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Tradition und Ehre

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Mit fiel auf, dass sie nie von Stiefschwester oder Stiefmutter sprach. Daher fragte ich sie: »Verstehst du dich mit deiner neuen Mutter gut?«

»Am Anfang war es sehr schwierig. Ich habe nicht verstanden, warum er eine neue Frau wollte. Später wurde es besser.«

»Das kann ich nachvollziehen. Man hört ja öfter, dass Kinder den neuen Partner eines Elternteils nicht oder nur schwer akzeptieren.«

»Es hat geholfen, dass wir damals in eine neue Stadt gezogen sind«, erklärte sie weiter.

»Du bist also schon vorher einmal umgezogen?«

»Ja, es war im Januar das dritte Mal.«

»Oh je! Dann ist das wirklich schwer mit Freunden.«

»Ja.«

»Und warum wollen deine Eltern nicht, dass du ein Handy hast?«, fragte ich.

»Sie sind der Meinung, dass Kinder sowas nicht brauchen und sie sollen ihre Zeit mit sinnvolleren Dingen verbringen.«

»Klar, man kann viel Zeit am Handy verbringen. Sie sind manchmal aber auch nützlich. Hast du sie mal gefragt?«

»Habe ich, da alle um mich herum eins haben. Wenn sie aber eine Entscheidung getroffen haben, dann diskutieren sie darüber nicht mehr.«

Ich vermutete, dass noch andere Gründe für ihre Eltern ausschlaggebend waren, als nur die, die Kimiko genannt hatte: Mangelnde Kontrolle über ihre Tochter fiel mir als Erstes ins Auge. Da ich keinen Grund sah, die Frage weiter zu diskutieren, und wir für uns einen Ausweg gefunden hatten, antwortete ich eher allgemein: »Japan muss sehr verschieden zu Deutschland sein.«

»Es geht. Im Hinblick auf Technik sind wir hier ziemlich hinterher. Tradition und Ehre zählen dort in manchen Kreisen mehr als hier. In anderen ist es so locker wie hier.«

»Und was findest du besser?«

»Die Frage stellt sich mir nicht. Die Tradition unsere Familie ist so«, stellte sie fest.

»Verstehe.«

»Und wie ist deine Familie? Hast du Geschwister?«, erkundigte sie sich.

»Meine Eltern sind ok. Mein Vater ist auch Elektriker und meine Mutter arbeitet in einem Kaffee-Geschäft. Ich bin das einzige Kind.«

»Hast du dir jemals einen Bruder oder eine Schwester gewünscht?«

»Weiß nicht. Früher zum Spielen schon. Später, als ich älter war, nicht mehr.«

»Hast du eine Freundin?«, fragte sie gerade heraus. Ob sie mir die Frage auch gestellt hätte, wenn wir uns direkt unterhalten hätten, fragte ich mich. Ich hatte die umgekehrte Frage bisher keinem Mädchen gestellt. Zu groß war immer meine Angst, dass sie sie bejahte und ich mir so eine Abfuhr einholte. Ich war mir bewusst, dass ich hier nicht logisch handelte, denn mit einer solchen Frage, könnte ich ein späteres Fettnäpfchen leicht umschiffen. Kimikos Frage hingegen war leicht zu beantworten: »Nein bisher nicht.«

»Warum nicht? Haben nicht alle in deinem Alter eine Freundin?«

»Weiß nicht. Bisher hat sich keine für mich interessiert.«

»Verstehe ich nicht«, schrieb sie zurück.

»Was?«

»Ich verstehe nicht, warum sich bisher kein Mädchen für dich interessiert hat. Du bist nicht auf den Kopf gefallen und kannst zuhören. Viele in meinem Jahrgang erfüllen bereits diese zwei Grundvoraussetzungen nicht.«

»Danke. Es hat mir bisher niemand gesagt, dass ich zuhören kann. Bisher war ich der Tollpatsch, der in jedes Fettnäpfchen tritt.«

»Glaube ich nicht.«

»Doch, ist so.«

»Was ist passiert?«

»Ich hatte ein Mädchen nach langem Überlegen zum Abschlussball in die Schule eingeladen. Dabei hatte sie schon lange einen Freund. Alle haben es gewusst. Nur ich nicht«, gestand ich.

»Kann doch passieren. Ist doch nicht schlimm.«

»Wenn es alle mitbekommen, schon!«

»Verstehe.«

»Und, hattest du schon einmal einen Freund?«, fragte ich.

»Nicht wirklich. Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich dazu genug Zeit hätte, wenn die Schule fertig ist.«

»Was meinst du mit ›nicht wirklich‹?«

»Ich hab mal auf einer Klassenfahrt in der Zehn mit einem Jungen geknutscht.«

Ohne mir etwas dabei zu denken, fragte ich: »Und war es schön?«

»Ich habe keine richtige Erinnerung mehr. Warum fragst du?«

»Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst.«

»Das stimmt nicht.«

»?«

»Du hast mich am Mittwoch geküsst.«

»Das war doch nur ein kleiner Schmatzer auf die Stirn. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du das mitbekommen hast.«

»Doch! Habe ich!«

»Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich hatte den Eindruck, dir ging es in dem Moment so elend, da wollte dich nur ein wenig trösten.«

»Es braucht dir nicht leidtun! Es hat mir gutgetan! Es war das Zärtlichste, was ich seit langem verspürt habe. Es ist mir eiskalt über den Rücken gelaufen.«

»Eiskalt: Das klingt ein wenig nach Horrorfilm.«

»Nein, nicht sooo eiskalt. Es war ein sehr wohliger Schauder. Kennst du so etwas nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie soll ich es beschreiben? Es ist ähnlich wie bei einem Minihöhepunkt. Bitte versteh mich nicht falsch, wenn ich das schreibe.«

Hui, dachte ich mir. Scheinbar hatte sie keine Hemmungen, dieses Thema anzureißen. »Warum sollte ich dich falsch verstehen? Ich kann mir jetzt vorstellen, was du meinst. Wir sind beide alt genug, dass wir über Bienchen und Blümchen hinaus sind.«

»Lach! Ich wusste nicht, wie du darauf reagierst, wenn ich das Wort Höhepunkt benutze.«

»Ich habe ein wenig geschmunzelt.«

»Warum geschmunzelt?«

»Weil ich bisher mit keinem Mädchen über DEN Höhepunkt gesprochen habe«, gestand ich ihr.

»Ich mit Jungs ebenfalls nicht. Es beschreibt jedoch am besten, was ich in dem Moment gefühlt habe.« Ich sah auf meinem Bildschirm, dass sie weiter tippte. Wenig später erhielt ich: »Ich sollte es nicht schreiben. Der Moment am Mittwoch, in deinen Armen, war einer der glücklichsten in meinem Leben!«

Mit einem solchen Geständnis hatte ich nicht gerechnet. Was sollte ich daraufhin schreiben?

»Bis du noch da?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja, ich bin noch da.«

»Warum schreibst du nichts?«

»Weil ich nicht weiß, was ich dir auf ein solches Geständnis antworten soll«, gestand ich.

»Warum fällt dir das so schwer? Du hattest einen Grund, mich in den Arm zu nehmen. Oder?«

»Ja, ich wollte dich trösten«, antwortete ich.

»Warum wolltest du mich trösten.«

»Weil du so unglücklich warst.«

»Ja, aber warum wolltest DU mich trösten?«

»Weil du mir etwas bedeutest.«

»Was bedeute ich dir?«, hakte sie nach.

»Du«

»Ja?«

»Du bist mir wichtig!«

»Warum bin ich dir wichtig? Wir haben uns vorher nur zwei Mal getroffen.«

»Das ›wie oft‹ spielt doch keine Rolle«, schrieb ich zurück.

»Du lenkst gerade ab!«

Man, war sie hartnäckig! Sie ließ wirklich nicht locker. Ich ließ alle Hemmungen fallen und schrieb in einem fort, was mir einfiel: »Weil ich mich gerne mit die unterhalte, weil du ein superhübsches Mädchen bist, ich mir jeden Tag das Bild von uns auf der Schaukel ansehe und weil mir nicht egal ist, wenn du dich schlecht fühlst.« Jetzt war es raus! Hoffentlich, hoffentlich hatte ich mich damit nicht in das nächste Fettnäpfchen gesetzt!

»Warum schreibst du nicht gleich, dass du mich magst?«

Weil ich in solchen Dingen ein echter Angsthase war, hätte ich am Liebsten laut hinaus geschrien. Weil ich mich insbesondere bei ihr davor fürchtete, nicht nur mit der Zehenspitze das nächste Fettnäpfchen zu berühren, sondern direkt kopfüber hineingesprungen zu sein. Ihre Antwort ließ mich jetzt hoffen und daher schrieb ich ihr: »Weil wir uns erst zwei Mal getroffen haben und ich dich nicht plump anmachen will.«

»Wer hat gerade geschrieben, dass nur zwei Mal Treffen keine Rolle spielt? Dass du mich magst, habe ich in dem Moment gespürt, als du mich im Arm gehalten hast. Das war kein einfaches Trösten. Ich habe Ruhe, Kraft und Zuneigung gespürt.«

»Das war doch nur so kurz.«

»Es war nicht kurz! Für mich war das in dem Moment eine halbe Ewigkeit.«

»Du bist so anders als die anderen Mädchen, die ich bisher kennengelernt habe.«

»Ist anders schlimm?«

»NEIN, auf keinen Fall. Ganz im Gegenteil. Es ist superschön!«

»Ich finde es ebenfalls superschön mit dir hier.«

Jetzt oder nie, dachte ich mir, nahm meinen ganzen Mut zusammen und schrieb: »Magst du mich auch?«

»Ja! Sonst hätte ich das Telefon nicht aus dem Mülleimer genommen.«

Wie war das möglich? Warum mochte sie mich? Mich einen einfachen Elektrikerlehrling? Meine Gefühle saßen in diesem Moment im ersten Wagen einer Achterbahn, wurden hin- und her geschüttelt, durchfuhren einen Looping und wurden nach dem freien Fall tief zusammengestaucht. Sie hatte einfach mit Ja geantwortet, ohne lange Vorrede! Ich war für einen Moment sprachlos, bis ich sie fragte: »Hast du das gerade gehört?«

»Was gehört?«

»Gerade ist mir ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Das muss man wenigstens drei Häuserblocks weit gehört haben.«

»Du bist witzig!«

»Manchmal.«

»Stimmt es, was du oben geschrieben hast?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Das mit dem Bild.«

»Ja, ich schaue es mir jeden Tag an. Du bist so hübsch!«

»Ich hätte gerne ebenfalls das Bild. Es war schön mit dir auf der Schaukel«, schrieb sie.

»Ich würde es dir gerne schicken. Ich habe aber Angst, dass es jemand entdeckt.«

»Ich weiß.«

»Das ist nicht fair.«

»Ich weiß.«

»Weißt du, was ich jetzt gern täte?«

»Was?«

Sie hatte mir alle Angst genommen und es fiel mich ganz leicht zu schreiben: »Ich würde dich gerne in den Arm nehmen und nur festhalten.«

»Ja, das wäre schön. Wir können es im Moment nicht. Wir können aber was anderes tun?«

»Was?«

»Wir könnten es uns vorstellen.«

»Das ist schwer.«

»Ja, ist es. Aber es ist das Einzige, was wir haben.«

Ich versuchte, mich an den Moment in der Schule zu erinnern und wie es war, sie im Arm gehalten zu haben. Sie hatte gesagt, es hätte sich für sie angefühlt wie eine Ewigkeit. Es war für mich so kurz.

»Ich fühle deine Arme um mich herum«, fing sie an.

»Ich fühle dich in meinen Armen und wie du deine Arme um meinen Rücken legst.«

»Ich fühle deinen Atem.«

»Ich fühle deinen Herzschlag.«

»Mein Herz schlägt schneller als sonst.«

»Meins auch«, schrieb ich, »und ich rieche das Shampoo, mit dem du deine Haare gewaschen hast.«

»Ich rieche dich, ich rieche deinen Schweiß.«

»Ich drücke dich fester an mich.«

»Ich verstärke den Druck ebenfalls.«

»Ich atme tief ein.«

»Ich seufze tief.«

»Du fühlst dich im Arm so gut an.«

»Ich mag es, von dir gehalten zu werden«, schrieb sie mir.

»Ich küsse dich auf die Stirn, schließe die Augen und genieße den Augenblick.«

»Ich zittere. Ich habe meine Augen bereits lange geschlossen.«

Wir warteten beide, bis wir weiter schrieben.

»Seufz«, schrieb ich nach einer Weile.

»Ja, seufz. Und, wie war das ›in den Arm nehmen‹ für dich?«

»Es war schön.«

»Fand ich ebenfalls.«

»Wir sollten das wiederholen«, wünschte ich mir.

»Ja, beim nächsten Mal.«

»Wann können wir uns wieder schreiben?«

»In der Woche geht es bei mir nicht früher und nach elf ist mir zu spät, wegen der Schule. Am Freitag geht es.«

»Dann bis zum Freitag. Schlaf gut und träum was Schönes!«

»Das wünsche ich dir ebenfalls.«

»Vergiss nicht, das Handy abzuschalten und wegzupacken.«

»!«

»Augen zu.«

»Augen zu.«

Freitag, 5. November 2021

Während einer ereignislosen Woche überlegte ich mir, ob es eine Möglichkeit gab, Kimiko doch ab und zu sehen zu können. Hier in der Nähe des Hauses ging es vermutlich nicht. Ebenso schied ein Treffen im Beisein ihrer Geschwistern aus, da diese womöglich ihren Eltern davon erzählen würden. Die einzige Möglichkeit sah ich auf ihrem Weg zur Schule oder von dort aus zurück. Ich nahm mir vor, mit ihr darüber zu schreiben.

Ich sehnte den Abend herbei. Gefühlt zog sich dieser Tag extrem in die Länge. Gegen elf Uhr abends schickte ich ihr ein: »Guten Abend, Kimiko.«

»Den wünsche ich dir ebenfalls, Max!«, kam es wenig später zurück.

»Wie geht es dir, wie war deine Woche?«

»Ganz gut. In der Chemieklausur habe ich vierzehn Punkte bekommen.«

»Gratulation!«

»Danke. Hast du Mathe schon zurück?«

»Nein. Der Lehrer ist nicht so schnell.«

»Wie geht es dir?«, fragte sie mich.

»Auch gut. Die Woche war viel zu lang.«

»Sind nicht alle Wochen gleich lang?«

»Diese war länger, da ich eine gefühlte Ewigkeit gewartet habe, dir schreiben zu können«, antwortete ich.

»Ja. Ich habe mich ebenfalls drauf gefreut, mit dir zu schreiben.«

»Klappt alles mit dem Telefon?«, erkundigte ich mich.

»Ja, alles ist gut. Ich muss nur mit dem Aufladen aufpassen.«

»Wie machst du das?«

»Wenn die Kleinen Mittagsschlaf halten, stelle ich mir einen Wecker und lade es jeden Tag eine halbe Stunde auf.«

»Ein guter Plan! Ich habe die Tage nachgedacht.«

»Worüber?«

»Ob wir uns auf deinem Weg zur Schule ab und zu sehen könnten«, schlug ich vor.

»Zur Schule geht nicht, da meine Eltern mich jeden Morgen zur Schule bringen.«

»Und auf dem Heimweg?«, fragte ich.

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe es ihnen versprechen müssen.«

»Warum musstest du es versprechen?«

»Weil sie das von mir verlangt haben.«

»Und es gibt keine Möglichkeit, dass du das Versprechen dehnst?«

»Du meinst, dass ich meine Versprechen breche?«

»Nun ... ja.«

»Nein. Das kann und will ich nicht. Brichst du Versprechen, die du deinen Eltern gegeben hast?«, fragte sie zurück.

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Siehst du. Ich habe ihnen versprechen müssen, bis zum Ende meiner Schulzeit keinen anderen Jungen mehr zu treffen.«

»Das ist heftig!«

»Ja. Ich würde dich ebenfalls gerne sehen«, gestand sie mir.

Ich schrieb, was an dieser Stelle am liebsten getan hätte: »Ich nehme dich in den Arm.«

»Das fühlt sich gut an. Ich lege meinen Kopf auf deine Brust und höre dein Herz schlagen.«

Ich erinnerte mich an den Moment in der Schule, als ich sie so im Arm gehalten hatte und antwortete: »Ich halte dich sanft fest und spüre deinen ruhigen Atem.«

»Ich schließe die Augen und genieße die Stille, die uns umgibt.«

Wo würde ich gerne jetzt mit ihr hingehen? Wo wären wir ungestört? Wo hat es mir früher gefallen? Ich erinnerte mich an die Wanderungen mit meinem Opa und ich schrieb: »Wir schweben in einen Wald und bleiben auf einer Lichtung stehen«,

»Ich liebe grüne Wälder«, führte sie fort.

»Um uns herum sind vereinzelt Vögel zu hören.«

»Ich schaue dich an.«

»Ich schaue dir auch ins Gesicht. Deins ist so süß!«

»Ich mag deine graublauen Augen.«

»Dein Lächeln verzaubert mich.«

»Ich vertraue deinem Blick.«

»Ich beuge mich vor und gebe dir einen Kuss auf die Wange«, schrieb ich. Eigentlich hätte ich sie gerne auf den Mund küssen. Trotz der Nähe traute ich mich nicht, diesen Schritt weiter zu gehen, auch wenn wir uns nur Nachrichten schrieben.

Sie antwortete sofort: »Ich greife mit einer Hand hinter deinen Kopf, ziehe ihn zu mir hinunter und küsse dich auf den Mund!«

Auch wenn alles sich nur in unserer Vorstellung abspielte, fühlte es sich für mich in diesem Moment echt an. Ein Schauder lief mir über den Rücken und ich bemerkte, wie mein Begehren wuchs. Ich versuchte in Worte zu fassen, was in mir vorging: »Ein Schauder ist mir soeben über den Rücken gelaufen, als deine Lippen meine berührt haben.«

»Ich weiß. Ich habe dein Erzittern gespürt. Wie hat sich das für dich angefühlt?«

»Genauso, wie du es beschrieben hattest. Wie ein kleiner Höhepunkt.«

»Das ist schön. Oder?«

»Ja, so schön, dass ich es kaum beschreiben kann. Es ist das erste Mal für mich gewesen«, gestand ich.

»So hat es sich für mich an dem Mittwoch angefühlt.«

»Ich küsse dich wieder. Deine Lippen sind so weich.«

»Mein Herz schlägt schneller. Ich drücke mich stärker an dich.«

Ich schloss meine Augen, versuchte mir, unsere Umarmung vorzustellen, und schrieb, was ich in diesem Moment wirklich tat: »Ich seufze tief.«

»Meine Knie werden schwach. Halt mich!«

»Ich halte dich. Dir kann nichts passieren«, versicherte ich ihr.

»Meine Lippen spielen mit deinen.«

»Meine Zunge streicht über deine Oberlippe.«

»Ich knabbere an deiner Unterlippe, ich sauge leicht an ihr.«

»Unsere Zungen berühren sich.«

»Der nächste Schauer läuft mir über den Rücken.«

»Ich lege meine Hand auf deinen Kopf und drücke dich an mich.«

»Ich atme tief ein und aus. Eine tiefe Ruhe durchströmt mich.«

»Ich nehme dich an die Hand und suche mit dir einen Weg durch den Wald«, beschrieb ich meine Vorstellung.

»Das gefällt mir. Ich komme gerne mit.«

»Gehst du auch im wirklichen Leben gerne spazieren?«

»Weiß ich nicht. Ich habe kaum ausgiebigen Spaziergänge bisher unternommen. Du?«

»Ja. Ich bin früher oft mit meinem Opa wandern gewesen. Er hat mir viel über den Wald und die Vögel beigebracht.«

»Das klingt schön!«

»War es auch. Hast du noch deine Großeltern?«, fragte ich.

»Ja. Aber ich sehe sie nur ganz selten. Sie leben alle in Japan.«

»Das ist schade. Ich fand es so schön, wenigstens eine Zeit lang meinen Opa noch zu haben.«

»Das freut mich für dich. Ich habe diese Erfahrung nie machen können.«

»Gefällt dir dieser Spaziergang? Wann machen wir den nächsten?«, fragte ich.

»Morgen Abend, wenn du kannst.«

»Ich kann.«

»Es war heute sehr schön, mit dir spazieren zu gehen«, schrieb sie.

»Fand ich auch. Ich wünsche dir eine gute Nacht und schöne Träume.«

»Das wünsche ich dir ebenfalls.«

»Vergiss nicht, das Handy abzuschalten und wegzupacken.«

»Eine kurze Frage: Warum schreibst du das immer zum Schluss?«

»Ich erinnere dich deswegen daran, damit du es nicht vergisst. Es hätte unschöne Folgen, vermute ich. Es kommt von einer Geschichte, die mir mein Opa einmal erzählt hatte. Im Krieg, wenn sie verbotenerweise BBC-Radio, also Feindradio aus deutscher Sicht gehört hatten, kam immer am Schluss der Hinweis, dass man das Radio zurück auf einen deutschen Sender stellen sollte, damit niemand später sehen konnte, dass man einen Feindsender gehört hatte.«

»Ich verstehe. Es ist lieb von dir.«

»Augen zu.«

»Augen zu.«

Samstag, 6. November 2021

Pünktlich um elf Uhr abends kam ihre erste Nachricht: »Guten Abend, Max.«

»Guten Abend, Kimiko. Wie geht es dir?«

»Eigentlich ganz gut. Da ich nächste Woche keine Arbeit schreibe, habe ich etwas mehr Luft und bin wieder zum Lesen gekommen.«

»Das freut mich für dich! Das nächste Mal können wir uns erst in zwei Wochen schreiben«, schrieb ich.

»Warum?«

»Wir sind mit dem Betrieb für zwei Wochen auf Montage.«

»Verstehe. Der Austausch wird mit fehlen!«

»Mir auch. Ich kann dir vermutlich nur eine kurze Nachricht schicken. Zu mehr werde ich keine Ruhe finden.«

»Das verstehe ich. Ich freue mich über jede Nachricht von dir.«

»Darf ich dich vor meiner Abreise noch einmal umarmen?«, fragte ich.

»Ich bitte sogar darum.«

»Ich habe dich fest in den Arm genommen.«

»Das tut so gut.«

»Du wirst mir sehr fehlen.«

»Du mir auch.«

»Ich nehme dein Gesicht in meine Hände.«

»Ich schließe meine Augen.«

»Ich schließe meine ebenfalls.«

»Ich stelle mich auf meine Fußspitzen, nähere mich deinem Gesicht und küsse dich auf den Mund«, schrieb sie.

Wieder durchfuhr mich der Schauder und ich antwortete: »Ich habe das Gefühl, mit dir zusammen zu versinken.«

»Die Zeit um uns herum verläuft immer langsamer.«

»Ich schmecke deine Lippen auf meinen.«

»Ich knabbere an deinen Lippen, wandere deinen Hals hinunter und drücke meinen Kopf fest an deine Brust.«

»Ich möchte so mit dir einschlafen«, träumte ich.

»Das ist ein lieblicher Gedanke.«

»Dann lass uns doch mit diesem Gedanken zu Bett gehen.«

»Ich liege schon in meinem Bett«, schrieb sie und ich stellte mir vor, wie diese wunderschöne Frau, mit vermutlich offenem Haar, in ihrem Bett lag.

»Ich liege noch auf meinem Bett.«

»Der Weg unter die Decke ist nicht mehr weit. Schlaf gut, Max.«

»Träum was Schönes, Kimiko! Räum das Telefon noch weg!«

»Mach ich.«

»Augen zu?«

»Augen zu!«

Freitag, 20. November 2021

Die letzten zwei Wochen waren für mich sehr anstrengend. Auf einer Großbaustelle führten wir die Elektroverkabelung durch. Die Vorarbeiten des Rohbaus waren gut ausgeführt worden, so dass wir von unschönen Überraschungen verschont blieben und, wie geplant, heute nach Hause gefahren waren. Ich war froh, dass ich nicht den Firmentransporter fuhr, sondern nur Beifahrer war, denn ich war ziemlich erschöpft.