern.

In die Küche nahm sie ein Rotweinglas aus der Vitrine, anschließend eine Flasche aus dem Schrank. Nicht, weil es ihr schlecht ging, vielmehr suchte sie eine Stimmung, die sich von ihrem Alltag unterschied.

Sie wechselte ins Wohnzimmer, ließ ihren Blick schweifen und durchsuchte schließlich die CD´s, die sich neben der Stereoanlage stapelten. Auch diese war eine gemeinsame Anschaffung, welche er ihr zurückgelassen hatte. Im Nachhinein betrachtet schien er regelrecht vor ihr geflohen zu sein.

Leise, soulige Musik erfüllte den Raum, für einen Moment blieb die junge Frau vor der Anlage stehen und lauschte den Klängen, die aus den beiden Lautsprechern tönten. „Nur nicht gehen lassen.", dachte sie bei sich und hockte sich auf die Couch, zog ihre Beine an den Körper heran und lehnte sich gegen die dick gepolsterte Rückenlehne. Wie konnte sie sich ablenken? Vielleicht durch ein Buch? Das Regal stand nicht unbeabsichtigt direkt hinter der Couch, man konnte sich einfach bedienen, ohne dabei aufstehen zu müssen. Sie überflog die Reihen der Bücher, doch die meisten Titel sprachen sie heute nicht an. Nur ein beiger, neutraler Einband ohne Aufschrift zog ihre Blicke immer wieder auf sich - das gemeinsame Fotoalbum.

Noch immer hatte Thao es nicht gewagt, den Band durchzublättern, war jedoch bereits mehrmals versucht, ihn zu entsorgen. Sie wollte nicht in Versuchung geraten, sich durch die Erinnerungen an die schönste Zeit ihres Lebens noch mehr zu quälen.

Vielleicht musste sie sich ihrer Vergangenheit stellen, um loslassen zu können? Kurz entschlossen griff sie nach dem Album, legte es in ihren Schoß und schlug es auf, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte. Ein großes Bild zeigte sie in Karls Armen beide während einer Großbritannienreise, die sie nach ihrem Einzug in die gemeinsame Wohnung unternommen hatten. Sie waren beide sehr glücklich gewesen in diesem Moment, froh, dass sie sich nach diesem heftigen Konflikt doch noch gefunden hatten. Wie verzweifelt waren sie damals gewesen, wie viel Unrecht hatten sie einander angetan, doch wie stark war auch ihre Liebe damals gewesen. Thao starrte das Foto minutenlang an, selbst erstaunt, dass sie sich noch im Griff hatte.

Ein letzter Augenblick, dann blätterte sie auf die nächste Seite. Harald und Katja, zwei Menschen, die ihr gemeinsames Glück immer wieder gefördert und zu behüten versucht hatten. Thao hatte Karls Eltern lieb gewonnen, auch jetzt noch hing sie voller Wehmut an den beiden. Vielleicht würde sich ja in einigen Jahren die Möglichkeit ergeben, sie wiederzusehen? Sie war ratlos in diesem Moment, wusste nicht, ob sie es sich überhaupt wünschen durfte. Um nicht zu lange bei solchen Gedanken zu verweilen, die sie letztendlich doch immer wieder nur an ihn denken ließen, blätterte sie rasch weiter.

Auf der nächsten Seite war Rüdiger mit ihrer Mutter am Tage ihrer Vermählung zu sehen. Deren Hochzeit war der erste Anlass gewesen, zu dem auch Karls Eltern geladen worden waren, womit praktisch ihre ganze Familie vollständig versammelt gewesen war. Thao konnte sich noch gut daran erinnern, als die Alten spekuliert hatten, wann die Jugend ihrem Beispiel folgen würde. Keiner hatte sich damals vorstellen können, dass Karl und Thao sich ein zweites Mal trennen könnten.

Vor Thaos geistigem Auge tauchten alte Konflikte auf, unliebsame Situationen, in denen es nur noch Vorwürfe und Anfeindungen gegeben hatte und von ihrer gemeinsamen Liebe nichts mehr vorhanden zu sein schien. Dennoch war ihre innige Zuneigung immer wieder aufgeflackert, gewachsen und hatte sie schließlich wieder zusammengeführt. Thao rieb mit ihrer Hand zwischen ihren Oberschenkeln, sie hatten oft miteinander geschlafen, nachdem sie einander wiedergefunden hatten. Sie blätterte weiter, um keinen Preis durfte sie zu lange nachdenken.

Amelie! Letztendlich in München gelandet, war sie Bayern irgendwie immer verbunden geblieben. Sie hatten die Freundin drei- oder viermal dort besucht und abgesehen von seltenen Gegenbesuchen, dann nicht mehr wiedergesehen. Dafür war es ihr zu verdanken, dass es jemanden gab, der im letzten, gemeinsamen Jahr mit Karl immer wieder zu ihr gehalten hatte, genauso wie Aneliese unten ihm Haus.

Thao lächelte beim Anblick des nächsten Fotos. Amelie war zu sehen, Karl, sie selbst und das kleine Mädchen in seinem Rollstuhl. Anna! Ihr Zeigefinger glitt über die Stelle, an der das Mädchen in die Kamera lächelte. Die Kleine war ein erster, wichtiger Erfolg für Thao gewesen. Ein Mensch, bei dem sie noch heute das Gefühl hatte, ihm für sein weiteres Leben wirklich geholfen zu haben.

Die Punkerin grinste und strich über ihre schwarzen Söckchen. Noch heute spürte sie den Schmerz an ihren Füßen, als die Kleine ihr mit Schmackes mit dem Rollstuhl in die Hacken gefahren war. Jetzt war sie zu einer jungen, hübschen Frau herangewachsen, würde nächstes Jahr mit dem Studium beginnen und vielleicht sogar mit ihrem Freund zusammenziehen. Letzteres hatte sie selbst nie für möglich gehalten. Thao lächelte. Es war ihnen damals beiden wie ein Scherz vorgekommen, als Anna sie mit einem Liebesbrief von einem Jungen aus der Nachbarschaft konfrontiert hatte. Jetzt waren die beiden ein Paar, schmiedeten Zukunftspläne und hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

Das erste Foto, welches sie nicht umgehend wieder an ihn denken ließ. Es ging ihr, beim Schwelgen in diesen Erinnerungen, nicht schlechter als sonst, eine Erkenntnis, die sie wirklich überraschte. Es gab immer einen Weg, auch für sie. Sie musste ihn nur finden. Länger an Karl festzuhalten und auf einen Neubeginn mit ihm zu hoffen, würde sie kaputtmachen, das durfte sie keinesfalls zulassen. Sie hatten sich beide schöne Jahre und unvergessliche Momente geschenkt, die Erinnerung daran musste ihr genügen.

123456...8